Bärendienste oder Die Ökonomie der Mittel
An einem Debüt – gleichgültig, ob hier Zutritt zu den Künsten begehrt wird oder die Schwelle ins Erwachsenendasein überschritten sein will – hängt Herzblut. Der Lehrling hat viel Zeit in der Alchimistenküche verbracht, beherrscht mutmaßlich sämtliche Griffe, möchte die Kunststücke endlich selbst aufführen, den Trank mischen, um das Publikum seiner Wahl zu verzaubern. Nur haben Debütantin oder Debütant mit ihrer Kunstform nicht nur ein Publikum erwählt, sondern zuvor auch die Mittel, um der Form Struktur und Halt zu verleihen. Das Kind lernt früh, dass der Sand von einer feuchten Beschaffenheit zu sein hat, damit der Abdruck des Förmchens gelingt. Sonst zerrinnt er zu einer amorphen Masse – kein Kuchen ist anzubieten. Es gibt das Herzblut, die Wahl und Ökonomie der Mittel und selbstverständlich ein Sujet.
Kindesmissbrauch gehört zum grausamen Alltag des Nachwuchses von Hartzern genauso wie von den Besserverdienenden mit der Doppelgarage neben der Villa; von eingebürgerten Arbeitsmigranten wie von jenen, die aus schierer Not die Heranwachsenden in den paradiesischen Westen schicken. Es vergeht kaum ein Tag, an dem die Medien nicht erneut jahrelangen, gar Jahrzehnte währenden Missbrauch beklagten. Dazu gehört ohne Ausnahme der siamesische Zwilling der Ignoranz, der die Verbrechen vor aller Augen zulässt und schützt. Erfolgt der "Täterschutz" gar durch die eigenen Eltern oder Vertrauenspersonen aus dem unmittelbaren Umfeld der Kinder und Jugendlichen, gelingt ihnen der Alltag nur noch im freien Fall.
Wobei das Täter-Opfer-Schema in der öffentlichen Wahrnehmung stets dieselbe Struktur besitzt: Das Faszinosum des aus unserem gesellschaftlichen Kanon an Gesetzen und Normen hier, Verboten und Verdikten dort ausbrechenden und im Wortsinn asozialen Täters ist Humus für des Menschen Lust an ungeheuerlichen Taten, ergo auch für den allabendlichen Krimi. Das Opfer ist in diesem Zusammenhang so bedeutungslos, dass ihm die desinteressierte Öffentlichkeit den zweiten Genickschlag versetzt, damit es endlich aufhörte, wie ein Fisch zu zappeln. Während sich die Torfstecher in den Fernsehanstalten um die selten gewordenen Dauerposten mit Prämiumpension keine Sorge machen müssen, erfüllen die Opfer von Gewalttaten, seien wir ehrlich, auch bei ihren sporadischen Auftritten in TV-Talkshows eine reine Alibifunktion: Es wird sich entrüstet, für einige Minuten herzlich mitgelitten und rasch wieder vergessen. Der Weiße Ring besitzt in unserer Gesellschaft von Tätern kein nennenswertes Forum.
Die Energie – und sei sie noch so kriminell – ist auf des Täters Seite. Und Energie ist Trumpf.
Den Missbrauch im Roman zu bearbeiten, wagten einige unter den Literaturfürsten des 20. Jahrhunderts. Exemplarisch deshalb nur diese zwei: Thomas Mann, der das Begehren in seiner Novelle, das sich an wenigen Blicken und dem Augenschein des Knaben Tadzio entzündet, im Virtuellen und als fiebriges Phantasma des dem Tode geweihten Schriftstellers von Aschenbach unerfüllt sein lässt. Ein "Tod in Venedig" als bürgerlich-dekadentes Schauerstück auf die Päderastie – unter den verkommenen Honoratioren des deutschen Kaiserreichs täglich ausgeübte Kurzweil, vom Autor und Nobelpreisträger unterdrückte, literarisch sublimierte Neigung – ist im Jahr seiner Entstehung (1911) noch der Spätromantik verhaftet.
Bei Vladimir Nabokov kommt es zum Vollzug. Er schuf mit "Lolita" (1955) die "Mutter aller Missbrauchsfabeln", die moderne Inkarnation kindlicher Verführungskraft. Seine Kindfrau taufte das psychologische Amalgam aus Nymphomanie und Hysterie, das bis heute und in alle Ewigkeit in männlicher Sicht des Phänomens als "Lolita-Syndrom" bezeichnet werden wird. Die heranwachsende Nymphe ist in diesen Darstellungen selten ein Opfer. In ihren eher erratischen als taktisch angelegten Manövern siegt die Romanfigur schlussendlich über den Strategen/Peiniger Humbert Humbert, der sich als der Hanswurst entpuppt, der er von Anfang an war. Doch werden fiese Fallstricke eingebaut, sind so viele Lesarten dieser "Patchwork-Familie" möglich, dass jede exklusive Interpretation des Textes trügerisch scheint. Neben anderem zerbricht die heilige Urzelle der amerikanischen Nation nicht nur an den egomanischen Eltern; auch die Baby-Boomer sind verzogene und gefühlskalte kleine Ratten. Die Nachkriegsmoderne ist so unsympathisch wie ihr Personal.
Ute Cohen verwendet die lyrische Wortwahl von Vladimir Nabokov als Romantitel sowie das komplette Zitat als literarisches Motto: "Die Einsamkeit ist SATANS SPIELFELD." Es stammt aus seinem Romangedicht "Pale Fire" (1962) und nicht aus "Lolita", wie der Leser nach Genuss des Cohenschen Debüts zu glauben veranlasst ist. Aber wie auch immer, mit Nabokov sind die Ambitionen benannt, die Ziele hoch gesteckt. Der Septime-Verleger in schon sprichwörtlicher Omnipotenz einer wienerischen Krone der Schöpfung möchte da mithalten und betätigt sich als Grafiker. Er zeichnet für die Gestaltung des Schutzumschlags verantwortlich. Das muss man können. In Union mit der Zeichnung eines dürren langhaarigen Wesens, das seine Blöße erschöpft unter einem Daunenkissen verbirgt, bekommt der Romantitel eine reißerische, zweideutige Konnotation. Zwischen Manga und Gothic – etwas für kleine Mädchen oder doch ein Schneider-Buch für Erwachsene? Der potentielle Käufer ist verwirrt, aber der Text auf dem Schutzumschlag spricht von einem Netz aus "Verführung, Vaterliebe und Macht", Anathema für Hanni und Nanni. Von Missbrauch indes keine Rede. Lolita erhält keine namentliche Nennung. Nirgends. Eine falsche Fährte?
Tatsächlich beginnt der Roman wie ein maßgeSchneidertes Buch für Jugendliche – und erzählt von jungen Mädchen kurz vor der Pubertät, ihren Spielen, Marotten und Bösartigkeiten. Teenager werden erst in ein, zwei Jahren aus ihnen. Die Sättigung der Sprache mit Adjektiven ist ermüdend: "geweiteter Blick, gefälliges Lächeln, zuckender Blitz, gezackter Stern, bläuliches Licht, bedrohliche Schatten, gierige Zungen, üppig entfaltete Baumkronen, glimmendes Streichholz, tiefe Stimme" – zuviel für ein Kapitel, geschweige denn für eine halbe Seite. Halte ein, möchte man der Autorin zurufen, selbst Enid Blyton war sparsamer. Sind dies klassische Anfängerfehler? Zu viel wird auf einmal gewollt. Oder ist es doch der Narzissmus einer allzu selbstgewissen Debütantin, die sich unter Kontrolle ihres ersten literarischen Vehikels wähnt? Mit vollzogener sexueller Unterwerfung der Protagonistin Marie durch den Provinztiger, eines "Bauleitner" (sic!) benamten Architekten, wird Cohens Sprache freier, kleben die Adjektive nicht mehr an den Substantiven wie das Pech an der Marie. Aber je leichter die Sprache, desto härter die Zumutungen und Attacken auf das Hymen ...
... Mariechen saß weinend im Garten. Sie bleibt eigenartig blass, die Marie, ein Streberle, das sich selbst negiert und nur im Verführungsspiel etwas Kontur erhält. Weil es hier um Macht geht, was schon das Kind begreift und für sich sucht zu nutzen. Es ist indes nicht so schablonenhaft gezeichnet wie seine Eltern: Die Mutter gesichtslos, putzt und bäckt tagein tagaus, hat einen einzigen Auftritt in Capri-Hosen und erhält nur die eine (fast) innige Szene beim Zöpfeflechten der Tochter. Als verhinderter Provinz-Revoluzzer, der rührend seines Hobby-Kommunismus frönt, wird der Vater als gebildeter Frühgescheiterter umrissen. Alle bleiben sie Silhouetten im Schattenreich des Verführers, des gleichfalls scherenschnittartig angelegten Fred Bauleitner. Doch der ist unverstellt, ist als grobes fränkisches Schnitzwerk frech, siegesgewiss, voller Energie und überschüssiger Säfte. Seine Rhetorik und Männlichkeit blenden junge wie ältere Damen in der Nachbarschaft. Diese Casanova-Existenz besetzt mit als zu fett beschimpfter Gattin und verwöhnten Töchtern ein gelbes Haus: Maries Zuflucht aus der spießigen Enge der elterlichen Wohnung. Zunächst ist hier noch ein Luftholen möglich, auch wenn der Würgegriff des Provinz-Playboys sich immer enger um ihren Hals legt. Sie mutiert zum Automaten, der die Erwartungen der Erwachsenen, der bigotten bayrischen Provinz zu bedienen gelernt hat, zum leeren Zentrum einer gefühlskalten, farblosen Welt, denn auch das Zeitkolorit der 1970er und frühen 1980er Jahre wird von Cohen wie eine Nummernrevue aus Pop-Elementen vorgeführt.
Im Garten saß weinend Marie ... wo bleibt hier das Herzblut, wieso empfindet der Leser nicht mit ihr, mit den gescheiterten Eltern, mit der frustrierten Frau Bauleitner? Identifikationsmodi werden von Cohen nicht eingebaut. Soll in dieser Versuchsanordnung, die alle bedienen wie Pawlowsche Hündchen, ein Mitfühlen unterbunden werden? Da Verführungsgeschichten wie die ihre hinlänglich bekannt sind, schnurrt Cohens Erzählmaschine wie eine gut geölte Singer Klischees und schablonenhafte Situationen (Eiscafé, Baggersee, Schulklasse, Teenagerzimmer) mit gerader Naht herunter. Der Leser kennt diese topografischen Backdrops aus der Glotze oder aus dem eigenen Leben. Ein Zickzack aus Brüchen, Geheimnissen, Traumwelten (angedeutet) oder Reflexionen findet nicht statt. Erst gegen Ende des Romans, als Marie eine Rachestrategie entwickelt, werden ihre Gedanken und Gefühle konkreter, bekommen eine Sprache. Doch ist es zu spät. Auch wenn der Roman als lemniskatische Bewegung endet – der Missbrauch durch ihren Peiniger wird in Verführungs- und Unterwerfungsritualen ewig fortgesetzt werden – hat sich Marie in der psychopathologischen Täter-Opfer-Verstrickung bei aller Hilflosigkeit, die nun keine mehr ist, dem Täter so sehr angeglichen, dass sie beginnen, wie ein Körper zu oszillieren. Anderen Erzählungen über physischen und psychischen Missbrauch gleich ist auch diese die Beschreibung einer Tyrannis, die alle Beteiligten in eine gegenseitige Abhängigkeit führt und, wie von Cohen demonstriert, dem Opfer nicht nur die sexuelle Unschuld raubt.
Ich muss als Leserin mit dieser eindimensionalen Darstellung in Romanform nicht einverstanden sein. Mehr noch, es lesen sich weite Strecken des Buches wie Kolportage: teen drama, Kulissenprovinz, die kalkuliert harten Sexdarstellungen et.al. Dass so viele positive Rückmeldungen aus der vorwiegend männlichen Leserschaft kommen, wundert deshalb weniger. Nun ist dies ein fiktiver Text, den offensichtlich viele Leser dennoch mit der Realität abgleichen. Aus genannten Gründen erweist sich der Roman jedoch für die Sache der realen Opfer, die diese Frondienste und Torturen heute und jeden künftigen Tag über sich ergehen lassen müssen, als Bärendienst – zu viel Softporno-Kalkül, zu wenig Empathie für Marie. Der Double Bind, den die Autorin und der Septime-Verleger schon mit Titel und Gestaltung angelegt haben, wird vom Roman nicht aufgelöst, sondern bis zum Ende durchdekliniert. Schade. Es gibt keine Fallstricke, keine Metaebenen, der Beschreibungsduktus steht im Vordergrund und beherrscht den Text: Der Leser bekommt, was er liest und wenig mehr.
Doch es gibt Hoffnung: Ute Cohen verfügt über eine exzellente sprachliche Kompetenz. Der Text ist gut gebaut. Man wünscht ihr ein Lektorat, das diese Talente zu fördern versteht und das ihr dabei helfen könnte, Sprache und Stil zu entschlacken. Less is more. Nicht jedes Wort, jeder Vergleich muss wie ein Schatz gehütet und nicht jedes literarische Bild grell ausgeleuchtet werden. Stilistische Mittel sollten ökonomisch eingesetzt werden, sonst verschwinden hinter ihnen die Ideen. Was bleibt ist Tinseltown, Strass-Burg, l'art pour l'art. Die Eitelkeit ist beim Schreiben weiß Gott kein guter Begleiter. Sie ist es in keiner der schönen Künste. Weshalb gute Lektoren Gold wert sind. Sie schleifen sprachliche Selbstverliebtheiten und Auswüchse lange genug, um den Text zum Strahlen zu bringen.
Ich hoffe auf weit ausstrahlende Texte von Ute Cohen. Sie hat etwas zu sagen und ein erstaunliches Debüt vorgelegt.
Montag, 20. Februar 2017
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