Unsere erste Begegnung verlief folgendermaßen: Die Fünfjährige – das war sie – erläuterte der Siebenjährigen – das war ich – den Unterschied zwischen Spreiz-, Senk- und Plattfüßen. Ich mußte auf ihr Geheiß hin meine Söckchen ausziehen. Der feuchte Abdruck meiner Fußsohlen auf dem dunklen Linoleumboden sollte der jungen Orthopädin Aufschluß über meine Gehwerkzeuge geben. Die Diagnose war eindeutig: Jeannine war gezeichnet durch Senkfüße. Die starken Schweißabsonderungen veranlaßten sie zur Bemerkung, das sei nicht weiter schlimm, auch sie hätte die Anlage zu Schweißfüßen(!).
Wir schreiben das Jahr 1965.
Nun wurde aus Nena keine Orthopädin, sondern – Wunder geschehen – Deutschlands einziger Popstar weiblichen Geschlechts. Doch bis dahin dauerte es noch ein Dutzend Jahre. Wir übten einstweilen in den Ripprollis unserer Mütter, die wir als todschicke Superminis trugen, was uns Peggy March, Mary Roos, Lena Valeitis, Vicky u.a. in der deutschen Hitparade vormachten: sich "aufregend" zu bewegen und zum Playback ein Singmündchen zu formen. Wir Lolitas hatten von unserer Wirkung sicher nur eine schwache Vorstellung. Bei Nena wurde aus dieser Ahnung allerdings rasch ein angewandtes Wissen, was bei mir, der reinen Theoretikerin in Sachen Erotik, ungläubiges Staunen hervorrief. Wovon ich nur las, setzte sie lange vor mir in die Tat um. Sie hatte enormen Schlag, und die Jungs standen Spalier. Doch zuerst gab es nur den einen, und der hieß Holger. Irgendwann lieh ich ihm meine heißgeliebten Satiremagazine, "Pardon", mich amüsierten sie heftig, ja, mehr noch, sie schulten Humor wie Bewußtsein. Er fand sie schnöselig und gar nicht komisch. Denn ich wollte immer nur John Lennon, den intellektuellen Clown und meinen persönlichen Großguru – und bekam schließlich sein Hagener Double. Nena trällerte in jenen seligen Zeiten mit Maffay "Du" und mit Christian Anders' "Es geht ein Zug nach nirgendwo", grandiose Schmachtscheiben, die in ihrer elterlichen Musiktruhe auf dem Plattenteller lagen. Doch nur kurze Zeit darauf schoß sie sich auf Mick Jagger und die Rolling Stones ein. Die klassischen Fronten des musikalischen Geschmacks waren nun aufgemacht, was wohl bedeutete, daß wir langsam erwachsen wurden.
Die Wege der pubertierenden Provinzküken sollten sich nur noch sporadisch kreuzen – verschiedene Jahrgangsstufen am Christian-Rohlfs-Gymnasium, andere Freunde. Doch es gab noch gemeinsame Diskothekenbesuche, einen Auftritt des Jazz-Saxophonisten Charlie Mariano im verrucht-verrauchten "Piccadilly", der dabei lässig mit Nena flirtete, und die ersten Joints, die wilde Lachorgien einleiteten. In einem Bus der Hagener Verkehrsbetriebe gab Nena eines ihrer ersten Konzerte: es war ein Lachkonzert. Überhaupt, ihr Lachen! Später mehr darüber. – Die üblichen Kämpfe zwischen Eltern und ihren halbwüchsigen Sprößlingen wurden bei den Kerners sehr temperamentvoll ausgefochten. Ob Nena hier ihrer konventionellen "Vorbildrolle" für die beiden jüngeren Geschwister immer gerecht wurde, vermag ich kaum zu sagen. Gewagte Kletteraktionen über das Vordach des elterlichen Hauses – runter ins Tal und rein ins Hagener Nachtleben – werden bei Vater Alfons, dem Lateiner, Sportsfreund und Gemütsmenschen, keine Begeisterungsstürme entfacht haben. Eine entscheidende Weichenstellung fand bei uns zu Hause statt: weiter zur Penne oder eine Lehre absolvieren, z.B. bei einem Goldschmied. Ich mußte das Zimmer verlassen, als unsere Mütter versuchten, dem "Kinde" ins Gewissen zu reden. (Unsere Väter und Mütter waren allesamt großartige Pädagogen!) Dies ist vermutlich einer der letzten Entschlüsse gewesen, den Nena nicht allein gefaßt hat. Es wurde also fortan geschmiedet – und zwar am eigenen Glück. Kein schlechtes Los, wie sich zeigen sollte.
Sie fand bei ihrem Meister in Schwelm eine neue Liebe, Kontakt zur Berufswelt und noch genügend Zeit für ausgedehnte Hopsereien. Auf einem dieser Discoabende wurde sie von Rainer Kitzmann entdeckt, da sie mittlerweile zur besten Tänzerin im Großraum Sauerland geworden war ... der Rest ist Legende. Während sich in Hagen aus den Stripes die Urformation der Nena-Band entwickelte und Kai Hawaii gemeinsam mit Stefan Kleinkrieg begann, extrabreiten Unsinn auszuhecken wie Schulen anzuzünden, hatte ich mich anno 1977 im fernen Berlin als Insulanerin und FU-Studentin niedergelassen. Auch Nena zog es in die Metropole, stets einen anderen netten jungen Mann im Schlepptau: mal brachte sie einen blonden Argentinier, der ihr als Anhalter in die Arme gelaufen war, nächtens in meinem Zimmer unter, mal war der beste Freund meines Lennon-Doubles ihr Begleiter. Dieser Klaus (Alter Ego: Kinski) hatte gerade aufgehört, sich mit Inga Humpe eine "Zweiraumwohnung" zu teilen. Die Hagen-Berlin-Connection war intensiv und trug nicht wenig zur beiderseitigen Befruchtung einheimischer Musikszenen bei. Schließlich wohnte sie in Neukölln, ganz in meiner Nähe, in ihrer ersten eigenen Wohnung. Die "Pflüger" war der Startpunkt ihrer Berliner Wohnungsodyssee. Die Wände waren tapeziert mit brillanten Schwarzweißportraits von Nena und Band, fotografiert von einem Typen mit dem sonderbaren Namen (Günther) Rakete.
Und dann der Musikladen! Nach diesem Quanten- und Quotensprung in ungeahnte Höhen der bundesrepublikanischen Musiklandschaft fieberten wir jedem TV-Auftritt unserer Hagener Freunde entgegen (immer eine Träne der Rührung und des Stolzes im Augenwinkel) und durften schließlich einen cineastischen Hochgenuß mit Nena und Rolfi persönlich teilen: den Neue Deutsche Welle-Klamauk "Ich will Spaß, ich geb' Gas". Die Filmbühne Wien wurde durch Nenas Lachsalven so stark erschüttert, daß sie kurz darauf für immer ihre Pforten schließen mußte. (Sie wird übrigens noch heute restauriert!) Das Kinopublikum war nicht wenig irritiert von der absoluten Synchronizität des Lachens auf und vor der Leinwand. Am schönsten war und ist in diesem Film das romantische Duett Nenas mit Markus, dem dunkelgelockten Popheros: "Kleine Taschenlampe brenn'". – Was mir damals gar nicht gefiel, war, daß Nena ein sehr deutlich konnotiertes Wort allgemein salonfähig gemacht hat. Der inflationäre Gebrauch, der nun landauf, landab einsetzte, war alles andere als g--l. Hier wurde der Generationenunterschied von zwoeinhalb Jahren offensichtlich. Und grausam enttäuscht war ich von meiner so mutigen wie schönen Heldin, als sie auf dem damaligen Höhepunkt ihrer Karriere – "99 Red Balloons", number one of the American dance charts! – Angebote aus den USA ausschlug. Ich schimpfte sie insgeheim einen Hasenfuß. Mein Gott, wo hätte das hinführen können: beinharter Tanz- und Gesangsunterricht, Konzerte im "Dunes" in Las Vegas, eine Doppelhaushälfte neben Mrs Ciccione! – Aber wer weiß, wozu alles gut war...
... Nenas Gspusi wäre damals sicher nicht dieser spät berufene Käpt'n auf dem Trockendock der Andrea Doria geworden. Die beiden waren entzückend miteinander. Er nannte sie zärtlich seine "Kernbeißerin" ("Kerner" plus ausgeprägtes Vordergebiß seiner Angebeteten), sie tremolierte ein zuckersüßes "Lindi" zurück in seine Richtung. Wir haben uns köstlich amüsiert auf unseren "inkognito"-Trips nach Zürich und London. Alberne Verkleidungsnummern sorgten für eine nicht endenwollende Gaudi: Udo ging an einem 25 Grad heißen Maitag auf der Zürcher Promenade als Superhornisse mit Pelzkappe flanieren. Selbstverständlich erkannte ihn jeder. In Lenins favorisiertem Caféhaus, dem "Odeon", schlüpfte Udo dann als Lindenberg enttarnt aus der "Insektenlarve" in die Rolle des Kommentators. Publikumsbeschimpfung! Er parodierte alles und jeden. Wir klammerten uns prustend vor Lachen an den Tresen – und wohlgemerkt: einzig der Genuß von Johanniskrauttee war gestattet! Über England flogen Nena und ich als "Denver"-Zicken ein – wir schreiben das Jahr 1985 – bis zur Kenntlichkeit verziert mit Kostüm, High Heels und damenhaften Hütchen, der Popstar sogar verschleiert! In Swinging London stand dann Sport auf dem Programm, denn Udo hatte neben seinem Jungbrunnen Nena das Bedürfnis nach körperlicher Ertüchtigung, und auf ging's: zum Schwimmen in alte Hallenbäder und des Nachts zum Rollerskaten auf die menschenleeren Straßen Mayfairs. Als ich in Ronnie Scott's Jazz Club den guten alten Paul Weller erspähte und ihm ein Glas Champagner spendierte, war Udo ziemlich angepiekst. Selbst 'n Käpt'n ist nicht frei von Eitelkeit.
Hier ein bewußter Schnitt. Tatsächlich gäbe es Bücher zu füllen. Es kamen Kinder, und noch mehr Kinder, neue Weggefährten, dramatische Wendungen in Nenas Karriere und in der Geschichte unseres Landes. Wir haben uns seit den 90er Jahren und ihrem Umzug in die Hansestadt ein bißchen aus den Augen, aber vielleicht nicht aus den Gedanken verloren. Zumal ich allmorgendlich mit Nenas Zitruspresse meine Vitamine verflüssige und auf ihre Gesundheit trinke! – Ich glaube sie genau zu kennen, sehe ihr Gesicht in einem Magazin und weiß, sie ist schwanger, nur, welchen Menschen kennt man schon wirklich in all seinen Facetten und Widersprüchlichkeiten. Und ist es erstrebenswert, alles zu wissen? Was ich an meiner Freundin und "meinem Popstar" stets bewundert habe, ist ihre unbekümmert-charmante, oft toughe, manchmal freche Art, Menschen und Situationen zu begegnen. Emotionale Höhenwanderungen wird man bei einer solch' pragmatischen Lebenseinstellung nicht erwarten dürfen. Auch das Schwärmen, dem ein nostalgisches oder gar schwermütiges Sentiment einwohnt, ist Nenas Sache nicht. "Don't look back!" ist ihre wie Bob Dylans Devise. Kraft aus sich selbst zu schöpfen. Meine kleinen Hausaltare waren ihr fremd. Aber ohne robustes Ego würde keiner in einem Metier überleben, in welchem Zimperlichkeiten tabu sind. Dieses Rüstzeug, zum Teil mitgebracht, zum Teil in den letzten Jahrzehnten erworben, läßt unter dem gewinnenden Äußeren des Popstars hier und da etwas von Härte hervorblitzen, wie lächelnd es auch verpackt sein mag: "Kritik find' ich Scheiße." Ihre Dominanz will akzeptiert werden, basta, und sie muß es auch, um als eine sich gleichsam selbstladende Batterie zu fungieren; wird sie es mal nicht, mag sich rasch Gleichgültigkeit ausbreiten. Gesellt sich Schönheit zur Kraft, zur Energie, ja, zum Machtwillen, ist erstere meist mit einem leisen Schrecken behaftet. Der Terror des Schönen.
Und zweifellos: Nena ist schön, und sie ist stark.
Bei aller Unterschiedlichkeit unserer Sicht auf die Welt – beim Lachen und mit einem ähnlichen Sinn für die Komik des Lebens ausgestattet, waren und sind wir noch immer kompatibel.
geschrieben vom 15. bis 17. April 2003
Montag, 22. August 2016
Mein Popstar
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