Von fliegenden Teppichen und Sitten im freien Fall
Eine Farce aus Wilmersdorf
In einem vergangenen Jahrhundert dienten Läufer auf den hölzernen Stiegen gründerzeitlicher Mietshäuser dem weichen Auftreten der Bewohner und damit einhergehender Trittschalldämmung. Üblicherweise gab und gibt es diese Läufer in den Farben Beige bis Braun, die der natürlichen Farbpalette des verarbeiteten Sisal- oder Kokosmaterials entsprechen, bzw. in zwischen Rubin und Bordeaux changierenden Rottönen. Die Webart dieser Läufer lässt in der Regel die Kette schwarz durchscheinen, gleichgültig, ob Naturfasern verarbeitet wurden (gröbere Textur) oder aber bei Mischgeweben der Anteil an Kunstfasern höher ist (feinere Textur). Die dichtere Webart aus Kunstfasern ist undurchlässiger für Straßenschmutz, während die lockerer gewebten Naturfasern Schmutz- und Staubpartikel gleichsam "verschlucken". Benutzungsspuren jedweder Art sind der Logik der unterschiedlichen Gewebe gemäß bei Kunstfasern besser absaugbar, aber hinterlassen auch rascher schwarze Trittkanten, welche die Naturfaser schlicht absorbiert. Beim Austausch letzterer sind folglich Legionen von Staubwissenschaftlern aka Atmosphärenphysikern zur optimierten Feldforschung angetreten. Statt komplizierter Versuchsreihen in der Retorte boten sich ihnen Destillate reinsten Drecks – hereingeschleppt von den Trottoirs der Großstadt, hinausgetragen vom Homo sapiens aus seinen Wohnungen in den gemeinschaftlich genutzten Bereich des Treppenhauses.
Nach hinreichender Erläuterung von Strukturen und Tiefenwirkungen, die eine Wahl des Läufermaterials beeinflussen sollten, gilt es, das Augenmerk erneut auf eingangs erwähnte Farbpaletten zu richten. Ästhetisch geschulte Hauseigentümer und Verwaltungen beweisen entweder selbst umfängliches Geschick in der harmonischen Farbkombination von Lacken, Dispersionsfarben für die Wand, Naturholztönen von Türen, Geländern, Handläufen, Stiegen und darauf abgestimmter Läuferfarbe- und qualität oder beauftragen die entsprechenden Gewerke. Seltener engagiert sich eine Mietergemeinschaft bei derlei Fragestellungen, denn nur in den allerseltensten Fällen, die aufgrund ihrer Rarheit exkludiert werden könnten, übernimmt diese auch die Kosten für derlei Verschönerungen ihrer häuslichen Umgebung. Die Dinge werden registiriert, nolens volens hingenommen und irgendwann als Bestandteil der großen Alltagstapete vergessen.
Seltsam sind allerdings Fälle – womit wir die allgemeine Produktbeschreibungsebene endlich verlassen, um konkret zu werden –, in denen weder die lautmalerischen noch die ästhetischen Komponenten eines fehlenden Treppenhausläufers stark genug gewesen wären, um eine Mietergemeinschaft zu veranlassen, Schritte zur Behebung des Missstandes zu unternehmen. Ein einzelnes Mitglied dieser Gemeinschaft, beherzt sich aufmachend, die ein Jahr nach Abschluss einer Grundsanierung noch ausstehenden Reparaturen im Mietshaus anzumahnen, schaffte es hingegen mit der schlichten Äußerung der Läuferfarbe "Beige" – als wohlgemerkt unabgesicherte Vermutung einer Farbwahl durch die Hausverwaltung – aus der indifferenten Gruppe von Mitmietern unverhofft eine Solidargemeinschaft gegen sich aufzustellen, die generell Entscheidungshoheit in ästhetischen Belangen und im besonderen bei der Frage nach der Läuferfarbe für sich zu reklamieren können glaubte. Ein Szunami aus am (unbekannten) Produkt unbewiesenen Einwänden (Rot sei unempfindlicher als ein Naturton) und "natürlichen" Mieterrechten (Wir hatten immer Rot und wollen immer Rot!) schwappte über die eilends errichteten Barrikaden nur noch Rot sehender Mikro-Avangardisten, und bekanntermaßen helfen gegen Naturgewalten keine Vernunftsgründe, zumal sie wegen des starken Grundrauschens gar nicht erhört werden. Der casus belli, besser: das existentielle Axiom: Beige oder rot sein, das ist die Frage!, es muss kaum erwähnt werden, wurde ausgefochten unter, leider, ausschließlich weiblichen Hausinsassen. Eine Phalanx von Majordominas hat in geordneten Reihen und einig wie nie zuvor zum Christkindlfest und im außerordentlichen Farbklang zum rot geschmückten Baume im Hochparterre einen roten Treppenläufer als Siegestrophäe aus demokratischem Kampfe errungen. Vivat! Das Haus ziert nunmehr ein Sisalteppich von vulgärem Rot – welches indes unter zunehmender Sonneneinstrahlung von Etage zu Etage schneller seine Intensität verlieren wird, als die Mieter eine Flasche Rotkäppchen Rosé miteinander teilen könnten. Jedes Hundehaarwölkchen, jeder Papierschnipsel hat nunmehr einen rubinroten Fond; der Schmutz aber, er fällt durch, wie oben für grobgewebtes Sisal erläutert.
So weit, so ruhig – für Trittschalldämmung ist nach Klärung der Farbfrage auf Leben und Tod immerhin gesorgt. Dennoch ist dies bislang nur die Schilderung einer durch Hysterie dynamisierten und letztlich mehrheitlich durchgesetzten Maßnahme. Die Farce wäre aber keine, gäbe es nicht wie endlos durch den Fleischwolf gedrehte Exzesse um weitere zur Schmutzabwehr unentbehrliche Utensilien, gemeinhin Fußabtreter genannt. Diese wechseln in wöchentlichem Turnus, sind mal naturfarben, dann wieder gestreift, werden hinausgelegt oder hereingeholt, landen im Mülleimer oder werden auch gern sonntagnachmittags, zu bester Ruhezeit vor der Wohnungstür gestohlen.
Spätestens ab hier wird aus der Farce sogar ein Dramolett: Stand nicht auf dem Diebesgut der aus dem Monty Python-Epos "Das Leben des Brian" bekannte Refrain "Always look at the bright side of life"? Möge der Dieb / die Diebin viel Freude an dem lustigen, sage und schreibe € 49,00 teuren Utensil haben, das namentlich gekennzeichnet und deshalb nicht zur weiteren öffentlichen Zurschaustellung geeignet ist.
Wir freuen uns, dass IRRE viel los ist in diesem Haus, aus dem wir hier eine wahre erfundene Geschichte erzählt haben.
Montag, 23. Januar 2012
Von fliegenden Teppichen und Sitten im freien Fall
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