"Er ist in unbegrenzter Weise aufnahmefähig für immer neue Wahrnehmungen und schafft doch dauerhafte – wenn auch nicht unveränderliche – Erinnerungsspuren von ihnen." -
Sigmund Freud 1925 in seiner "Notiz über den WUNDERBLOCK", das Kinderspiel und Schreibgerät aus Deckfolie und Wachsmatrize, von welchem sich das mittels eines Griffels Eingeschriebene oder Gemalte wie durch Zauberhand (in einem mechanischen Vorgang wird die Folie wieder von der Wachsschicht abgehoben) löschen lässt.
"What else than a natural and mighty palimpsest is the human brain? Such a palimpsest is my brain; such a palimpsest, O reader! is yours. Everlasting layers of ideas, images, feelings, have fallen upon your brain softly as light. Each succession has seemed to bury all that went before. And yet in reality not one has been extinguished."
Thomas De Quincey, Suspiria de Profundis, 1845
Samstag, 22. Dezember 2018
WUNDERBLOCK
Dienstag, 8. August 2017
Farbig oder monochrom? Der Roman "Blaupause" von Theresia Enzensberger
Die Fotografie auf dem Schutzumschlag bereitet eine fast unerklärliche Freude: Was ist das, was sieht man hier? Junge Menschen, aufgekratzt, beseelt von unbeschwerter Lebenslust – und irgendwie scheinen sie alle am gleichen Strang zu ziehen. Doch gleichgültig, was sie vereint, der Betrachter möchte augenblicklich dazu gehören, mitmachen in diesem Klub von Gleichgesinnten. Alle sind dabei, als jemand ruft: "Achtung, Aufnahme, schaut zu mir hoch!"
Fotoauge und Betrachter werden eins beim stürzenden Blick an der Fassade des Prellerhauses hinab auf die Kantinenterrasse am Dessauer Bauhaus. Die Staffelung in die Tiefe verläuft über vier Ebenen: Auf der Fotografenebene schiebt sich unverhältnismäßig groß eine Schuhkappe ins Bild. (Indiz auf das Geschlecht des Fotografen?) Eine Balkonetage tiefer halten Grazien – natürlich drei an der Zahl – ihre schönen Gesichter in den Sommerwind: Grete Reichardt, Anni Albers und Gunta Stölzl. Alle sind sie begabte junge Frauen aus der Webereiwerkstatt. Auf der Terrasse vor der Kantine, der dritten Ebene, werfen ein in die Sonne blinzelnder Studierender und der Spaßvogel Max Bill lange Schatten auf den Beton. Die nachmittägliche Sonneneinstrahlung scheidet auf einer vierten Ebene durch das schwarze Schattenband die gemauerte Balustrade von der Terrasse. Auf ihr lassen Bauhäusler beidseitig die Beine baumeln und schauen lächelnd, die Augen vor den Sonnenstrahlen schützend oder skeptisch, wie der zweite mit weißem Hemd gekleidete Mann (sich dergestalt als Studierender der Ausbauwerkstatt und künftiger Architekt ausweisend) hinauf zum Fotografen. Der angeschnittene braune Schuh ist doppelt so groß wie die unten lächelnden Menschenkinder. Die Aufnahme, ein verrücktes Figurenkabinett, das Raum und Perspektive aus den Angeln hebt, reicht die Lebensfreude, die meist am Bauhaus herrschte, ungebrochen an uns weiter. Sie allein könnte als Dispositiv für Freundschaft, das Erwachsenwerden mit all seinen Wirrnissen und Irrungen, schulischen Wettbewerb und zahllose Versprechen an die Zukunft herhalten.
Wer sich ein wenig in der Zeit und ihren Dokumenten auskennt, weiß indes sogleich, warum die Fotografie so temperamentvoll und kolossal gegenwärtig daher kommt. Im Auftrag des Hanser Verlages wurde diese eine unter ein paar hundert schwarzweißen Bauhaus-Fotografien aus den 1920er Jahren mittels eines Farbprogramms am Rechner koloriert und verlebendigt. Früher nannte man eine solche Technik, noch manuell ausgeführt, "Viragieren". Etlichen Stummfilmen wurde mit ihr vor der Erfindung des Farbfilms Leben eingehaucht … denn ist das Leben etwa nicht bunt? Selbstverständlich reicht dieses Handwerk nicht an die heutige digitale Perfektion heran. – Der Dynamik jener die Aufnahme schrägdiagonal zerteilenden Linien von Balkons und stählernen Brüstungen, von Terrasse und Balustrade nimmt die Farbe erstaunlicherweise nichts von ihrer Wucht.
Ein Argument gegen die nun schon über ein halbes Jahrhundert währende Apotheose auf das Neue Sehen und seine bahnbrechenden Möglichkeiten in der Dynamisierung von Kompositionen zwischen den nichtfarbigen Polen Schwarz und Weiß.
Die Titelfotografie wirkt so frisch, als sei sie erst gestern aufgenommen worden – und erst bei weiterem Nachdenken über das Motiv wird klar: Im Vergleich zu unserer Zeit stimmt etwas nicht. Die jungen Menschen im Jahr 1927 geben sich nicht natürlich, SIE SIND ES und deshalb auch Lichtjahre entfernt vom Posertum, das uns als pseudo-existenzielle Haltung, als "Palindrom" tagtäglich aus allen Selfies entgegenruft: Ich Bin Das! Das Bin Ich! Es fehlte diesen Leuten einfach der Faktor Coolness, der große Gleichmacher, der heutzutage Studenten, Art Directors, Künstler oder Architekten zwischen zwanzig bis vierzig plus, zwischen Wirtschaftswundern, Konsumwahn, Wissenschaftshörigkeit und WorldWideWeb ununterscheidbar macht. Das Bauhaus wusste nichts von der grotesken Über- oder kommerziellen Entindividualisierung unserer Gegenwart, war in seinen Gründungsjahren ahnungslos vom Naziterror, der schon bald die Welt umfangen sollte. Es besaß die Unschuld des Neuanfangs in einer Welt voller Verheißungen, so entbehrungsreich das tägliche Leben auch gewesen sein mag. Es war ein Hort an Möglichkeiten, umhegt von einigen der größten Visionäre und Künstler jener Jahre. Weshalb es noch nach hundert Jahren ungemein attraktiv auf uns wirkt.
Zwischen den Zivilisationsbrüchen der Weltkriege gab es bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten ganze 15 Jahre für eine fieberhafte Suche: nach neuen sinnstiftenden Zeichen und Heilsprogrammen, politischen Demarkationslinien zwischen Revolution und Reaktion und nach lebensnahen Philosophien, die den Alltag in einem Land, das geschwächt von Kriegsschulden und Inflation durch seine erste demokratische Versuchsanordnung taumelte, begreifbar machten. Das Bauhaus hat sich in den 14 Jahren seiner Existenz (1918-1933) mit Inbrunst an dieser Suche beteiligt, wollte den neuen Menschen durch seine Propädeutik des freien Lernens auf eine offene emanzipierte Gesellschaft vorbereiten – unter anderem in der Entwicklung nützlicher, gestalterisch ausgewogener und deshalb schöner Gebrauchsobjekte und Architekturen. Dass dieser Ansatz als gelungen betrachtet werden kann, davon kündet die bis heute anhaltende Faszination an der Schule, ihren Menschen und ihren Hervorbringungen. Diese ist kaum allein einer weiteren genialen Werbestrategie des Bauhaus-Gründers Walter Gropius geschuldet, seine Erfindung und ureigenste Institution in den überschaubaren Reigen kultureller Leuchtfeuer der deutschen Zwischenkriegsphase einzustellen, deren Abglanz noch die junge Bundesrepublik illuminieren sollte. Der Weimarer "Intelligenzija" hatte sich Hitler-Deutschland brutal entledigt, die Reaktion trug mit katastrophalem Furor den Sieg davon. Dieser Sieg bedeutete 1933 auch das Ende des Bauhauses, nicht so seines Ruhmes, der zu hundertsten Gründungsjubiläum 2019 mit erwartbarem Pomp and circumstance begangen werden wird.
Zu den circumstances gehören neben neuen Museumsbauten und einem Defilee von Ausstellungen und Feiern das 17 Monate vor Beginn des Jubeljahres vorgelegte Buch "Blaupause", das vom Verlag als "Campus-Roman" beworben wird. Vielleicht ein Fehler, denn es müsste in Sarkasmus enden, es mit anderen Campus-Romanen vergleichen zu wollen – wie zum Beispiel "The Secret History". An diesem fulminanten Debüt feilte die Amerikanerin Donna Tartt annähernd neun Jahre und verstand es mit ihrer so glanzvoll erzählten wie psychologisch komplexen Geschichte über ein Elite-College an der Ostküste, ihr Publikum von der ersten bis zur letzten Seite zu fesseln. Die einzelnen Charaktere sind bis zum Feinschliff ausgearbeitet, Fallstricke werden immer enger geknüpft, bis die klaustrophobische Atmosphäre im winterlichen Vermont Protagonisten wie Lesern gleichermaßen die Luft abschnürt. In einer raffiniert eingezogenen Metaebene werden die in Philosophie-Seminaren verhandelten Fragen über Schuld, Sühne und Moral zum Lackmustest für die Vergehen und Haltungen der Studenten.
Aber wie gesagt, es wäre unredlich, den Vergleich mit einem deutlich umfangreicheren Werk aus den späten 1980ern zu suchen.
Bei allem Respekt und großer Bewunderung vor dem Mut, einen Bauhaus-Roman verfassen zu wollen, finde ich: Theresia Enzensberger hat es sich zu einfach gemacht.
Die Geschichte ihrer Heldin Luise Schilling, die als Ich-Erzählerin das Bauhaus besucht – dazu Liebesaffären mit Kommilitonen durchleidet, Freundschaften eingeht und Eifersüchteleien mit Frauen wie Männern ausficht – verharrt im gefühlsstarren Niemandsland eines "Coming of Age", dessen vorhersehbare Entwicklungsschritte auch an beliebigen anderen Orten der Weimarer Republik hätten vollzogen werden können, hier einige Beispiele: Luise Schilling als kleine Abteilungsdirektrice im KaDeWe; die Freundin und Beraterin von bald weltberühmten Künstlern im Dresdner Kunsthandel; oder in Potsdam zur Lektorin im Kiepenheuer Verlag befördert, der damals alle anzog, die literarisch Rang und Namen hatten oder in Kürze haben sollten.
Die Wahl Enzensbergers fiel jedoch auf das inzwischen in mythische Dimensionen aufgestiegene Bauhaus – dessen erste expressionistisch-sektiererische Station in Weimar und das bereits konzeptuell der Industrie zuarbeitende Dessauer Institut.
Die Autorin interessiert sich eigentlich gar nicht für die Schule, ihre Leistungen, ihre politischen Klimmzüge und Menschen. Auf Grundlage einer umfangreich dokumentierten Bauhaushistorie hätte über beide Orte unendlich fabuliert werden können. Die eingangs beschriebene Fotografie liefert wie zahllose weitere ein anschauliches Bild von Leben und Arbeit der Studierenden wie der Meister. Doch erfährt der Leser so gut wie nichts über die beiden Provinzstädte, weniger noch über Alltag und Lebenswelt der Weimarer Gesellschaft.
So schablonenhaft wie Gropius' Direktorenzimmer, die Schulgebäude, Weberei und Tischlerei, studentische Ateliers, das Tempelherrenhaus im Ilm-Park zu Weimar, Kneipen oder das elterliche Heim geschildert werden, wird das Bauhaus-Personal vorgeführt: ein gedanklich stets abwesender Direktor Gropius; der arrogante, unnahbare Johannes Itten; Paul Klee mit seinen dunkel umflorten, "melancholischen" Augen; der "pfauenhafte" Herbert Bayer; Hannes Meyer und Alcar Rudelt, streng über die Baulehre gebietend, und wenige andere mehr im Nebensatz erwähnte Meister. Keiner erhielte eine Kontur, die aus ihnen mehr machte als Pappsoldaten, die zum Szenarium gehören und pflichtschuldigst Erwähnung finden müssen.
Nun zeugt es bekanntermaßen von hoher Kunstfertigkeit, Persönlichkeiten der Zeitgeschichte so lebendig in einen fiktiven Text einzubinden, dass ihnen zum einen historische Gerechtigkeit widerführe und zum anderen Überzeichnungen vermieden würden. Es in einem Roman über das Bauhaus erst gar nicht zu versuchen, ist schon ein starkes Stück an unterlassener Fabulierlust und vorenthaltener Lesefreude!
Desgleichen finden Resultate aus Diskussionen, endlosen Experimenten und, wie anders, aus sprichwörtlichem Schweiß und Tränen wenig Beachtung. Es ist die Rede von all den schönen Dingen, die es damals erstmalig gab – und heute aus gutem Grund noch immer. Nicht eines der Objekte, die unser Bild vom Bauhaus prägen, strahlte atmosphärisch, erhielte seinen Platz in einem noch so kleinen gestalt-philosophischen Diskurs oder gar Symbolkraft für diese einzigartige Schule. Die Autorin verzichtet neben all dem Herzschmerz von Adoleszenz, familiären Abnabelungskämpfen und ökonomischen Zwängen darauf, das Bauhaus, das sie zur Kulisse ihres Entwicklungsromans erkoren hat, als Nukleus moderner Lebensformen und Gestaltung zu beschreiben. Exakt an diesem Schnittpunkt von Ideensuche und Experiment, harter Arbeit und Wohnen in der Lehranstalt entstanden jedoch neue soziale Verhaltensweisen und Modelle für die Zukunft!
Aber ja, sie sind vorhanden: der gelbe Sessel und der überwältigende Schreibtisch in Gropius' Büros, Ittens "Turm des Feuers", Farbleitsysteme in den Schulfluren, rätselhafte Vorkursarbeiten, ein handwerklicher Denkfehler im Treppenhaus der Villa Sommerfeld, die helldunkle Farbgebung des Toilettentischchens für das Haus am Horn, die auf konstruktiven Überlegungen beruht. Aber diese Dinge lagern in den eigenartig unmöblierten Räumen des Romans wie fremde Wesen, ungeerdet.
Gefragt, wie sie eine Arbeit fände, erwidert Luise Schilling: "Was weiß ich schon. Ich bin keine Künstlerin." Genau das ist der Punkt, denn eigentlich steht sie mitten drin, möchte mitmischen. Nur die im besten Fall gleichgültige Verwunderung über das Treiben um sie herum markiert ihre Rolle als das Bauhaus von außen Betrachtende, der aber bedauerlicherweise das Brio fehlt, eine Begeisterung für die Sache, die wir auf der zu Beginn beschriebenen Fotografie spüren können.
Da wirkt es unfreiwillig komisch, dass Luise ihren Willen, in der Tischlerei statt in der Weberei wie die anderen Frauen zu lernen, einer Holzkugel aufoktroyieren möchte, die unter ihren Händen kleiner und kleiner wird. Wurde hier eine Metapher für das Verschwinden der Objekte gefunden, der Verlust an Materie gekennzeichnet? Oder sollte dies ein griffiges Bild für Luisens Machtlosigkeit sowie der weiblichen Studierenden am Bauhaus sein?
Enzensbergers Erzählperspektive lässt Luise Schilling in der Ich-Form von ihren Beobachtungen, Ängsten, Gefühlen berichten. Dieser Kunstgriff kann situative Beschreibungen oder emotionale Zustände intensivieren, da er eine größere Lesernähe zur/m Protagonistin/en hergestellt. Hinter der Distanzlosigkeit des Ich-Erzählers zu seinem eigenen Tun und Handeln kann die zentrale Figur aber mitunter auch verschwinden. Luise eilt durch kurze Szenarien, begegnet Leuten, feiert mit ihnen, führt Gespräche, gibt sich ihren Liebhabern hin, doch letztlich bleibt sie als Frau blass – gesichts- und fleischlos. Der Leser wird mit ihr nicht warm, empfindet kaum mit ihr, noch nicht einmal dann, als sie von ihrem Freund Hermann übel misshandelt wird. Sie ist das leere Zentrum eines Romans, das Frauen-Klischees der Zwanziger Jahre zu transportieren hat: von der Emanzipierung bis hin zu einer beruflichen Selbstständigkeit. Es gibt einige wenige rührende Momente von Hilfsbereitschaft und Zugewandtheit, unter den Freunden, zumal den Schwulen oder von Seiten jüdischer Kommilitonen. Doch eigentlich sind sie alle Einzelkämpfer, selbstbezogene "Ichlinge", kalte Fische. Die Gruppendynamik des Itten-Kreises, Werkstätten und Schulbetrieb sowie die Wettbewerbe unter den Studierenden sind Stationen einer Transgression, um bei sich und den ureigenen Interessen zu landen. Nicht mehr, aber vielleicht doch weniger. Man wird das schale Gefühl nicht los, dass hier vor der Staffage des Bauhauses die Ichmonster der Jetztzeit vorgestellt werden, von denen eingangs schon als Selfisten die Rede war. Doch Funktionen Romane unter anderem über Identifikationsangebote an den Leser.
Es ist kein Salz in den Tränen der Luise.
Der Enzensberger-Roman bedient sich als narrativer Grundstruktur jenes Konfliktes, dessen sich alle bedienen, die die Zwanziger Jahre auf griffige Formeln, gängige Klischees und mittlerweile allseits bekannte Motive herunterbrechen: die Dämmerung des Nationalsozialismus vor der zunehmend verzweifelt werdenden Gegenwehr linksliberaler oder kommunistischer Verbindungen. Das ist nicht ehrenrührig, aber es ist eben auch nicht sonderlich originell:
Der erste Roman, "Bauhausfest mit Truxa", des waschechten Bauhäuslers Egon H. Rakette (hier wird mit allem Recht der Zeitzeugenschaft die Ich-Form angewendet) muss diesen politischen Konflikt, der seit dem Direktoratsantritt von Hannes Meyer, einem erklärten Sozialisten und streitbaren Zeitgenossen, ab 1928 immer stärker schwelte, zwangsläufig zugrundelegen. Rakette war Studierender der letzten anderthalb Schuljahre bis zur Selbstaufgabe des Bauhauses auf Druck der Nazis unter seinem dritten Direktor Ludwig Mies van der Rohe. Durchgängig von Berliner Mutterwitz getragen und pfiffig geschrieben, verwendet das Buch noch den authentischen Jargon jener Jahre – soweit unsereiner das beurteilen kann. Mit Anfang zwanzig 1932/33 am Bauhaus eingeschrieben, war Rakette bei Romanerscheinen im Jahr 1973 vielleicht Mitte sechzig. Da sollte jemand noch seinen Bregen kontrollieren können und sich ganz gut zurückerinnern.
Vierzig Jahre später, 2013, publiziert der Journalist Andreas Hilger seinen Bauhaus-Roman "Gläserne Zeit". Hier erneut oben zitierter Konflikt, doch wagt es Hilger, die Bauhaus-Objekte zu beseelen, schafft gelungene Szenen, gar Dialoge mit Meister Klee, bindet wie Rakette die Unterschicht mit ihren wirtschaftlichen Nöten sinnfällig ein in die Dramaturgie seines Buches, das auf weiten Strecken aus der Perspektive des Proletariats erzählt wird.
Und jetzt, dem Jubiläum nahe, der dritte Bauhaus-Roman – von Theresia Enzensberger! In Format, Länge und Ausstattung, von vergleichbaren Titelfotos zu schweigen, ähnelt er Hilgers Buch, wie eineiige Zwillinge sich nun mal ähneln.
Das ist selten; geschah es rein zufällig?
Luise brennt natürlich schon ein wenig, hat viel Freud am Ziel, mit erfolgreich absolvierter Ausbildung zur Architektin den Vater und ihren Widerling von Bruder zu desavouieren, die beide von Frauen weniger als nichts halten. Befreien kann sie sich von ihrem Penis-Neid (ja, Entschuldigung) auf keiner Seite des Buches. Verfällt sie im Weimar-Teil einem hübschen Itten-Adepten, den es eher in Ittens Klausnerei auf den Zürcher Herrliberg als zu ihr ins Bett zieht, so rafft sie bis zum bitteren Dessauer Ende nicht, im Geliebten Herrmann den Proto-Faschisten zu entlarven, bewundert stattdessen seine Chuzpe (!), die nie versiegenden Alkoholvorräte und die Stahlrohrsessel (ganze vier an der Zahl), mit denen er sein Atelier eingerichtet hat. Das sind Luisens Stereo-Typen.
Ha, stolz ist sie, dass sie bei einigen Debatten über das Schisma der National / Sozialisten, an dem Weimar scheitern wird, mithalten kann.
Das Ende der Fahnenstange ist hiermit allerdings lange nicht erreicht – because I heard it thru' the grapevine: HBO oder eine andere dieser sagenhaft unabhängigen amerikanischen TV-Anstalten plant eine weitere dieser sagenhaft brillanten TV-Serien, die vom Feuilleton über den grünen Klee gelobt werden. Man darf nur einmal raten, worum es sich drehen wird: richtig, um das Bauhaus vor der Folie des manichäischen Konfliktes, der die Zwanziger beherrschte wie kein zweiter.
Nun denn also, es scheint in der Literatur (siehe auch Alfred Döblin, Erich Kästner, Hans Fallada, Siegfried Lenz, Günter Grass et alii) wie im Film nur diese eine Konstellation zu existieren, anhand derer sich die Zwanziger Jahre abbilden ließen/lassen. Finden wir uns damit ab.
Und, ohne auf der Walser-Walze tanzen zu wollen, weiß Gott nicht:
Seit Blockbustern der mittleren Stunde wie Bob Fosses "Cabaret", Bertoluccis "1900" und neben Fassbinders "Berlin Alexanderplatz" in weiteren gefühlten tausend Stunden öffentlich-rechtlichen TV-Futters Made in Germany (ein Prädikat, das wir gerade en passant mit oder ohne Diesel verspielen) sind wir zum Thema so hinreichend mit laufenden Bildern versorgt worden, dass sie ihren mentalen Abdruck auf nicht nur einer Gehirnwindung hinterließen.
––––––– Nun wirklich das Ende ––––––––
Oh Zauberberg, warum kreißt du immerfort und gebierst nur noch Mäuslein?
Wie geht es weiter? Ach so, der Clou fehlt, der allem die mit Klischees und üblem Nachruf verzierte Talmi-Krone aufdrückt. Andreas Platthaus verbrämte ihn als Pointe, die er in seiner FAZ-Kritik zum Enzensberger-Roman nicht offenlegen dürfe. Oder hat er sich schlicht geschämt?
Ich traue mich zu sagen, dass das Ende des Enzensberger-Romans grob geschnitzt ist. Enzensberger und Luisen haben in der Tischlerei-Werkstatt zwar das Drechseln gelernt, doch, alas, nicht die hohe Kunst der Ebenisten.
In den Sammlungen zum Bauhaus wird bis zum heutigen Tag nur hinter vorgehaltener Hand geraunt, dass Walter Gropius, Begründer des Mythos, Werbestratege von hohen Graden, weltgerühmter Architekt des International Style, Kulturheros der BRD nicht habe zeichnen können. Dieses Manko hätte er in seiner Ausbildung, noch bei Peter Behrens, doch keinesfalls mehr nach dem Badeunfall (mit tödlichem Ausgang) seines Kompagnons Adolf Meyer verbergen können, der ein zeichnerisches Genie gewesen sei. Kaum hörbar dann die Mitteilung, dass Gropius schon zu frühester Stunde Mitglied der Reichskulturkammer war. Wie gesagt, diese Informationen werden im Bewusstsein der Schande nur im Flüsterton weitergereicht, denn das Nest zu beschmutzen, in dem man es sich gemütlich gemacht hat, kommt nicht in Frage. Letztlich verdient man sein Geld noch immer mit der einen weitreichenden Idee Gropius', diese großartige Schule gegründet zu haben.
Ehrgeizig bis zum Erblinden vor politischen Wechselfällen und Prophezeiungen (die an jeder reichsdeutschen Wand standen), nur die eigenen Aufträge im Sinn, Ambitionen, die als Turmhäuser buchstäblich in den Himmel wachsen, jaja. Der Architekt will bauen, der Maler malen undsofort.
Die Zunft der Baumeister, von jeher und bis in unsere Gegenwart unbeleckt von "Genanz" oder falscher Bescheidenheit, ist eine der Männer von wahrlich renaissancehaften Proportionen und, vielleicht, einer handverlesenen Schar von Frauen. Ihre politische Kompromissbereitschaft in der Ausübung der höchsten aller Künste, die finanziert werden muss, soll sie nicht Transparentpapier bleiben, führte und führt in Bereiche jenseits von Anstand oder gar Moral. Dass diese Geisteskolosse ein Fußvolk um sich scharen müssen zur Ausführung kleiner wie großer Aufgaben, auf denen am Ende meist nur der eine glanzvolle Name prangt, ist schreiend ungerecht – nur, lautet der Atem unserer Welt auf Gerechtigkeit? Fern liegt mir eine Apologetik von Machenschaften und Verabredungen, die kapitalistische Systeme durchziehen wie pulsierendes Aderwerk und meist milde "Konventionen" geheißen werden, um die Chose am Laufen zu halten.
Bei allem oben Gesagten – die Enzensberger-Pointe am Ende ihres Romans ist aus der untersten Kolportagerumpelkiste geklaubt. Grob zusammengezimmert wird sie dem Leser als Coup de grace angedient für alles, was das ehrwürdige Bauhaus auszeichnen sollte, aber – wir ahnen es – aus allzu menschlichen Gründen nie tat: Emanzipation beider Geschlechter, saubere Wettbewerbe, kollegialer Umgang unter Studierenden wie Meistern, null Konkurrenzgebaren, keine sexuellen Übergriffe etc.
Da erdreistet sich der Bauhaus-Direktor Walter Gropius (reale Figur) tatsächlich, Luisens exzellenten Siedlungsentwurf (fiktiv) zu stehlen und die "Blaupause" ihres Plans seiner Siedlungstruktur von Karlsruhe-Dammerstock (gebaut) zugrunde zu legen.
Pfui – und hui, denn hier zieht's gewaltig auf der Anklagebank, auf der Gropius nun endlich öffentlich und als abgefeimter Nutznießer fremden Gedankenguts, als Plagiator Platz nehmen musste, nachdem Enzensberger ihn vom notorischen Helden-Sockel gestoßen hat. Seien wir glücklich, dass wir nicht mehr hinter vorgehaltener Hand über ihn reden müssen. Blutjunge Studentinnen hat er auch verführt, der Saubazi, und alles haben sie ihm durchgehen lassen. Mit der Heimlichtuerei ist's das jetzt gewesen. –
Schade nur, dass Claudia Kromrei, Vorsitzende des Berliner Werkbundes, Enzensberger nicht ein wenig umsichtiger beraten hat. Die Siedlung Dammerstock (erbaut 1928/29) hat wie keine andere Gegner auf den Plan gerufen und – nicht zuletzt durch den Kritiker Adolf Behne angestoßen – die große Formalismus-Debatte im 20. Jahrhundert in Gang gebracht. Der Architekt denkt und der Mensch lenkt – seine Schritte nach dem Willen des Baumeisters.
Luisens Plan war offensichtlich doch nicht so doll und Gropius in seinem Ehrgeiz zu vernagelt, das zu kapieren. So ist es oft bei Leuten, die abschreiben.
Im "Nachruf" des Romans erfährt der Leser, dass Luise Schilling sich nach dieser Demütigung aufgemacht hat in das Land of the free to have a home of a brave. In der neuen Welt wird sie, so hofft die Leserschaft, schließlich ein neuer Mensch, eine Befreite geworden sein.
Nur, sie kann es nicht lassen, weibliches Nachstoßen par excellence, auch hier noch ein letzter Hieb gegen den verhassten Walter Gropius, den Erbauer "seelenloser Büroblöcke" und sein PanAm Building.
Ruhe er in Frieden!
Und lasst uns jetzt das Bauhaus feiern, wie es ihm zusteht – mit Pomp and circumstance.
Dieser Versuch eines neuen Bauhaus-Romans hätte deutlich mehr von jener Farbe verdient, mit der seine Titelfotografie zum Leuchten gebracht wurde.
Berlin, 29. Juli 2017
Fotoauge und Betrachter werden eins beim stürzenden Blick an der Fassade des Prellerhauses hinab auf die Kantinenterrasse am Dessauer Bauhaus. Die Staffelung in die Tiefe verläuft über vier Ebenen: Auf der Fotografenebene schiebt sich unverhältnismäßig groß eine Schuhkappe ins Bild. (Indiz auf das Geschlecht des Fotografen?) Eine Balkonetage tiefer halten Grazien – natürlich drei an der Zahl – ihre schönen Gesichter in den Sommerwind: Grete Reichardt, Anni Albers und Gunta Stölzl. Alle sind sie begabte junge Frauen aus der Webereiwerkstatt. Auf der Terrasse vor der Kantine, der dritten Ebene, werfen ein in die Sonne blinzelnder Studierender und der Spaßvogel Max Bill lange Schatten auf den Beton. Die nachmittägliche Sonneneinstrahlung scheidet auf einer vierten Ebene durch das schwarze Schattenband die gemauerte Balustrade von der Terrasse. Auf ihr lassen Bauhäusler beidseitig die Beine baumeln und schauen lächelnd, die Augen vor den Sonnenstrahlen schützend oder skeptisch, wie der zweite mit weißem Hemd gekleidete Mann (sich dergestalt als Studierender der Ausbauwerkstatt und künftiger Architekt ausweisend) hinauf zum Fotografen. Der angeschnittene braune Schuh ist doppelt so groß wie die unten lächelnden Menschenkinder. Die Aufnahme, ein verrücktes Figurenkabinett, das Raum und Perspektive aus den Angeln hebt, reicht die Lebensfreude, die meist am Bauhaus herrschte, ungebrochen an uns weiter. Sie allein könnte als Dispositiv für Freundschaft, das Erwachsenwerden mit all seinen Wirrnissen und Irrungen, schulischen Wettbewerb und zahllose Versprechen an die Zukunft herhalten.
Wer sich ein wenig in der Zeit und ihren Dokumenten auskennt, weiß indes sogleich, warum die Fotografie so temperamentvoll und kolossal gegenwärtig daher kommt. Im Auftrag des Hanser Verlages wurde diese eine unter ein paar hundert schwarzweißen Bauhaus-Fotografien aus den 1920er Jahren mittels eines Farbprogramms am Rechner koloriert und verlebendigt. Früher nannte man eine solche Technik, noch manuell ausgeführt, "Viragieren". Etlichen Stummfilmen wurde mit ihr vor der Erfindung des Farbfilms Leben eingehaucht … denn ist das Leben etwa nicht bunt? Selbstverständlich reicht dieses Handwerk nicht an die heutige digitale Perfektion heran. – Der Dynamik jener die Aufnahme schrägdiagonal zerteilenden Linien von Balkons und stählernen Brüstungen, von Terrasse und Balustrade nimmt die Farbe erstaunlicherweise nichts von ihrer Wucht.
Ein Argument gegen die nun schon über ein halbes Jahrhundert währende Apotheose auf das Neue Sehen und seine bahnbrechenden Möglichkeiten in der Dynamisierung von Kompositionen zwischen den nichtfarbigen Polen Schwarz und Weiß.
Die Titelfotografie wirkt so frisch, als sei sie erst gestern aufgenommen worden – und erst bei weiterem Nachdenken über das Motiv wird klar: Im Vergleich zu unserer Zeit stimmt etwas nicht. Die jungen Menschen im Jahr 1927 geben sich nicht natürlich, SIE SIND ES und deshalb auch Lichtjahre entfernt vom Posertum, das uns als pseudo-existenzielle Haltung, als "Palindrom" tagtäglich aus allen Selfies entgegenruft: Ich Bin Das! Das Bin Ich! Es fehlte diesen Leuten einfach der Faktor Coolness, der große Gleichmacher, der heutzutage Studenten, Art Directors, Künstler oder Architekten zwischen zwanzig bis vierzig plus, zwischen Wirtschaftswundern, Konsumwahn, Wissenschaftshörigkeit und WorldWideWeb ununterscheidbar macht. Das Bauhaus wusste nichts von der grotesken Über- oder kommerziellen Entindividualisierung unserer Gegenwart, war in seinen Gründungsjahren ahnungslos vom Naziterror, der schon bald die Welt umfangen sollte. Es besaß die Unschuld des Neuanfangs in einer Welt voller Verheißungen, so entbehrungsreich das tägliche Leben auch gewesen sein mag. Es war ein Hort an Möglichkeiten, umhegt von einigen der größten Visionäre und Künstler jener Jahre. Weshalb es noch nach hundert Jahren ungemein attraktiv auf uns wirkt.
Zwischen den Zivilisationsbrüchen der Weltkriege gab es bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten ganze 15 Jahre für eine fieberhafte Suche: nach neuen sinnstiftenden Zeichen und Heilsprogrammen, politischen Demarkationslinien zwischen Revolution und Reaktion und nach lebensnahen Philosophien, die den Alltag in einem Land, das geschwächt von Kriegsschulden und Inflation durch seine erste demokratische Versuchsanordnung taumelte, begreifbar machten. Das Bauhaus hat sich in den 14 Jahren seiner Existenz (1918-1933) mit Inbrunst an dieser Suche beteiligt, wollte den neuen Menschen durch seine Propädeutik des freien Lernens auf eine offene emanzipierte Gesellschaft vorbereiten – unter anderem in der Entwicklung nützlicher, gestalterisch ausgewogener und deshalb schöner Gebrauchsobjekte und Architekturen. Dass dieser Ansatz als gelungen betrachtet werden kann, davon kündet die bis heute anhaltende Faszination an der Schule, ihren Menschen und ihren Hervorbringungen. Diese ist kaum allein einer weiteren genialen Werbestrategie des Bauhaus-Gründers Walter Gropius geschuldet, seine Erfindung und ureigenste Institution in den überschaubaren Reigen kultureller Leuchtfeuer der deutschen Zwischenkriegsphase einzustellen, deren Abglanz noch die junge Bundesrepublik illuminieren sollte. Der Weimarer "Intelligenzija" hatte sich Hitler-Deutschland brutal entledigt, die Reaktion trug mit katastrophalem Furor den Sieg davon. Dieser Sieg bedeutete 1933 auch das Ende des Bauhauses, nicht so seines Ruhmes, der zu hundertsten Gründungsjubiläum 2019 mit erwartbarem Pomp and circumstance begangen werden wird.
Zu den circumstances gehören neben neuen Museumsbauten und einem Defilee von Ausstellungen und Feiern das 17 Monate vor Beginn des Jubeljahres vorgelegte Buch "Blaupause", das vom Verlag als "Campus-Roman" beworben wird. Vielleicht ein Fehler, denn es müsste in Sarkasmus enden, es mit anderen Campus-Romanen vergleichen zu wollen – wie zum Beispiel "The Secret History". An diesem fulminanten Debüt feilte die Amerikanerin Donna Tartt annähernd neun Jahre und verstand es mit ihrer so glanzvoll erzählten wie psychologisch komplexen Geschichte über ein Elite-College an der Ostküste, ihr Publikum von der ersten bis zur letzten Seite zu fesseln. Die einzelnen Charaktere sind bis zum Feinschliff ausgearbeitet, Fallstricke werden immer enger geknüpft, bis die klaustrophobische Atmosphäre im winterlichen Vermont Protagonisten wie Lesern gleichermaßen die Luft abschnürt. In einer raffiniert eingezogenen Metaebene werden die in Philosophie-Seminaren verhandelten Fragen über Schuld, Sühne und Moral zum Lackmustest für die Vergehen und Haltungen der Studenten.
Aber wie gesagt, es wäre unredlich, den Vergleich mit einem deutlich umfangreicheren Werk aus den späten 1980ern zu suchen.
Bei allem Respekt und großer Bewunderung vor dem Mut, einen Bauhaus-Roman verfassen zu wollen, finde ich: Theresia Enzensberger hat es sich zu einfach gemacht.
Die Geschichte ihrer Heldin Luise Schilling, die als Ich-Erzählerin das Bauhaus besucht – dazu Liebesaffären mit Kommilitonen durchleidet, Freundschaften eingeht und Eifersüchteleien mit Frauen wie Männern ausficht – verharrt im gefühlsstarren Niemandsland eines "Coming of Age", dessen vorhersehbare Entwicklungsschritte auch an beliebigen anderen Orten der Weimarer Republik hätten vollzogen werden können, hier einige Beispiele: Luise Schilling als kleine Abteilungsdirektrice im KaDeWe; die Freundin und Beraterin von bald weltberühmten Künstlern im Dresdner Kunsthandel; oder in Potsdam zur Lektorin im Kiepenheuer Verlag befördert, der damals alle anzog, die literarisch Rang und Namen hatten oder in Kürze haben sollten.
Die Wahl Enzensbergers fiel jedoch auf das inzwischen in mythische Dimensionen aufgestiegene Bauhaus – dessen erste expressionistisch-sektiererische Station in Weimar und das bereits konzeptuell der Industrie zuarbeitende Dessauer Institut.
Die Autorin interessiert sich eigentlich gar nicht für die Schule, ihre Leistungen, ihre politischen Klimmzüge und Menschen. Auf Grundlage einer umfangreich dokumentierten Bauhaushistorie hätte über beide Orte unendlich fabuliert werden können. Die eingangs beschriebene Fotografie liefert wie zahllose weitere ein anschauliches Bild von Leben und Arbeit der Studierenden wie der Meister. Doch erfährt der Leser so gut wie nichts über die beiden Provinzstädte, weniger noch über Alltag und Lebenswelt der Weimarer Gesellschaft.
So schablonenhaft wie Gropius' Direktorenzimmer, die Schulgebäude, Weberei und Tischlerei, studentische Ateliers, das Tempelherrenhaus im Ilm-Park zu Weimar, Kneipen oder das elterliche Heim geschildert werden, wird das Bauhaus-Personal vorgeführt: ein gedanklich stets abwesender Direktor Gropius; der arrogante, unnahbare Johannes Itten; Paul Klee mit seinen dunkel umflorten, "melancholischen" Augen; der "pfauenhafte" Herbert Bayer; Hannes Meyer und Alcar Rudelt, streng über die Baulehre gebietend, und wenige andere mehr im Nebensatz erwähnte Meister. Keiner erhielte eine Kontur, die aus ihnen mehr machte als Pappsoldaten, die zum Szenarium gehören und pflichtschuldigst Erwähnung finden müssen.
Nun zeugt es bekanntermaßen von hoher Kunstfertigkeit, Persönlichkeiten der Zeitgeschichte so lebendig in einen fiktiven Text einzubinden, dass ihnen zum einen historische Gerechtigkeit widerführe und zum anderen Überzeichnungen vermieden würden. Es in einem Roman über das Bauhaus erst gar nicht zu versuchen, ist schon ein starkes Stück an unterlassener Fabulierlust und vorenthaltener Lesefreude!
Desgleichen finden Resultate aus Diskussionen, endlosen Experimenten und, wie anders, aus sprichwörtlichem Schweiß und Tränen wenig Beachtung. Es ist die Rede von all den schönen Dingen, die es damals erstmalig gab – und heute aus gutem Grund noch immer. Nicht eines der Objekte, die unser Bild vom Bauhaus prägen, strahlte atmosphärisch, erhielte seinen Platz in einem noch so kleinen gestalt-philosophischen Diskurs oder gar Symbolkraft für diese einzigartige Schule. Die Autorin verzichtet neben all dem Herzschmerz von Adoleszenz, familiären Abnabelungskämpfen und ökonomischen Zwängen darauf, das Bauhaus, das sie zur Kulisse ihres Entwicklungsromans erkoren hat, als Nukleus moderner Lebensformen und Gestaltung zu beschreiben. Exakt an diesem Schnittpunkt von Ideensuche und Experiment, harter Arbeit und Wohnen in der Lehranstalt entstanden jedoch neue soziale Verhaltensweisen und Modelle für die Zukunft!
Aber ja, sie sind vorhanden: der gelbe Sessel und der überwältigende Schreibtisch in Gropius' Büros, Ittens "Turm des Feuers", Farbleitsysteme in den Schulfluren, rätselhafte Vorkursarbeiten, ein handwerklicher Denkfehler im Treppenhaus der Villa Sommerfeld, die helldunkle Farbgebung des Toilettentischchens für das Haus am Horn, die auf konstruktiven Überlegungen beruht. Aber diese Dinge lagern in den eigenartig unmöblierten Räumen des Romans wie fremde Wesen, ungeerdet.
Gefragt, wie sie eine Arbeit fände, erwidert Luise Schilling: "Was weiß ich schon. Ich bin keine Künstlerin." Genau das ist der Punkt, denn eigentlich steht sie mitten drin, möchte mitmischen. Nur die im besten Fall gleichgültige Verwunderung über das Treiben um sie herum markiert ihre Rolle als das Bauhaus von außen Betrachtende, der aber bedauerlicherweise das Brio fehlt, eine Begeisterung für die Sache, die wir auf der zu Beginn beschriebenen Fotografie spüren können.
Da wirkt es unfreiwillig komisch, dass Luise ihren Willen, in der Tischlerei statt in der Weberei wie die anderen Frauen zu lernen, einer Holzkugel aufoktroyieren möchte, die unter ihren Händen kleiner und kleiner wird. Wurde hier eine Metapher für das Verschwinden der Objekte gefunden, der Verlust an Materie gekennzeichnet? Oder sollte dies ein griffiges Bild für Luisens Machtlosigkeit sowie der weiblichen Studierenden am Bauhaus sein?
Enzensbergers Erzählperspektive lässt Luise Schilling in der Ich-Form von ihren Beobachtungen, Ängsten, Gefühlen berichten. Dieser Kunstgriff kann situative Beschreibungen oder emotionale Zustände intensivieren, da er eine größere Lesernähe zur/m Protagonistin/en hergestellt. Hinter der Distanzlosigkeit des Ich-Erzählers zu seinem eigenen Tun und Handeln kann die zentrale Figur aber mitunter auch verschwinden. Luise eilt durch kurze Szenarien, begegnet Leuten, feiert mit ihnen, führt Gespräche, gibt sich ihren Liebhabern hin, doch letztlich bleibt sie als Frau blass – gesichts- und fleischlos. Der Leser wird mit ihr nicht warm, empfindet kaum mit ihr, noch nicht einmal dann, als sie von ihrem Freund Hermann übel misshandelt wird. Sie ist das leere Zentrum eines Romans, das Frauen-Klischees der Zwanziger Jahre zu transportieren hat: von der Emanzipierung bis hin zu einer beruflichen Selbstständigkeit. Es gibt einige wenige rührende Momente von Hilfsbereitschaft und Zugewandtheit, unter den Freunden, zumal den Schwulen oder von Seiten jüdischer Kommilitonen. Doch eigentlich sind sie alle Einzelkämpfer, selbstbezogene "Ichlinge", kalte Fische. Die Gruppendynamik des Itten-Kreises, Werkstätten und Schulbetrieb sowie die Wettbewerbe unter den Studierenden sind Stationen einer Transgression, um bei sich und den ureigenen Interessen zu landen. Nicht mehr, aber vielleicht doch weniger. Man wird das schale Gefühl nicht los, dass hier vor der Staffage des Bauhauses die Ichmonster der Jetztzeit vorgestellt werden, von denen eingangs schon als Selfisten die Rede war. Doch Funktionen Romane unter anderem über Identifikationsangebote an den Leser.
Es ist kein Salz in den Tränen der Luise.
Der Enzensberger-Roman bedient sich als narrativer Grundstruktur jenes Konfliktes, dessen sich alle bedienen, die die Zwanziger Jahre auf griffige Formeln, gängige Klischees und mittlerweile allseits bekannte Motive herunterbrechen: die Dämmerung des Nationalsozialismus vor der zunehmend verzweifelt werdenden Gegenwehr linksliberaler oder kommunistischer Verbindungen. Das ist nicht ehrenrührig, aber es ist eben auch nicht sonderlich originell:
Der erste Roman, "Bauhausfest mit Truxa", des waschechten Bauhäuslers Egon H. Rakette (hier wird mit allem Recht der Zeitzeugenschaft die Ich-Form angewendet) muss diesen politischen Konflikt, der seit dem Direktoratsantritt von Hannes Meyer, einem erklärten Sozialisten und streitbaren Zeitgenossen, ab 1928 immer stärker schwelte, zwangsläufig zugrundelegen. Rakette war Studierender der letzten anderthalb Schuljahre bis zur Selbstaufgabe des Bauhauses auf Druck der Nazis unter seinem dritten Direktor Ludwig Mies van der Rohe. Durchgängig von Berliner Mutterwitz getragen und pfiffig geschrieben, verwendet das Buch noch den authentischen Jargon jener Jahre – soweit unsereiner das beurteilen kann. Mit Anfang zwanzig 1932/33 am Bauhaus eingeschrieben, war Rakette bei Romanerscheinen im Jahr 1973 vielleicht Mitte sechzig. Da sollte jemand noch seinen Bregen kontrollieren können und sich ganz gut zurückerinnern.
Vierzig Jahre später, 2013, publiziert der Journalist Andreas Hilger seinen Bauhaus-Roman "Gläserne Zeit". Hier erneut oben zitierter Konflikt, doch wagt es Hilger, die Bauhaus-Objekte zu beseelen, schafft gelungene Szenen, gar Dialoge mit Meister Klee, bindet wie Rakette die Unterschicht mit ihren wirtschaftlichen Nöten sinnfällig ein in die Dramaturgie seines Buches, das auf weiten Strecken aus der Perspektive des Proletariats erzählt wird.
Und jetzt, dem Jubiläum nahe, der dritte Bauhaus-Roman – von Theresia Enzensberger! In Format, Länge und Ausstattung, von vergleichbaren Titelfotos zu schweigen, ähnelt er Hilgers Buch, wie eineiige Zwillinge sich nun mal ähneln.
Das ist selten; geschah es rein zufällig?
Luise brennt natürlich schon ein wenig, hat viel Freud am Ziel, mit erfolgreich absolvierter Ausbildung zur Architektin den Vater und ihren Widerling von Bruder zu desavouieren, die beide von Frauen weniger als nichts halten. Befreien kann sie sich von ihrem Penis-Neid (ja, Entschuldigung) auf keiner Seite des Buches. Verfällt sie im Weimar-Teil einem hübschen Itten-Adepten, den es eher in Ittens Klausnerei auf den Zürcher Herrliberg als zu ihr ins Bett zieht, so rafft sie bis zum bitteren Dessauer Ende nicht, im Geliebten Herrmann den Proto-Faschisten zu entlarven, bewundert stattdessen seine Chuzpe (!), die nie versiegenden Alkoholvorräte und die Stahlrohrsessel (ganze vier an der Zahl), mit denen er sein Atelier eingerichtet hat. Das sind Luisens Stereo-Typen.
Ha, stolz ist sie, dass sie bei einigen Debatten über das Schisma der National / Sozialisten, an dem Weimar scheitern wird, mithalten kann.
Das Ende der Fahnenstange ist hiermit allerdings lange nicht erreicht – because I heard it thru' the grapevine: HBO oder eine andere dieser sagenhaft unabhängigen amerikanischen TV-Anstalten plant eine weitere dieser sagenhaft brillanten TV-Serien, die vom Feuilleton über den grünen Klee gelobt werden. Man darf nur einmal raten, worum es sich drehen wird: richtig, um das Bauhaus vor der Folie des manichäischen Konfliktes, der die Zwanziger beherrschte wie kein zweiter.
Nun denn also, es scheint in der Literatur (siehe auch Alfred Döblin, Erich Kästner, Hans Fallada, Siegfried Lenz, Günter Grass et alii) wie im Film nur diese eine Konstellation zu existieren, anhand derer sich die Zwanziger Jahre abbilden ließen/lassen. Finden wir uns damit ab.
Und, ohne auf der Walser-Walze tanzen zu wollen, weiß Gott nicht:
Seit Blockbustern der mittleren Stunde wie Bob Fosses "Cabaret", Bertoluccis "1900" und neben Fassbinders "Berlin Alexanderplatz" in weiteren gefühlten tausend Stunden öffentlich-rechtlichen TV-Futters Made in Germany (ein Prädikat, das wir gerade en passant mit oder ohne Diesel verspielen) sind wir zum Thema so hinreichend mit laufenden Bildern versorgt worden, dass sie ihren mentalen Abdruck auf nicht nur einer Gehirnwindung hinterließen.
––––––– Nun wirklich das Ende ––––––––
Oh Zauberberg, warum kreißt du immerfort und gebierst nur noch Mäuslein?
Wie geht es weiter? Ach so, der Clou fehlt, der allem die mit Klischees und üblem Nachruf verzierte Talmi-Krone aufdrückt. Andreas Platthaus verbrämte ihn als Pointe, die er in seiner FAZ-Kritik zum Enzensberger-Roman nicht offenlegen dürfe. Oder hat er sich schlicht geschämt?
Ich traue mich zu sagen, dass das Ende des Enzensberger-Romans grob geschnitzt ist. Enzensberger und Luisen haben in der Tischlerei-Werkstatt zwar das Drechseln gelernt, doch, alas, nicht die hohe Kunst der Ebenisten.
In den Sammlungen zum Bauhaus wird bis zum heutigen Tag nur hinter vorgehaltener Hand geraunt, dass Walter Gropius, Begründer des Mythos, Werbestratege von hohen Graden, weltgerühmter Architekt des International Style, Kulturheros der BRD nicht habe zeichnen können. Dieses Manko hätte er in seiner Ausbildung, noch bei Peter Behrens, doch keinesfalls mehr nach dem Badeunfall (mit tödlichem Ausgang) seines Kompagnons Adolf Meyer verbergen können, der ein zeichnerisches Genie gewesen sei. Kaum hörbar dann die Mitteilung, dass Gropius schon zu frühester Stunde Mitglied der Reichskulturkammer war. Wie gesagt, diese Informationen werden im Bewusstsein der Schande nur im Flüsterton weitergereicht, denn das Nest zu beschmutzen, in dem man es sich gemütlich gemacht hat, kommt nicht in Frage. Letztlich verdient man sein Geld noch immer mit der einen weitreichenden Idee Gropius', diese großartige Schule gegründet zu haben.
Ehrgeizig bis zum Erblinden vor politischen Wechselfällen und Prophezeiungen (die an jeder reichsdeutschen Wand standen), nur die eigenen Aufträge im Sinn, Ambitionen, die als Turmhäuser buchstäblich in den Himmel wachsen, jaja. Der Architekt will bauen, der Maler malen undsofort.
Die Zunft der Baumeister, von jeher und bis in unsere Gegenwart unbeleckt von "Genanz" oder falscher Bescheidenheit, ist eine der Männer von wahrlich renaissancehaften Proportionen und, vielleicht, einer handverlesenen Schar von Frauen. Ihre politische Kompromissbereitschaft in der Ausübung der höchsten aller Künste, die finanziert werden muss, soll sie nicht Transparentpapier bleiben, führte und führt in Bereiche jenseits von Anstand oder gar Moral. Dass diese Geisteskolosse ein Fußvolk um sich scharen müssen zur Ausführung kleiner wie großer Aufgaben, auf denen am Ende meist nur der eine glanzvolle Name prangt, ist schreiend ungerecht – nur, lautet der Atem unserer Welt auf Gerechtigkeit? Fern liegt mir eine Apologetik von Machenschaften und Verabredungen, die kapitalistische Systeme durchziehen wie pulsierendes Aderwerk und meist milde "Konventionen" geheißen werden, um die Chose am Laufen zu halten.
Bei allem oben Gesagten – die Enzensberger-Pointe am Ende ihres Romans ist aus der untersten Kolportagerumpelkiste geklaubt. Grob zusammengezimmert wird sie dem Leser als Coup de grace angedient für alles, was das ehrwürdige Bauhaus auszeichnen sollte, aber – wir ahnen es – aus allzu menschlichen Gründen nie tat: Emanzipation beider Geschlechter, saubere Wettbewerbe, kollegialer Umgang unter Studierenden wie Meistern, null Konkurrenzgebaren, keine sexuellen Übergriffe etc.
Da erdreistet sich der Bauhaus-Direktor Walter Gropius (reale Figur) tatsächlich, Luisens exzellenten Siedlungsentwurf (fiktiv) zu stehlen und die "Blaupause" ihres Plans seiner Siedlungstruktur von Karlsruhe-Dammerstock (gebaut) zugrunde zu legen.
Pfui – und hui, denn hier zieht's gewaltig auf der Anklagebank, auf der Gropius nun endlich öffentlich und als abgefeimter Nutznießer fremden Gedankenguts, als Plagiator Platz nehmen musste, nachdem Enzensberger ihn vom notorischen Helden-Sockel gestoßen hat. Seien wir glücklich, dass wir nicht mehr hinter vorgehaltener Hand über ihn reden müssen. Blutjunge Studentinnen hat er auch verführt, der Saubazi, und alles haben sie ihm durchgehen lassen. Mit der Heimlichtuerei ist's das jetzt gewesen. –
Schade nur, dass Claudia Kromrei, Vorsitzende des Berliner Werkbundes, Enzensberger nicht ein wenig umsichtiger beraten hat. Die Siedlung Dammerstock (erbaut 1928/29) hat wie keine andere Gegner auf den Plan gerufen und – nicht zuletzt durch den Kritiker Adolf Behne angestoßen – die große Formalismus-Debatte im 20. Jahrhundert in Gang gebracht. Der Architekt denkt und der Mensch lenkt – seine Schritte nach dem Willen des Baumeisters.
Luisens Plan war offensichtlich doch nicht so doll und Gropius in seinem Ehrgeiz zu vernagelt, das zu kapieren. So ist es oft bei Leuten, die abschreiben.
Im "Nachruf" des Romans erfährt der Leser, dass Luise Schilling sich nach dieser Demütigung aufgemacht hat in das Land of the free to have a home of a brave. In der neuen Welt wird sie, so hofft die Leserschaft, schließlich ein neuer Mensch, eine Befreite geworden sein.
Nur, sie kann es nicht lassen, weibliches Nachstoßen par excellence, auch hier noch ein letzter Hieb gegen den verhassten Walter Gropius, den Erbauer "seelenloser Büroblöcke" und sein PanAm Building.
Ruhe er in Frieden!
Und lasst uns jetzt das Bauhaus feiern, wie es ihm zusteht – mit Pomp and circumstance.
Dieser Versuch eines neuen Bauhaus-Romans hätte deutlich mehr von jener Farbe verdient, mit der seine Titelfotografie zum Leuchten gebracht wurde.
Berlin, 29. Juli 2017
Dienstag, 27. Juni 2017
England im Mai 2017
Made in England oder als Pathosformel:
Diese Narbe (= scar) unserer Sehnsucht bleibt ewig unverschlossen
Sei wie ein Hase – beweglich, behende, immer auf der Hut. Das Hakenschlagen bewies sich bislang als lebensrettend: 2005 war es knapp, denn nur zwei Tage nach den Attentaten auf Busse und Bahnen traf ich am 9. Juli in London ein. Zischler hatte mich beauftragt, am British Film Institute über ein Kinoprogramm zu recherchieren, das James Joyce lange vor seinem Weltruhm in Dublin zusammengestellt hatte.
Anfang Mai 2017 waren wir glücklich 26 Tage zu früh unterwegs. Wollten wir doch eben jene Brücke überqueren, die am 3. Juni zum aleatorischen Tatort der Gotteskämpfer wurde – ja, richtig, sie würfeln die Plätze für ihre Massaker aus! –, um die Privatsammlung eines obercleveren Produzenten zu besichtigen, dessen eigentliches Gesamtkunstwerk sich in der Nachschau als punktgenaue Bespielung kapitalistischer Marktmechanismen erweisen wird:
"My dear, first, I will quench your thirst 'cause I'm THE Hirst! Second, as you might reckon, I'm the market's prime, fuck the sublime asf."
It's such a peek-a-boo trade. – Hirst as the worst case of contemporary art!
Doch dies ist ein anderes Feld, und wir schafften es aus Zeitgründen ohnehin nicht über die Brücke ans Südufer der Themse nach Lambeth, wo Damien Hirst vor einigen Jahren in ausrangierten Fabrikhallen ein Privatmuseum eröffnet hat.
Aber immer der Reihe nach.
Die Initialen sind dieselben, nur verbirgt sich hinter ihnen diesmal eine ganze Milchstraße an künstlerischen Möglichkeiten: David Hockney und sein Werk waren Dreh- und Angelpunkt unserer Reise nach England. Vom Angeln reden, heißt vom Ködern fachsimpeln: Wir "köderten" mit unseren nicht enden wollenden Elogen auf Hockney und sein grandioses Spätwerk Familie Asendorf-Moser, uns zu begleiten, zumindest nach London, um dort an einem der letzten Wochenenden die Hockney-Schau in der Tate Britain zu besuchen. Von den appellativen Befreiungsschlägen der frühen 1960er bis hin zu den digitalen Farbexplosionen der Smartphone- und Tabletmalereien der Gegenwart beherrscht Hockney sämtliche Register der modernen Malerei. Die Schau, trotz Zeitfenster-Reglements schon morgens mit regem Zulauf gesegnet, spannte den Bogen seines über sechzig Jahre alten Oeuvres. Einem animierten Publikum wurden die beiden Hauptinteressen Hockneys bei schöner Hängung und Farbgebung der Säle anschaulich gemacht: die FARBEN und der Lauf der ZEIT.
Während das Farbspektrum von erdigen, verhaltenen Tönen im Frühwerk mit der ersten kalifornischen Periode aufbricht und über die Pastelltöne seiner Pop Art-Porträts zu den mitreißenden Farbspektakeln der letzten drei Jahrzehnte findet, bahnt sich der Faktor Zeit als zu bearbeitendes Problem langsamer seinen Weg in Hockneys Kunst.
Seine Pool-Gemälde lassen sich als "freeze frames" lesen, die Hogarth-Scharaden breiten sich als Memories zur Raumzeit vor dem Betrachter aus. Und ist nicht jede Porträtserie per se eine malerische Umsetzung der Zeitraffer-Technik? Hockney ist ein großer Zeichner und Beobachter feinster mimischer Abweichungen, dem mit wenigen Strichen anrührende Persönlichkeitsstudien gelingen – von der Mutter, von Lebenspartnern oder intimen Freunden. Er selber bezeichnet die Porträts in Öl genau anders herum als "Langzeitbelichtungen", die eine zuvor festgesetzte Produktionszeit nicht überschreiten dürften. Seine großen Polaroid-Collagen sind Gefäße, die die vergehende Zeit im Sekundentakt speichern und führen in gerader Linie zu den metaphysischen Bilderbögen über den Wandel der Natur durch die Jahreszeiten.
Es gibt vermutlich keinen zweiten lebenden Künstler, der seit den 1980ern neue Medien wie Computer, Faxgerät und andere Apparate zur Kommunikation so konsequent genutzt und den eigenen künstlerischen Ausdruck um deren Bildgebungsverfahren bereichert hat. (Fotografie und Film müssen hier zu den althergebrachten konventionellen Techniken gezählt werden.)
Welch' wunderbare Geste! Seine Freunde erhalten morgens einen Blumenstrauß oder ein Stilleben über das Smartphone! Der Meister beginnt täglich um neun Uhr mit der Arbeit, sieben Tage die Woche. Hockney braucht keine Rast, er lebt in der Gegenwart und schaut nach vorn. Lediglich das "Don't drive drunk" erweitert er für sich zum "No drugs while working, except for nicotine".
(In England wurden mir Streichholzschachteln für ein knappes Pfund angeboten. "Thank you, but no, thank you." Die Zigaretten hatte ich für Notfälle im Gepäck, habe aber keine einzige angezündet. Auch um der Peinlichkeit zu entrinnen, mit anderen Touristen qualmend vor Hotelportalen zu stehen, in deren Blumenkästen Schilder folgenden Inhalts steckten: "We are no ashtrays!")
Wir hatten eine Stippvisite in Bridlington geplant, für die vergangenen fünfzehn Jahre Hockneys Wohn- und Arbeitsort an Yorkshires Nordseeküste. Doch schon am Ankunftstag erfuhren wir von Sandra und Dominic, einer schönen Zufallsbekanntschaft im Design-Museum an der Kensington South, dass er 2016 aus gesundheitlichen Gründen zurück nach Los Angeles gegangen sei.
Kensington war für zweieinhalb Tage unser Londoner "Kiez". Beate Moser und Christoph Asendorf schlugen das K & K Hotel unweit der Piccadilly Line vor – mit der Underground Station Earl's Court (zur Tube wird sie erst zwei Stationen später). Eine wunderbare Empfehlung, denn mit dieser Linie reist der Tourist von Heathrow "without change" direkt in den Citybereich, steigt aus und ist in wenigen Gehminuten in einer dieser traumverlorenen, weiß lackierten Wohnstraßen, deren Höfe zu sich parkähnlichen Anlagen öffnen und die vielen (geldsatten) Boroughs in London den Charme von Gartenstädten verleihen.
Unser viktorianisches Hotel besaß eine gepflegte Anlage. Dank des milden Seeklimas in Südengland gedeihten hier wie an vielen Orten im reichen London Palmengewächse und andere Exoten. Daneben blühten Flieder, Rosen, Pelargonien, Wisteria sowie einige Azaleen- und Rhododendrongewächse. Die weißen und rosaroten Kerzen der Kastanien leuchteten verschwenderisch durch das dichte Grün. Eine mir unbekannte strauchartige, mit enzianblauen Dolden besetzte Pflanze schmückte nicht nur unsere Anlage, sondern ganz Kensington mit ihrer überschäumenden Pracht. Die Hotelgärtnerin schrieb deren Namen in mein Notizbuch: Ceanothus, die Säckelblume, ein immergrünes botanisches Zauberwesen. Da war sie – die blaue Blume der Romantik! Wir fanden sie in unserer Hotelkette, einer spätkapitalistischen Exklave von Habsburger Entrepreneuren.
Das "My home is my castle" ließe sich spielend auf ein "And my garden is my kingdom" erweitern, denn der Brite ist vor jeder anderen Berufung tief in seinem Herzen Gärtner – wie angesichts großartig konzipierter Anlagen vor Privathäusern oder Hotels neidlos zu attestieren war ... das Wetter, natürlich, gibt es doch in diesem Land den ersten und den letzten Gesprächsstoff her: Es war kaum der Rede wert, besser noch, es war ideal! Frühlingshaft warme Stunden des Nachmittags, einige wenige Sprühregentropfen, die Abende und Morgenstunden eher kühl und die Nächte ebenso wie die Matratzen in eigentlich allen Hotels – unserem Erschöpfungsschlaf zuträglich.
Kulinarisch wurde indessen entschieden dazu gelernt. Hatte schon das Vielvölkergemisch des Commonwealth die fragwürdigen Essgewohnheiten der vereinigten Königstreuen aufs Wunderbarste bereichert, so gelang es der amerikanischen HippieHipsterküche in den vergangenen zwanzig, dreißig Jahren klammheimlich, englische Restaurantküchen zu transfundieren. Junge Leute interessieren sich zwar mehrheitlich kaum noch für Politik, aber sie lassen sich trotzdem nicht alles vorsetzen. Natürlich ist auch das ein politisches Statement. Hängen nicht unendlich viele grüne Themen am Essen? An seinen Zutaten, an der Tierhaltung, an Pestiziden, einer nachhaltigen Landwirtschaft, Lebensmitteltransporten, an fatalen Nahrungsketten, an Ozeanen und am All – gemeinen Schindluder, das wir mit unserer Erde treiben? Dennoch testeten wir hiervon nur wenig. (Selbst Bill Wymans Steakhouse-Kette ließen wir links liegen.)
London war immer teuer, und der Rubel rollt bekanntlich rascher in Restaurants und Geschäfte als ins eigene Portemonnaie. Wir Barbaren von der eurasischen Kontinentalplatte beteiligten uns lieber an der weiteren Überfischung der Nordsee und frönten fast ausschließlich dem englischen Nationalgericht: "fish and chips" in allen Salzwasser-Varianten und Kartoffelsorten, die der heimische Markt hergab –und das ohne einen Hauch schlechten Gewissens. Kurzerhand veränderten wir die Präposition der Pompadour und sagten "hinter uns die Sintflut", nämlich jene, welche vor einigen hunderttausend Jahren das Kreidegebirge zwischen Calais und Dover mit ihren ungeheuren Wassermassen aus schmelzenden Gletschern ausspülte und die Insel abtrennte vom Festland. Unendliche Marschen, das Doggerland, erleichterten noch lange danach die Besiedlung vom Festland aus. Erst seit einem entwicklungsgeschichtlichen Atemzug von circa achttausend Jahren ist das Albion vollends meerumspült. Was schließlich jenen sagenhaften Wesenszug unserer Verwandten zu Tage förderte, den sie selber später als "spleen" bezeichneten und einem Zustand der gewollten Abschottung (alles nördlich des Hadrianswalls, alles außerhalb der Küsten) dienlich war, den sie mit "splendid isolation" glorifizierten.
Eigentlich gehören wir also zusammen, essen, was Meere und Flüsse, Wälder und Weiden den Germanen spenden; sprechen bis heute von Neuburg am Inn bis Newcastle-upon-Thyne in den westgermanischen Dialekten der indoeuropäischen Sprachfamilie; die von uns Deutschen hochverehrte Queen ist ohnehin durch die Sachsen-Coburg-Gotha-Linie teutscher Abstammung – und sind uns doch innigst fremd ... aber auch irgendwie sympathisch. Spätestens seit Berlin nicht mehr Frontstadt sein muss und jeden anlockt, der sich hier amüsieren möchte – na ja, präziser: spätestens seit Willi II seine Cousins auf der Insel nicht mehr mit seinen Marine-Ambitionen nervt und das Reich statt 1000 nur 12 Jahre währte.
Warum sie nun wieder isoliert sein wollen – denn mit allem, nur nicht mit "splendid" möchte man die Situation der Insulaner seit Queen Victorias Tod beschreiben – ist unbegreiflich. Und ihr Hauptargument, die Insel sei zu klein, ist "arrant nonsense".
Hoffentlich kommen sie noch zur Besinnung.
London konnte für uns in der Kürze unseres Aufenthaltes nur the City of London sein. Die Liste der Auslassungen würde kein Ende nehmen – um nur einige zu nennen: die Docklands und der neue Economy District mit seinen Wolkenkratzern sind nach wie vor terra incognita; ein Ausflug nach Greenwich – wie verführerisch auch immer – hätte die Zeitpläne von uns Vieren gesprengt; neue Viertel südlich der Themse wurden, wie eingangs erwähnt, auch noch nicht erobert.
Doch schafften wir als Ouvertüre zur Hockney-Schau "The American Dream. Pop to the Present" im British Museum, dazu Besuche im Victoria & Albert und in der Royal Academy. Zum Bedauern unserer Freunde reichte die Kraft nicht für eine gemeinsame Grand Tour durch die National Gallery – das nächste Mal!
Die Stadt ist wunderschön, abseits des inzwischen monströsen Massentourismus und seiner Trampelpfade, in ihren unbekannteren Museen, Kirchen und Parks, den beschaulichen Mews oder luxuriösen Wohnstraßen – gleichviel ob georgianisch, viktorianisch oder edwardianisch – lässt es sich träumen von anderen Leben, Berufen oder Schicksalsbahnen.
"Ohne Geld läuft nüscht!" In London läuft diesbezüglich deutlich weniger noch als in Berlin, wo sich Lebenshungrige auch 2017 mit bescheidenen Einkünften über Wasser halten können. London hat sein Prekariat weit hinaus in die "outskirts" der Metropole verbannt* (siehe letzte Seite), die man zwischen den Außenposten der Underground aufsuchen müsste, um das Elend von Wohnkasernen und verwahrlosten Reihenhäusern zu entdecken. Aber das macht kein Reisender. Unsere längste Tube-Strecke führte nach Camden Town – vor 20 Jahren ein kunterbuntes Sammelbecken für Künstler, Freaks, Studenten; heute eine abgewrackte Zone von Ramschflohmärkten und Terrassenpubs: Ballermann in London.
Natürlich hat sich die Stadt verändert und selbstverständlich nicht immer zu ihrem Vorteil. Sie ist sauberer geworden, nur besitzt London heute genau jenen abziehbildhaften Glanz all der anderen Sehnsuchtsorte, die man in seinem Leben bereist hat. Wie New York, Paris, Rom, Madrid oder Tokyo präsentiert auch sie an ihren Hauptstraßen den steril-austauschbaren Chic unserer Konsum-Ära. Filmbuchhandlungen in London sind ausgestorben, kleine Läden verschwunden, private Händler aus dem Stadtbild getilgt; und damit auch die Überraschungsmomente, welche einen Besuch in der City zuweilen aufregend machten. In das Apple-Office Building an der 3, Savile Row (nein, es ist nicht der Computer-Gigant gemeint) ist das Kindersortiment von Abercrombie & Fitch eingezogen. (Wenigstens zollen sie meinen vier Helden in einigen Ausstellungskästen einen bescheidenen Tribut.)
Weltweit dieselben Einkaufsketten, Reklame, in der nur die Schriftzeichen ausgetauscht werden; debiles, absolut sinnentleertes TV-Serienfutter in der Hotelglotze; die immer gleichen Klone – Photoshop-generiert oder genormt in Schönheitsfabriken. Die in Demokratien verpönte politische Gleichschaltung hat sich einen ästhetischen Ersatz gesucht.
Der Diversität und Multinationalität preisende Westen giert im Grunde nach Verpuppung und Uniformität. Ein neues Zeitalter des "global streamlining" hat begonnen, obwohl die Lippenbekenntnisse der Politiker und Werber beharrlich anders lauten. Nach den Gesichtsoperationen nun die Zurichtungen der Körper. Alle wollen Beyoncé sein: formschön, kurvig und rasend schnell. Der mephistophelische Bund zwischen Kultur und Kommerz funktioniert nirgends reibungsloser als im globalen Netz von Kosmetik- und Textilindustrie. Man muss die Dicken, und es werden immer mehr, beinahe für ihren Mut bewundern, der Einheitsästhetik schlicht und ergreifend Masse entgegenzusetzen. Aber wir wissen, dass dies mehrheitlich kaum aus rebellischem Elan geschieht. Längst wurde nachgewiesen, dass Adipositas ein Armutsvehikel ist.
Und je weiter wir uns von London entfernten, desto größer wurde der Kreis der Fettleibigen. Raststätten-Besuche sind offensichtlich für viele englische Familien das einzige Wochenendvergnügen. Hier verlassen die "big mamas" schon gar nicht mehr ihre PKWs, sondern bekommen den Triple-Burger von den Kindern hinter das Lenkrad gereicht. Das Mahl wird abgerundet durch eine Zigarette, derweil die Enkel auf der Rückbank tollen.
Oxford bietet das Gegenmodell – doch wieder nur für die Betuchten, was gar nicht mehr erwähnt werden muss. In angloamerikanischen Ländern existiert eine enge Verzahnung von Bildung und Sport. Teilnahme an letzterem ist in den Colleges obligatorisch, und kann in den USA sogar die Noten beeinflussen. Der Wettstreit unter den Oxforder Einrichtungen – viele von ihnen Gründungen aus der Renaissance – ist hart, und spätestens in den collegeeigenen Sportclubs werden Seilschaften für ein Leben in der Politik oder Hochfinanz geknüpft.
Der legendärste Kampf wird seit dem 19. Jahrhundert zwischen den Elite-Unis Cambridge und Oxford ausgefochten: Dromologie-Schlachten zu Wasser, mit Ruderblättern als Waffen und einem erbitterten Ehrgeiz, den sich viele Professoren – darunter unser Freund Paul Betts, der glücklich vor vier Jahren einen Ruf ans St. Antony's College erhielt – auch in die Studierstuben wünschten. Oxford hat hier den Heimvorteil des "großen" Flusses, denn trainiert wird auf der Themse, mit der das Flüsschen Cam bei der Konkurrenz nicht mithalten kann. Unser abendlicher Themse-Spaziergang zum hübschen Reihenhaus von Paul und Sylvie, das sich bei Besichtigung zu erstaunlicher Größe entfaltete, war erfüllt von den Rufen der Steuermänner und -frauen. Die Vorbereitungen für die Ruder-Regatta zwischen "Oxbridge und Camford" liefen auf Hochtouren, während links und rechts von uns auf dem Uferweg Jogger und Radfahrer vorbeijagten. Sport ist offensichtlich nach den Vorlesungen als körperliche Ertüchtigung angesagt und weniger als Spaß.
Wir wohnten malerisch, wenn auch recht laut in einer kleinen umgebauten Fabrik direkt an der Themse vor einem der Tore zur Altstadt. Oxford ist wie die meisten englischen Städte seiner Größe (ca. 150.000 Einwohner) und kulturellen Bedeutung prächtig erhalten. (Hitler-Deutschland gelang es "nur" einen Ort auszulöschen, und das war Coventry.) Die Kirchen, Burgen, Patrizierhäuser und Parkanlagen sind die Pfunde mit denen heute mehr denn je gewuchert wird, denn jeder Tourist spült Bares in die Städte; wobei nicht vergessen werden darf, dass die Pflege dieses reichen Erbes jährlich Milliarden verschlingt. Es ist also gut so. Auf die notorischen Touristengruppen (ein jeder Mitläufer ausgestattet mit Selfie-Konstruktion und Schirm) möchte man gleichwohl gern verzichten.
Die Stadt ist dem Studium und dessen bis heute unverzichtbarem Utensil, dem BUCH, geweiht. Dieser ruhigere Taktschlag war nach dem hektischen London willkommen. Der Konsumwahnsinn wird an Orten wie Oxford noch erfolgreich abgewehrt – allein, um das Stadtbild zu bewahren. Wir entdeckten ein Waterstone's unweit des Ashmolean Museums (des weltweit ersten Universitätsmuseums), das zwar auch zur größten Buchhandelskette der Insel gehörte, bei welchem aber, sehr sympathisch, auf die sonst übliche USP-Einrichtung verzichtet worden war. Er ist unvergleichlich dieser Duft alter Buchhandlungen, mit einer Basisnote aus Papier, Leim und Holzfußböden. Die Herznote ruht in Nuancen aus Menschenschweiß durch erhitztes Lesen und Blättern, daneben der Dunst trocknender Kleidung oder von Schirmen. Die Konzentration der Leser ist körperlich spürbar, das Gehirnschmalz beginnt bei dieser gewaltigen Verdichtung zu knistern und ist als kaum wahrnehmbares Fluidum für die Komplexität einer Kopfnote dennoch denkbar ungeeignet. Aber ich lasse mich gerade hinreißen, es war draußen recht windig und kühl. Eine vergleichbare Atmosphäre findet man in jedem Lesesaal älteren Semesters. –
Unser zuweilen kapriziöses Navigationsgerät führte uns nicht zum Autobahnzubringer, sondern, nachdem wir Oxford hinter uns gelassen hatten, auf eine Landstraße nach Schloss Blenheim. Wir waren der Lady in dem kleinen Kasten ausnahmsweise sehr dankbar für diesen Umweg. Denn keine Reise durch England darf absolviert werden, ohne dass man einen Park des genialen Capability Brown besucht hätte, der das Landschaftswesen im 18. Jahrhundert revolutioniert hat wie kein anderer – zunächst auf seiner Insel. Doch bald eiferten ihm vom Klein- bis zum Großadel alle nach, die es sich auch auf dem Kontinent leisten konnten: fort vom barocken Gartenideal Versailles, dessen launige Arabesken in gezirkelten Geometrien sich ohnehin am wirkungsvollsten aus der Höhe erschließen (hier kam Montgolfier mit seinem Heißluftballon als luftigem Transportmittel 100 Jahre zu spät), hin zu malerisch durchkomponierten Landschaftsbildern aus Waldhainen, künstlich angelegten Seen und Wasserfällen, über die sich romantische Brücken spannen, italienischen Parcours, mit Kletterrosen überwachsenen Hohlwegen und wie zufällig in die Parks gestreuten Ruinen und Skulpturen. Was sich in dieser Aufzählung kitschig anhören mag, sind raffinierte "Gemälde in der Natur" (deshalb höchstmöglicher Ausdruck von Kultur), durch die der Besucher wie in einer dreidimensionalen Animation wandelt. Allein, hier kann er Pflanzen und Blüten erriechen, den Wind auf der Haut spüren, sich um die eigene Achse drehen und in alle Richtungen an neuen "points de vue" dieser sorgfältig arrangierten Landschaftsgärten ergötzen. Einige der exotischen Bäume und Sträucher, die James Cook sowie andere Entdecker aus den künftigen Kolonien der Tropen heim ins Kingdom schifften, sind heute in Englands Schlossparks zu botanischen Giganten herangewachsen.
Die ganze gärtnerische Pracht am Blenheim Palace, dem größten nichtköniglichen Schloss Englands, wurde von den Herzögen von Marlborough in Auftrag gegeben, die eigentlich Churchill heißen. Der einflussreichste Sprössling, Sir Winston, kam hier zur Welt und schrieb zahlreiche seiner historischen Schriften, nobelpreisgewürdigt, an diesem Ort. Die Schlossgebäude wollen überwältigen, sind aber in ihrer Grandiosität kalt, gar ein wenig abstoßend.
Das Wunderbare aber bleiben die Parks von Capability Brown, der als Lancelot getauft wurde und dem Zeitgenossen den kuriosen Spitznamen verliehen, da er in seinem Metier der Fähigste war.
Eine lange Wegstrecke lag vor uns, gen Norden Richtung Yorkshire, wo wir Hockneys Landschaften realiter zu besichtigen uns vorgenommen hatten. Das Wetter meinte es gut, der berühmte Constable-Himmel wölbte sich über uns, schaumig blühender, wie mit Neuschnee überzogener Weißdorn begann allmählich die "hard shoulders", die Standspuren der Highways zu schmücken – nur der Linksverkehr, aber besonders das Schalten auf der linken Seite bereitete uns zunächst Mühe. Als ob wir versuchten, rückwärts Schwimmen zu lernen! Die letzte Mietwagentour von Liverpool bis in den Lake District von Cumbria und nach Glasgow lag zwölf Jahre zurück. O, wie waren wir damals noch jung und angstfrei! Was uns auf dieser Reise von unserem Ford Fiesta und seiner schwer gängigen Schaltung an Konzentrationsleistung abverlangt wurde, war beachtlich.
Am Nachmittag hatten wir unser Ziel erreicht, das alle Popaficionados aus dem Song von Simon & Garfunkel kennen; Marianne Faithfulls Version, die innigere, ist weniger geläufig: "Are you going to Scarborough Fair?" – Im Mittelalter war Scarborough (bei den Einheimischen schlicht: "Scar") für den Nordseehandel zwischen Skandinavien und Ostengland ein bedeutender Umschlagplatz und Messehafen. Natürlich hatten auch ihn die Römer begründet: Der heutige Burgberg eignete sich für Leuchtfeuer, die die Galeeren vor der schroffen, steilfelsigen Küstenlinie warnten, und herrlicher noch konnten Scars heiße Quellen den Söldnern kurzzeitig vorgaukeln, dass sie sich zu Hause befänden und nicht in der nebelig-feuchten Provinz Britannias. Diese Quellen sorgten auch dafür, dass sich Scar zu Beginn des 19. Jahrhunderts zum mondänsten Seebad Europas entwickelte. Ja, so war es, nicht die Normandie, schon gar nicht die Côte d'Azur boten die ersten Bäder auf, sondern der hohe Norden Englands! Die "British nobility" entdeckte die Heilkräfte des Meerwassers (Thalasso) und der Quellen 1700 Jahre nach der römischen Besetzung erneut und nebenbei à la Grand Tour auch das Reisen ins Land, wo die Zitronen blüh'n.
Bei hellem Sonnenlicht wirkt fast jede Umgebung verheißungsvoll, doch manchen Orten verleiht die Sonne eine besondere Magie und dazu zählt Scarborough South Bay. Allerdings gilt es, zunächst zu unterscheiden zwischen Scarborough North und South Bay, zwischen den North und South Sands: Der Nordstrand wirkt im Vergleich recht bescheiden. Zwar ist dieser Strand bei Ebbe der größere, doch ist das Ambiente wenig attraktiv. Die Autostraße, die parallel zum Strand mit Dutzenden von Parkbuchten verläuft, kann das Gesamtbild nicht optimieren. Das beheizbare Schwimmbecken, vor hundert Jahren die Sensation der North Bay und ganz Englands, wurde gerade abgebrochen; das Grundstück wird derzeit umgemodelt in eine – was sonst? – Shopping Mall. Daneben sind am Nordstrand Häuser und Anlagen aus den vergangenen dreißig Jahren zu besichtigen; einzig etwas höher auf dem Kamm der Steilküste gelegen: eine typische britische Häuserzeile und ein altes Grand Hotel. Das gesamte Viertel hat einmal bessere Zeiten erlebt.
Wie auch der Südstrand als Zentrum Scars; doch lassen sich dem abgehalfterten Charme alter Seebäder durchaus nostalgische Déjavus abgewinnen. Erinnerungen an "unschuldige" Badeurlaube und Sommerfrischen flackern auf, selbst wenn man sie nur aus Spielfilmen kennt. Wie Capri von Anacapri durch den Monte Solaro getrennt ist, den man an der Nordküste des Eilands umfahren kann, so lässt sich auch der Südstrand, von der Nordstadt durch das oben genannte Burgfelsmassiv namens "Headland" geschieden, auf der Küstenstraße erreichen – und schon ist man in einer anderen Welt.
Der alte Hafen von Scarborough wurde in einen kleinen Jahrmarkt mit winzigem Riesenrad und anderen kindlichen Plaisiers umgewandelt. Diese Kirmesattraktionen gehören für den Briten zu jedem echten Urlaubserlebnis – ebenso die Bingohallen, Vergnügungstempel mit einarmigen Banditen und "slot machines" jedweder Bauart und Finesse. Für die einen der Alptraum, den sie mit Las Vegas verbinden, für die anderen Volksbespaßung, gesellige Zusammenkunft und nicht zuletzt DIE Möglichkeit, eine schmale Urlaubskasse aufzubessern. Dazwischen Cafés, Fish and Chips, aber auch das "Futurist", eine mittlerweile stillgelegte Veranstaltungshalle, in der die Beatles vor über 50 (fünfzig!) Jahren einen umjubelten Auftritt hatten.
Direkt vom Strand geht es hier hügelaufwärts in die Eastborough, die in die Fußgängerzone und Haupteinkaufsstraße der Westborough mündet. Abseits vom allgegenwärtigen Programm der Markenketten lassen sich in den Seitenstraßen einige kulinarische und weitere schräge Entdeckungen machen. Bei uns zum Beispiel nie gesehen: ein Taxidermist, in dessen Schaufenster sich allerhand ausgestopfte Vögel ausbreiteten und scheinbar zum Flug anhoben.
Über allem thront wie eine müde gewordene Fregatte, aber noch immer majestätisch, eines der ältesten (und für lange Jahre das größte!) Grand Hotels der Welt. Das Gebäude aus senffarbenen Ziegeln, im damals brandaktuellen Bombast der Neo-Renaissance (auch Second Empire genannt) gestaltet, wurde hoch über den South Sands auf den Steilfelsen von Scars Küste errichtet. Und es schaut exakt so aus wie der Name seines Architekten klingt: Cuthbert B(rod)rick! Steingewordene Synästhesie. Das Konzept klingt ähnlich verschroben. Das Haus funktioniert außen wie innen gemäß eines kalendarischen Plans: vier Türme für die Jahreszeiten, 12 Etagen für die Monate, 52 Schornsteine für die Wochen, ursprünglich 365 Zimmer – nur, dies detailliert zu erläutern, wäre ein eigener Text.
Bis nach Scar gelangte im Ersten Weltkrieg Admiral von Tirpitz' Flotte und beschoss die Hotel-Fregatte mit 30 Kanonenkugeln. Das war in den rund 150 Jahren ihres Bestehens die wohl härteste Anfechtung, auch wenn die Seevögel Dauersabotage betreiben. Seit der Eröffnung im Jahre 1867 führen die Hotelmanager einen harten, aber vergeblichen Kampf gegen die Möwenvölker, die die Verzierungen der Fassade auf ihre Weise schätzen. Jedes Gesims, jedes Türmchen, jede Zinne haben sie in Beschlag genommen, um dort zu brüten, sich zu unterhalten oder anzukeckern. Netze an der Fassade stören sie dabei keineswegs. Der Lärm ist mitunter infernalisch, weshalb die vielen Zimmer ohne Fenster, die das Hotel heute anbietet, wohl die teureren sein müssen. Aber bescheiden gefragt: Gibt es Küsten oder Strände ohne Möwen? Vielleicht auf einigen entlegenen Atollen im Pazifik. – Als beschauliche Unterkunft ist das Hotel mit seinen Flohmärkten für Handgehäkeltes, den Bingoabenden und Sangesdarbietungen sowie dem ununterbrochenen Möwengeschrei keinesfalls zu empfehlen.
Uli fand es in seiner gnadenlos kitschigen Inneneinrichtung, mit all den Gästen, die bei Musicals wie "Sound of Music" (die Trapp-Familie!) im "Edelweiß" schwelgten oder zu Beatles-Potpourris begeistert mitschunkelten, so herrlich schräg, dass er fast jeden Abend hinstromerte, um – natürlich, um mitzutingeln! (Hier gelangt die britische Populärmusik wieder zurück zu ihren Ursprungsorten, den Music Halls und deftigen Volksvergnügungen. Der Kreis schließt sich, den zu untersuchen einem anderen Text vorbehalten bleiben muss.)
Im Grand Hotel kreuzten sich gewissermaßen drei von Ulis Vorlieben: 1) die Begeisterung für das Design brut der DDR, dessen billig-praktisches Echo aus Kunststoffen, Aluminium, Schaumgummi, Melaminfurnieren und Pressspanplatten (bitte formaldehydgesättigt!) millionenfach in den USA und eben auch in England erschallt; 2) das Grand Hotel als Repräsentant der Ruinen-Romantik am lebenden Organismus, no fake, wie Trump echt gealtert und abgewetzt; 3) und last but not least der glückliche Mensch und Sangesbruder, der inmitten seines geliebten Clans Yorkshire Pudding, Roastbeef und Lemon Pie verspeist, sich bei Varieté-Klamauk und -Entertainment königlich amüsierend. Auch dafür liebe ich Uli!
Ich las derweil in unserem "Crown Spa Hotel" auf der Esplanade "Spoilt rotten! The toxic cult of sentimentality" von Theodore Dalrymple und beschäftigte mich bei dieser Lektüre im Grunde mit den selben Phänomenen.
Zum Grand Hotel führte einst eine der drei (3) Tramways des Südstrandes, von denen allerdings nur jene zur ehemaligen Kuranlage noch in Betrieb ist. Vergleichsweise sei hier erneut das schöne Capri herbeizitiert: Dort existiert eine (1) Funicolare, die den Hafen mit dem Marktplatz des Städtchens Capri verbindet. Scarborough strotzte für viele Jahrzehnte vor Luxus!
Eine parabelhaft geschwungene Eisenbrücke hilft dem Fußgänger, die Schlucht zwischen den Steilküstenabschnitten zu überwinden. Auf dem südlicher gelegenen finden sich weitere alte Grand Hotels, darunter unser "Crown Spa". Elegante viktorianische Häuserzeilen bieten ihren glücklichen Bewohnern oder den Hotelgästen einmalige panoramatische Ausblicke aufs Meer, den Hafen mit Altstadt oder auf die weiter südlich beginnenden, kaum besiedelten Felsen. An dieser Stelle wurde die Steilküste in einen Kurpark verwandelt, dessen Themenbereiche über endlos sich erstreckende Serpentinenwege erschlossen werden können.
Am Strand darunter liegt das alte Kurzentrum. Seine Quellen verhalfen Scarborough einst zum Titel "Bad" ("Spa"). Die alte Anlage wurde durch einige Anbauten in den 1970ern in ihrem Fin de Siècle-Charakter arg lädiert. Sie ist ohnehin nicht mehr in Betrieb, dient als Veranstaltungsort und hat neben einer Sonnenterrasse noch ein größeres Café zu bieten. Bei Flut wird das Kurhaus dramatisch von Gezeitenwellen bedrängt.
Im Sommer werden hier u.a. Mick Avory, der ehemalige Schlagzeuger von den KINKS, mit seiner neuen Formation und Jools Holland, formerly member of the SQUEEZE, auftreten. In der Arena an den North Sands hatte sich zudem der unverwüstliche Cliff Richard angekündigt. Während ich die Plakate studierte, wurde ich einmal mehr von jenen Sentiments überwältigt, über die ich gerade las: solchen nostalgischer Natur und solchen des Schreckens. Leiden die Idole unserer Jugend nicht Tantalusqualen, wenn sie immer und immer wieder dieselben Songs zum Besten geben – bis ans Ende ihrer Tage? Darauf folgte sogleich der Gedanke, dass in Kirchen seit Jahrhunderten mehr oder weniger inbrünstig Liedtexte von Paul Gerhardt gesungen werden, an Lagerfeuern der Jugendherbergen vermutlich noch immer die Mundorgel kursiert und sich eine Melodie wie die oben genannte "Are you going to Scarborough Fair?" durch Jahrhunderte als "traditional" in unsere Zeit hinüber rettete. Es bleibt eine Sache der Einstellung. Ist es erfüllend, anderen Menschen Freude zu bereiten, selbst wenn (oder gerade weil) sie das Repertoire in- und auswendig kennen? Eines ist sicher: Würden die BEATLES diesen Sommer in Scars "Futurist" auftreten – ich würde sogar zu Fuß hinlaufen.
Der Strand von Scar war extrem sauber, was sich in der Hauptsaison vermutlich drastisch ändern wird. Die Nordseeküste weist hier einen gekörnten dunkelgelben Sand auf, der bei entsprechendem Licht golden schimmert. Überhaupt das Licht! Scheint die Sonne, ergeben sich bei zurückgehender Flut auf noch nassen Sandflächen zauberhafte Spiegelungen von Altstadt und Hafen. Die Vormittage am Strand, in den Parkanlagen oder auf der Esplanade waren im morgendlichen Leuchten der Ostsonne einfach wunderbar. Wir mussten uns ein übers andere Mal in Erinnerung rufen, wo wir uns eigentlich befanden: unweit der schottischen Grenze an der Ostküste Nordenglands! Und dennoch wähnt sich der steppwestenwattierte Flaneur – verzückt über Lichtspiele und gleißendes Meer – beinahe an der Küste Amalfis! Die Nordsee reflektiert die Morgensonne millionenfach auf ihren Wellenkämmen und liegt in der leicht gekippten Steilküsten-Perspektive wie ein funkelnd bewegter Teppich vor dem Betrachter. Der Südstrand von Scarborough gehört zu den schönsten Buchten, die wir je gesehen haben! Und wir sahen wenige.
Sehr angenehm, dass der Autoverkehr an der südlichen Strandpromenade ab der Eisenbrücke bis auf Busse und ein Manövrieren weniger PKWs eingestellt wurde. Vom Kurhaus aus begleiten den Strand ohnehin nur noch Fußwege, die schließlich den Hang hinauf zum Heideweg über die Steilklippen nach Filey führen. Der ist nichts für Zauderer; hier muss man wahrhaftig "gut zu Fuß" sein. Weshalb wir gleich das Auto benutzten, um über Filey weiter südlich nach Bridlington zu gelangen. Beeindruckender als dieser gesichtslose kleine Hafen, den David Hockney für viele Jahre zu seinem Arbeits- und Wohnort gemacht hatte, waren die landeinwärts gelegenen Yorkshire Wolds, in denen er Landschaften malte oder filmte: die Schwingungen der Felder auf sanften Hügeln im Wechsel mit Waldstücken und Dörfern, stets rhythmisiert durch die Hecken seines geliebten "hawthorne", dem zuvor beschriebenen Weißdorn. Der gedeiht zwar auch bei uns, doch hat er in England seit Jahrhunderten die Funktion, Felder zu trennen und die wertvolle Ackerkrume vor den heftigen Winden der Nordsee zu schützen.
Wir hatten noch am selben Tag die Kraft, der Langeweile Bridlingtons die Schwermut Whitbys entgegenzusetzen. Zwanzig Meilen nördlich von Scar liegt an der Mündung des Esk die kleine Fischereistadt, deren Architektur an norwegische Küstenorte gemahnt. Wahrzeichen ist die hoch über dem Hafenbecken ruhende Klosterruine, St. Hilda geweiht, die irgendwann aus einem Gemälde von Caspar David Friedrich auf diesen Hügel an der Nordsee teleportiert worden sein muss. Der 200 Jahre alte Friedhof mit seinen Aberdutzenden von verwitterten Grabsteinen unmittelbar neben der Ruine sowie der düstere, ja abweisende Charakter der Stadt inspirierten Bram Stoker, hier seine Romanfigur Dracula anzusiedeln. Whitby ist deshalb heute ein Wallfahrtsort für Grufties und Gothic-Fans geworden, aber auch begehrte Kulisse für Horrorfilme. Die endlose Heidelandschaft vor Whitby wird regelmäßig abgefackelt, um zu verhindern, dass sich durch Samenflug heidefremde Pflanzen ansiedeln. Brandkeimer wie Heidekraut, Ginster und andere Arten überleben das Feuer unter der Erde. Die verkohlten rußigen Flächen, akzentuiert von Findlingen, erweitern Whitbys Drehorte um bizarr-gruselige "locations".
Der interessantere Ausflug von Scar führte uns gen Westen nach Bradford bei Leeds mit anschließender Stippvisite in York. Es war eine Reise in das Herzland der Industriellen Revolution. Doch hier floriert schon lange nichts mehr, seit die Märkte sich nach Asien verlagert haben und Englands traditionelle Produktionsstätten für Stahl und Textil aufgeben mussten. Die Digitalisierung hat unserem alten Europa schließlich den Genickschuss verpasst. Was bleibt, sind Tourismus, Dienstleistungen und der Umbau historischer oder industrieller Stätten in "wertvolle" und familienkompatible Erlebnisorte. (Nordrhein-Westfalen schreitet voran!) Bradford besitzt nicht nur das größte Medienmuseum des Königreichs, in dem wir uns die Moholys der fotografischen Sammlung und die aktuellen Ausstellungen anschauten. In Bradford wurden in den 1930ern auch die ersten Einwohner aus Ländern des Commonwealth angesiedelt, vorwiegend Pakistani. Die schweren Rassenunruhen 2001 unter Bradfordians asiatischer und englischer Herkunft berichten von einer wenig gelungenen Integration. Von welcher Malaise wir im Mai 2017 nichts bemerkten; die Stadt schien sediert bis hin zu einem Zustand frühsommerlicher Paralyse. – Bradford besitzt auch eines der schönsten Industriedenkmäler in Gestalt der ehemaligen Textilfabrik von Titus Salt. Der befand im 19. Jahrhundert, dass eine vorteilhafte Arbeitsumgebung in gediegener Architektur seine Arbeiter zu Höchstleistungen stimulieren könne. Der Erfolg gab ihm Recht. Heute gehört die Anlage dem Textilkaufmann Jonathan Silver, der sie zu einer kulturellen Begegnungsstätte umbaute, die nicht nur von Bradfords alter Textiltradition kündet, sondern darüber hinaus von Silvers künstlerischen Vorlieben. In Bradford, dem Geburtsort David Hockneys, ist Silvers Privatsammlung dem berühmten Sohn der Stadt gewidmet. Unsere Freude ist, wie soll ich sagen, wahrhaft grenzenlos gewesen angesichts dieses reichhaltigen Desserts, das uns nach der Tate Britain-Retrospektive serviert wurde. Zumal keiner unserer Reiseführer über diesen Umstand Auskunft gab. Überraschungen dieser Art sind für "culture vultures" Höhepunkte jeder Büldungsreise.
In York möchte man sich niederlassen. Getreu Sinatras Liedtext über NEW York "... if you can make it there, you'll make it anywhere..." sollte man sich hier nach einem aufregenden Jahrzehnt in Manhattan zur Ruhe setzen. Die 140.000 Seelen zählende Stadt hat alles, was den leicht angegrauten Großstädter glücklich macht: Universitäten, Studenten, Kultur, Ruhe und Gelassenheit, ein unversehrtes mittelalterliches Stadtbild, den Fluss Ouse vor den Stadtmauern und die Nähe zum Meer. Bis nach Scar sind es ganze 35 Meilen.
UNVERSEHRT ist ein Adjektiv, das uns in Deutschland, dem unheimlichen Reich der Heimatanbeter, Kriegserklärer, Völkermörder und Sentimentalisten, in dem kaum ein Platz, ein Dorf, eine Stadt von den auf unserer Seite angezettelten und mit allem Völker-Recht verlorenen Kriegen des vergangenen Jahrhunderts verschont blieb, selten in den Sinn käme, um Orte zu beschreiben. York ist so unversehrt, dass es einen Deutschen zu Tränen rührte, würde er nicht gerade Dalrymple gelesen haben, mit dessen Hilfe das fataldeutsche Pendel zwischen Idealismus und Rationalismus eindeutig zu letzterem hin ausschlagen muss.
Und dennoch bleibt dieser kleine Rest an Miss Marple-Sehnsucht, in dem die knurrige alte Dame nervenstark, mit amateurdetektivischem Furor und grandiosem Mutterwitz bösen Buben den Garaus macht, auf dass Tudor-Fachwerk und Rosengärten wieder einwandfrei funktionieren. Doch vergessen wir nicht: Gerade unter der Haube des pittoresken, moralisch sauberen Englands der "budding English roses" und des "fair play" nistet das Böse. Sensiblen Gemütern möchte man deshalb unbedingt von der englischen Serie über den "Yorkshire Killer" abraten. In allen Nationen tun sich menschliche Abgründe auf; es geht darum, Methoden zu entwickeln, diese unter Verschluss zu halten. England hat die Zivil-Gesellschaft erfunden, die parlamentarische Demokratie, das Recht auf uneingeschränkte Entfaltung des Individuums. Dafür schulden wir England Dank und England uns eine Zweitwohnung in York!
Die Insel sei zu klein für all die Leute, die Zutritt begehrten, wurde uns in Scar von einem Hotelier-Pärchen beschieden, das für den Brexit gestimmt hatte. Gut, neben ihnen und den Londonern Sandra und Dominic (sie Schottin mit italienischen Wurzeln, also im Grunde eine doppelte Ausländerin) sowie dem Hotel-Personal im Norden begegneten uns in der Tat fast ausschließlich Angestellte, deren gebrochenes Englisch dem unseren kaum nachstand. Der Dienstleistungssektor wird in London fast vollständig von Zugereisten bestellt. Aber ist es nicht inzwischen ein globales Phänomen, dass die Eingeborenen westlicher Industrienationen sich zu niederen Diensten kaum noch herablassen? Ein Allgemeinplatz, dass Spargelernte oder Weinlese bei uns von Arbeitern aus den ehemaligen Ostblockstaaten ausgeführt werden. Wenn Polen sich in England als findiger und fleißiger erweisen, sind sie plötzlich Buhmänner, die argwöhnisch beäugt oder gar angegangen werden. Die Menschen sind überall gleich, das Fremde ist eine Gefahr, Besitzstände müssen verteidigt werden, Stämme und Clans wollen unter sich bleiben. Auf das Terrain der monotheistischen Religionen, die angeblich alle zu dem einen Gott beten, möchte man sich gar nicht erst begeben. Es ist schwer, und wie sagt Bazon Brock? Wir können einander nicht verstehen, sondern nur missverstehen. Seit Menschengedenken wird deshalb um Kommunikation gerungen. Dass Lumpen wie Nigel Farage von der UKIP, die inzwischen nicht mehr existiert, gleich nach der populistischen Hetze, das sinkende Schiff verlassen haben, sagt alles. Die Früchte dieses Zorns haben nun andere aufzusammeln und zu verarbeiten.
Das Schlusswort sei drei Ladies gewidmet, die in Scar das hoch gelobte "Mother Hubbard"-Restaurant an der Westborough betreiben und so blond und blauäugig, wie sie uns entgegentraten, ganz offensichtlich dänisch-wikingischen Ursprungs sind, nach den Römern weitere Invasoren der Insel. Die Hubbard-Frauen – Mutter und zwei Töchter –, die mit Ron nichts zu schaffen haben, aber wegen ihrer Kochkünste mindestens in den Rang der "Kulinaria-Org" erhoben werden sollten, haben uns vier Tage lang liebevoll mit dem Besten der britischen Fish and Chips-Küche "gefüttert", und hier erfuhren wir, dass ausschließlich der haddock = Schellfisch die Nationalküche adelt. Nun noch der Limerick, dann sind wir durch:
Mom Hubbard's kitchen doors ajar, there've been three ladies in Scar,
Scents of fish in the air, our ladies' heads so golden and fair!
We'll return to the balms, pounds in our palms, if Scar only wasn't so far!
Eight days a week in England for Uli and Jeannine (Berlin, Juni 2017)
*Ich bin beim Schreiben vom aktuellen Grauen eingeholt worden, das von anderen Daten kündet. Sie verbannen die Armen auch in Türme mitten im stinkreichen Kensington, die so skandalös ungesichert sind, dass sie nicht einmal den Mindeststandards bei Brand- und anderen Unglücksfällen genügen. Man möchte sich in Grund und Boden schämen. Es sollten 5,000 Britische Pfund eingespart werden!
Analog zu den Geschlechtertürmen in der Toskana sollte heute also nicht von Armenhäusern, sondern von Armentürmen gesprochen werden.
Diese Narbe (= scar) unserer Sehnsucht bleibt ewig unverschlossen
Sei wie ein Hase – beweglich, behende, immer auf der Hut. Das Hakenschlagen bewies sich bislang als lebensrettend: 2005 war es knapp, denn nur zwei Tage nach den Attentaten auf Busse und Bahnen traf ich am 9. Juli in London ein. Zischler hatte mich beauftragt, am British Film Institute über ein Kinoprogramm zu recherchieren, das James Joyce lange vor seinem Weltruhm in Dublin zusammengestellt hatte.
Anfang Mai 2017 waren wir glücklich 26 Tage zu früh unterwegs. Wollten wir doch eben jene Brücke überqueren, die am 3. Juni zum aleatorischen Tatort der Gotteskämpfer wurde – ja, richtig, sie würfeln die Plätze für ihre Massaker aus! –, um die Privatsammlung eines obercleveren Produzenten zu besichtigen, dessen eigentliches Gesamtkunstwerk sich in der Nachschau als punktgenaue Bespielung kapitalistischer Marktmechanismen erweisen wird:
"My dear, first, I will quench your thirst 'cause I'm THE Hirst! Second, as you might reckon, I'm the market's prime, fuck the sublime asf."
It's such a peek-a-boo trade. – Hirst as the worst case of contemporary art!
Doch dies ist ein anderes Feld, und wir schafften es aus Zeitgründen ohnehin nicht über die Brücke ans Südufer der Themse nach Lambeth, wo Damien Hirst vor einigen Jahren in ausrangierten Fabrikhallen ein Privatmuseum eröffnet hat.
Aber immer der Reihe nach.
Die Initialen sind dieselben, nur verbirgt sich hinter ihnen diesmal eine ganze Milchstraße an künstlerischen Möglichkeiten: David Hockney und sein Werk waren Dreh- und Angelpunkt unserer Reise nach England. Vom Angeln reden, heißt vom Ködern fachsimpeln: Wir "köderten" mit unseren nicht enden wollenden Elogen auf Hockney und sein grandioses Spätwerk Familie Asendorf-Moser, uns zu begleiten, zumindest nach London, um dort an einem der letzten Wochenenden die Hockney-Schau in der Tate Britain zu besuchen. Von den appellativen Befreiungsschlägen der frühen 1960er bis hin zu den digitalen Farbexplosionen der Smartphone- und Tabletmalereien der Gegenwart beherrscht Hockney sämtliche Register der modernen Malerei. Die Schau, trotz Zeitfenster-Reglements schon morgens mit regem Zulauf gesegnet, spannte den Bogen seines über sechzig Jahre alten Oeuvres. Einem animierten Publikum wurden die beiden Hauptinteressen Hockneys bei schöner Hängung und Farbgebung der Säle anschaulich gemacht: die FARBEN und der Lauf der ZEIT.
Während das Farbspektrum von erdigen, verhaltenen Tönen im Frühwerk mit der ersten kalifornischen Periode aufbricht und über die Pastelltöne seiner Pop Art-Porträts zu den mitreißenden Farbspektakeln der letzten drei Jahrzehnte findet, bahnt sich der Faktor Zeit als zu bearbeitendes Problem langsamer seinen Weg in Hockneys Kunst.
Seine Pool-Gemälde lassen sich als "freeze frames" lesen, die Hogarth-Scharaden breiten sich als Memories zur Raumzeit vor dem Betrachter aus. Und ist nicht jede Porträtserie per se eine malerische Umsetzung der Zeitraffer-Technik? Hockney ist ein großer Zeichner und Beobachter feinster mimischer Abweichungen, dem mit wenigen Strichen anrührende Persönlichkeitsstudien gelingen – von der Mutter, von Lebenspartnern oder intimen Freunden. Er selber bezeichnet die Porträts in Öl genau anders herum als "Langzeitbelichtungen", die eine zuvor festgesetzte Produktionszeit nicht überschreiten dürften. Seine großen Polaroid-Collagen sind Gefäße, die die vergehende Zeit im Sekundentakt speichern und führen in gerader Linie zu den metaphysischen Bilderbögen über den Wandel der Natur durch die Jahreszeiten.
Es gibt vermutlich keinen zweiten lebenden Künstler, der seit den 1980ern neue Medien wie Computer, Faxgerät und andere Apparate zur Kommunikation so konsequent genutzt und den eigenen künstlerischen Ausdruck um deren Bildgebungsverfahren bereichert hat. (Fotografie und Film müssen hier zu den althergebrachten konventionellen Techniken gezählt werden.)
Welch' wunderbare Geste! Seine Freunde erhalten morgens einen Blumenstrauß oder ein Stilleben über das Smartphone! Der Meister beginnt täglich um neun Uhr mit der Arbeit, sieben Tage die Woche. Hockney braucht keine Rast, er lebt in der Gegenwart und schaut nach vorn. Lediglich das "Don't drive drunk" erweitert er für sich zum "No drugs while working, except for nicotine".
(In England wurden mir Streichholzschachteln für ein knappes Pfund angeboten. "Thank you, but no, thank you." Die Zigaretten hatte ich für Notfälle im Gepäck, habe aber keine einzige angezündet. Auch um der Peinlichkeit zu entrinnen, mit anderen Touristen qualmend vor Hotelportalen zu stehen, in deren Blumenkästen Schilder folgenden Inhalts steckten: "We are no ashtrays!")
Wir hatten eine Stippvisite in Bridlington geplant, für die vergangenen fünfzehn Jahre Hockneys Wohn- und Arbeitsort an Yorkshires Nordseeküste. Doch schon am Ankunftstag erfuhren wir von Sandra und Dominic, einer schönen Zufallsbekanntschaft im Design-Museum an der Kensington South, dass er 2016 aus gesundheitlichen Gründen zurück nach Los Angeles gegangen sei.
Kensington war für zweieinhalb Tage unser Londoner "Kiez". Beate Moser und Christoph Asendorf schlugen das K & K Hotel unweit der Piccadilly Line vor – mit der Underground Station Earl's Court (zur Tube wird sie erst zwei Stationen später). Eine wunderbare Empfehlung, denn mit dieser Linie reist der Tourist von Heathrow "without change" direkt in den Citybereich, steigt aus und ist in wenigen Gehminuten in einer dieser traumverlorenen, weiß lackierten Wohnstraßen, deren Höfe zu sich parkähnlichen Anlagen öffnen und die vielen (geldsatten) Boroughs in London den Charme von Gartenstädten verleihen.
Unser viktorianisches Hotel besaß eine gepflegte Anlage. Dank des milden Seeklimas in Südengland gedeihten hier wie an vielen Orten im reichen London Palmengewächse und andere Exoten. Daneben blühten Flieder, Rosen, Pelargonien, Wisteria sowie einige Azaleen- und Rhododendrongewächse. Die weißen und rosaroten Kerzen der Kastanien leuchteten verschwenderisch durch das dichte Grün. Eine mir unbekannte strauchartige, mit enzianblauen Dolden besetzte Pflanze schmückte nicht nur unsere Anlage, sondern ganz Kensington mit ihrer überschäumenden Pracht. Die Hotelgärtnerin schrieb deren Namen in mein Notizbuch: Ceanothus, die Säckelblume, ein immergrünes botanisches Zauberwesen. Da war sie – die blaue Blume der Romantik! Wir fanden sie in unserer Hotelkette, einer spätkapitalistischen Exklave von Habsburger Entrepreneuren.
Das "My home is my castle" ließe sich spielend auf ein "And my garden is my kingdom" erweitern, denn der Brite ist vor jeder anderen Berufung tief in seinem Herzen Gärtner – wie angesichts großartig konzipierter Anlagen vor Privathäusern oder Hotels neidlos zu attestieren war ... das Wetter, natürlich, gibt es doch in diesem Land den ersten und den letzten Gesprächsstoff her: Es war kaum der Rede wert, besser noch, es war ideal! Frühlingshaft warme Stunden des Nachmittags, einige wenige Sprühregentropfen, die Abende und Morgenstunden eher kühl und die Nächte ebenso wie die Matratzen in eigentlich allen Hotels – unserem Erschöpfungsschlaf zuträglich.
Kulinarisch wurde indessen entschieden dazu gelernt. Hatte schon das Vielvölkergemisch des Commonwealth die fragwürdigen Essgewohnheiten der vereinigten Königstreuen aufs Wunderbarste bereichert, so gelang es der amerikanischen HippieHipsterküche in den vergangenen zwanzig, dreißig Jahren klammheimlich, englische Restaurantküchen zu transfundieren. Junge Leute interessieren sich zwar mehrheitlich kaum noch für Politik, aber sie lassen sich trotzdem nicht alles vorsetzen. Natürlich ist auch das ein politisches Statement. Hängen nicht unendlich viele grüne Themen am Essen? An seinen Zutaten, an der Tierhaltung, an Pestiziden, einer nachhaltigen Landwirtschaft, Lebensmitteltransporten, an fatalen Nahrungsketten, an Ozeanen und am All – gemeinen Schindluder, das wir mit unserer Erde treiben? Dennoch testeten wir hiervon nur wenig. (Selbst Bill Wymans Steakhouse-Kette ließen wir links liegen.)
London war immer teuer, und der Rubel rollt bekanntlich rascher in Restaurants und Geschäfte als ins eigene Portemonnaie. Wir Barbaren von der eurasischen Kontinentalplatte beteiligten uns lieber an der weiteren Überfischung der Nordsee und frönten fast ausschließlich dem englischen Nationalgericht: "fish and chips" in allen Salzwasser-Varianten und Kartoffelsorten, die der heimische Markt hergab –und das ohne einen Hauch schlechten Gewissens. Kurzerhand veränderten wir die Präposition der Pompadour und sagten "hinter uns die Sintflut", nämlich jene, welche vor einigen hunderttausend Jahren das Kreidegebirge zwischen Calais und Dover mit ihren ungeheuren Wassermassen aus schmelzenden Gletschern ausspülte und die Insel abtrennte vom Festland. Unendliche Marschen, das Doggerland, erleichterten noch lange danach die Besiedlung vom Festland aus. Erst seit einem entwicklungsgeschichtlichen Atemzug von circa achttausend Jahren ist das Albion vollends meerumspült. Was schließlich jenen sagenhaften Wesenszug unserer Verwandten zu Tage förderte, den sie selber später als "spleen" bezeichneten und einem Zustand der gewollten Abschottung (alles nördlich des Hadrianswalls, alles außerhalb der Küsten) dienlich war, den sie mit "splendid isolation" glorifizierten.
Eigentlich gehören wir also zusammen, essen, was Meere und Flüsse, Wälder und Weiden den Germanen spenden; sprechen bis heute von Neuburg am Inn bis Newcastle-upon-Thyne in den westgermanischen Dialekten der indoeuropäischen Sprachfamilie; die von uns Deutschen hochverehrte Queen ist ohnehin durch die Sachsen-Coburg-Gotha-Linie teutscher Abstammung – und sind uns doch innigst fremd ... aber auch irgendwie sympathisch. Spätestens seit Berlin nicht mehr Frontstadt sein muss und jeden anlockt, der sich hier amüsieren möchte – na ja, präziser: spätestens seit Willi II seine Cousins auf der Insel nicht mehr mit seinen Marine-Ambitionen nervt und das Reich statt 1000 nur 12 Jahre währte.
Warum sie nun wieder isoliert sein wollen – denn mit allem, nur nicht mit "splendid" möchte man die Situation der Insulaner seit Queen Victorias Tod beschreiben – ist unbegreiflich. Und ihr Hauptargument, die Insel sei zu klein, ist "arrant nonsense".
Hoffentlich kommen sie noch zur Besinnung.
London konnte für uns in der Kürze unseres Aufenthaltes nur the City of London sein. Die Liste der Auslassungen würde kein Ende nehmen – um nur einige zu nennen: die Docklands und der neue Economy District mit seinen Wolkenkratzern sind nach wie vor terra incognita; ein Ausflug nach Greenwich – wie verführerisch auch immer – hätte die Zeitpläne von uns Vieren gesprengt; neue Viertel südlich der Themse wurden, wie eingangs erwähnt, auch noch nicht erobert.
Doch schafften wir als Ouvertüre zur Hockney-Schau "The American Dream. Pop to the Present" im British Museum, dazu Besuche im Victoria & Albert und in der Royal Academy. Zum Bedauern unserer Freunde reichte die Kraft nicht für eine gemeinsame Grand Tour durch die National Gallery – das nächste Mal!
Die Stadt ist wunderschön, abseits des inzwischen monströsen Massentourismus und seiner Trampelpfade, in ihren unbekannteren Museen, Kirchen und Parks, den beschaulichen Mews oder luxuriösen Wohnstraßen – gleichviel ob georgianisch, viktorianisch oder edwardianisch – lässt es sich träumen von anderen Leben, Berufen oder Schicksalsbahnen.
"Ohne Geld läuft nüscht!" In London läuft diesbezüglich deutlich weniger noch als in Berlin, wo sich Lebenshungrige auch 2017 mit bescheidenen Einkünften über Wasser halten können. London hat sein Prekariat weit hinaus in die "outskirts" der Metropole verbannt* (siehe letzte Seite), die man zwischen den Außenposten der Underground aufsuchen müsste, um das Elend von Wohnkasernen und verwahrlosten Reihenhäusern zu entdecken. Aber das macht kein Reisender. Unsere längste Tube-Strecke führte nach Camden Town – vor 20 Jahren ein kunterbuntes Sammelbecken für Künstler, Freaks, Studenten; heute eine abgewrackte Zone von Ramschflohmärkten und Terrassenpubs: Ballermann in London.
Natürlich hat sich die Stadt verändert und selbstverständlich nicht immer zu ihrem Vorteil. Sie ist sauberer geworden, nur besitzt London heute genau jenen abziehbildhaften Glanz all der anderen Sehnsuchtsorte, die man in seinem Leben bereist hat. Wie New York, Paris, Rom, Madrid oder Tokyo präsentiert auch sie an ihren Hauptstraßen den steril-austauschbaren Chic unserer Konsum-Ära. Filmbuchhandlungen in London sind ausgestorben, kleine Läden verschwunden, private Händler aus dem Stadtbild getilgt; und damit auch die Überraschungsmomente, welche einen Besuch in der City zuweilen aufregend machten. In das Apple-Office Building an der 3, Savile Row (nein, es ist nicht der Computer-Gigant gemeint) ist das Kindersortiment von Abercrombie & Fitch eingezogen. (Wenigstens zollen sie meinen vier Helden in einigen Ausstellungskästen einen bescheidenen Tribut.)
Weltweit dieselben Einkaufsketten, Reklame, in der nur die Schriftzeichen ausgetauscht werden; debiles, absolut sinnentleertes TV-Serienfutter in der Hotelglotze; die immer gleichen Klone – Photoshop-generiert oder genormt in Schönheitsfabriken. Die in Demokratien verpönte politische Gleichschaltung hat sich einen ästhetischen Ersatz gesucht.
Der Diversität und Multinationalität preisende Westen giert im Grunde nach Verpuppung und Uniformität. Ein neues Zeitalter des "global streamlining" hat begonnen, obwohl die Lippenbekenntnisse der Politiker und Werber beharrlich anders lauten. Nach den Gesichtsoperationen nun die Zurichtungen der Körper. Alle wollen Beyoncé sein: formschön, kurvig und rasend schnell. Der mephistophelische Bund zwischen Kultur und Kommerz funktioniert nirgends reibungsloser als im globalen Netz von Kosmetik- und Textilindustrie. Man muss die Dicken, und es werden immer mehr, beinahe für ihren Mut bewundern, der Einheitsästhetik schlicht und ergreifend Masse entgegenzusetzen. Aber wir wissen, dass dies mehrheitlich kaum aus rebellischem Elan geschieht. Längst wurde nachgewiesen, dass Adipositas ein Armutsvehikel ist.
Und je weiter wir uns von London entfernten, desto größer wurde der Kreis der Fettleibigen. Raststätten-Besuche sind offensichtlich für viele englische Familien das einzige Wochenendvergnügen. Hier verlassen die "big mamas" schon gar nicht mehr ihre PKWs, sondern bekommen den Triple-Burger von den Kindern hinter das Lenkrad gereicht. Das Mahl wird abgerundet durch eine Zigarette, derweil die Enkel auf der Rückbank tollen.
Oxford bietet das Gegenmodell – doch wieder nur für die Betuchten, was gar nicht mehr erwähnt werden muss. In angloamerikanischen Ländern existiert eine enge Verzahnung von Bildung und Sport. Teilnahme an letzterem ist in den Colleges obligatorisch, und kann in den USA sogar die Noten beeinflussen. Der Wettstreit unter den Oxforder Einrichtungen – viele von ihnen Gründungen aus der Renaissance – ist hart, und spätestens in den collegeeigenen Sportclubs werden Seilschaften für ein Leben in der Politik oder Hochfinanz geknüpft.
Der legendärste Kampf wird seit dem 19. Jahrhundert zwischen den Elite-Unis Cambridge und Oxford ausgefochten: Dromologie-Schlachten zu Wasser, mit Ruderblättern als Waffen und einem erbitterten Ehrgeiz, den sich viele Professoren – darunter unser Freund Paul Betts, der glücklich vor vier Jahren einen Ruf ans St. Antony's College erhielt – auch in die Studierstuben wünschten. Oxford hat hier den Heimvorteil des "großen" Flusses, denn trainiert wird auf der Themse, mit der das Flüsschen Cam bei der Konkurrenz nicht mithalten kann. Unser abendlicher Themse-Spaziergang zum hübschen Reihenhaus von Paul und Sylvie, das sich bei Besichtigung zu erstaunlicher Größe entfaltete, war erfüllt von den Rufen der Steuermänner und -frauen. Die Vorbereitungen für die Ruder-Regatta zwischen "Oxbridge und Camford" liefen auf Hochtouren, während links und rechts von uns auf dem Uferweg Jogger und Radfahrer vorbeijagten. Sport ist offensichtlich nach den Vorlesungen als körperliche Ertüchtigung angesagt und weniger als Spaß.
Wir wohnten malerisch, wenn auch recht laut in einer kleinen umgebauten Fabrik direkt an der Themse vor einem der Tore zur Altstadt. Oxford ist wie die meisten englischen Städte seiner Größe (ca. 150.000 Einwohner) und kulturellen Bedeutung prächtig erhalten. (Hitler-Deutschland gelang es "nur" einen Ort auszulöschen, und das war Coventry.) Die Kirchen, Burgen, Patrizierhäuser und Parkanlagen sind die Pfunde mit denen heute mehr denn je gewuchert wird, denn jeder Tourist spült Bares in die Städte; wobei nicht vergessen werden darf, dass die Pflege dieses reichen Erbes jährlich Milliarden verschlingt. Es ist also gut so. Auf die notorischen Touristengruppen (ein jeder Mitläufer ausgestattet mit Selfie-Konstruktion und Schirm) möchte man gleichwohl gern verzichten.
Die Stadt ist dem Studium und dessen bis heute unverzichtbarem Utensil, dem BUCH, geweiht. Dieser ruhigere Taktschlag war nach dem hektischen London willkommen. Der Konsumwahnsinn wird an Orten wie Oxford noch erfolgreich abgewehrt – allein, um das Stadtbild zu bewahren. Wir entdeckten ein Waterstone's unweit des Ashmolean Museums (des weltweit ersten Universitätsmuseums), das zwar auch zur größten Buchhandelskette der Insel gehörte, bei welchem aber, sehr sympathisch, auf die sonst übliche USP-Einrichtung verzichtet worden war. Er ist unvergleichlich dieser Duft alter Buchhandlungen, mit einer Basisnote aus Papier, Leim und Holzfußböden. Die Herznote ruht in Nuancen aus Menschenschweiß durch erhitztes Lesen und Blättern, daneben der Dunst trocknender Kleidung oder von Schirmen. Die Konzentration der Leser ist körperlich spürbar, das Gehirnschmalz beginnt bei dieser gewaltigen Verdichtung zu knistern und ist als kaum wahrnehmbares Fluidum für die Komplexität einer Kopfnote dennoch denkbar ungeeignet. Aber ich lasse mich gerade hinreißen, es war draußen recht windig und kühl. Eine vergleichbare Atmosphäre findet man in jedem Lesesaal älteren Semesters. –
Unser zuweilen kapriziöses Navigationsgerät führte uns nicht zum Autobahnzubringer, sondern, nachdem wir Oxford hinter uns gelassen hatten, auf eine Landstraße nach Schloss Blenheim. Wir waren der Lady in dem kleinen Kasten ausnahmsweise sehr dankbar für diesen Umweg. Denn keine Reise durch England darf absolviert werden, ohne dass man einen Park des genialen Capability Brown besucht hätte, der das Landschaftswesen im 18. Jahrhundert revolutioniert hat wie kein anderer – zunächst auf seiner Insel. Doch bald eiferten ihm vom Klein- bis zum Großadel alle nach, die es sich auch auf dem Kontinent leisten konnten: fort vom barocken Gartenideal Versailles, dessen launige Arabesken in gezirkelten Geometrien sich ohnehin am wirkungsvollsten aus der Höhe erschließen (hier kam Montgolfier mit seinem Heißluftballon als luftigem Transportmittel 100 Jahre zu spät), hin zu malerisch durchkomponierten Landschaftsbildern aus Waldhainen, künstlich angelegten Seen und Wasserfällen, über die sich romantische Brücken spannen, italienischen Parcours, mit Kletterrosen überwachsenen Hohlwegen und wie zufällig in die Parks gestreuten Ruinen und Skulpturen. Was sich in dieser Aufzählung kitschig anhören mag, sind raffinierte "Gemälde in der Natur" (deshalb höchstmöglicher Ausdruck von Kultur), durch die der Besucher wie in einer dreidimensionalen Animation wandelt. Allein, hier kann er Pflanzen und Blüten erriechen, den Wind auf der Haut spüren, sich um die eigene Achse drehen und in alle Richtungen an neuen "points de vue" dieser sorgfältig arrangierten Landschaftsgärten ergötzen. Einige der exotischen Bäume und Sträucher, die James Cook sowie andere Entdecker aus den künftigen Kolonien der Tropen heim ins Kingdom schifften, sind heute in Englands Schlossparks zu botanischen Giganten herangewachsen.
Die ganze gärtnerische Pracht am Blenheim Palace, dem größten nichtköniglichen Schloss Englands, wurde von den Herzögen von Marlborough in Auftrag gegeben, die eigentlich Churchill heißen. Der einflussreichste Sprössling, Sir Winston, kam hier zur Welt und schrieb zahlreiche seiner historischen Schriften, nobelpreisgewürdigt, an diesem Ort. Die Schlossgebäude wollen überwältigen, sind aber in ihrer Grandiosität kalt, gar ein wenig abstoßend.
Das Wunderbare aber bleiben die Parks von Capability Brown, der als Lancelot getauft wurde und dem Zeitgenossen den kuriosen Spitznamen verliehen, da er in seinem Metier der Fähigste war.
Eine lange Wegstrecke lag vor uns, gen Norden Richtung Yorkshire, wo wir Hockneys Landschaften realiter zu besichtigen uns vorgenommen hatten. Das Wetter meinte es gut, der berühmte Constable-Himmel wölbte sich über uns, schaumig blühender, wie mit Neuschnee überzogener Weißdorn begann allmählich die "hard shoulders", die Standspuren der Highways zu schmücken – nur der Linksverkehr, aber besonders das Schalten auf der linken Seite bereitete uns zunächst Mühe. Als ob wir versuchten, rückwärts Schwimmen zu lernen! Die letzte Mietwagentour von Liverpool bis in den Lake District von Cumbria und nach Glasgow lag zwölf Jahre zurück. O, wie waren wir damals noch jung und angstfrei! Was uns auf dieser Reise von unserem Ford Fiesta und seiner schwer gängigen Schaltung an Konzentrationsleistung abverlangt wurde, war beachtlich.
Am Nachmittag hatten wir unser Ziel erreicht, das alle Popaficionados aus dem Song von Simon & Garfunkel kennen; Marianne Faithfulls Version, die innigere, ist weniger geläufig: "Are you going to Scarborough Fair?" – Im Mittelalter war Scarborough (bei den Einheimischen schlicht: "Scar") für den Nordseehandel zwischen Skandinavien und Ostengland ein bedeutender Umschlagplatz und Messehafen. Natürlich hatten auch ihn die Römer begründet: Der heutige Burgberg eignete sich für Leuchtfeuer, die die Galeeren vor der schroffen, steilfelsigen Küstenlinie warnten, und herrlicher noch konnten Scars heiße Quellen den Söldnern kurzzeitig vorgaukeln, dass sie sich zu Hause befänden und nicht in der nebelig-feuchten Provinz Britannias. Diese Quellen sorgten auch dafür, dass sich Scar zu Beginn des 19. Jahrhunderts zum mondänsten Seebad Europas entwickelte. Ja, so war es, nicht die Normandie, schon gar nicht die Côte d'Azur boten die ersten Bäder auf, sondern der hohe Norden Englands! Die "British nobility" entdeckte die Heilkräfte des Meerwassers (Thalasso) und der Quellen 1700 Jahre nach der römischen Besetzung erneut und nebenbei à la Grand Tour auch das Reisen ins Land, wo die Zitronen blüh'n.
Bei hellem Sonnenlicht wirkt fast jede Umgebung verheißungsvoll, doch manchen Orten verleiht die Sonne eine besondere Magie und dazu zählt Scarborough South Bay. Allerdings gilt es, zunächst zu unterscheiden zwischen Scarborough North und South Bay, zwischen den North und South Sands: Der Nordstrand wirkt im Vergleich recht bescheiden. Zwar ist dieser Strand bei Ebbe der größere, doch ist das Ambiente wenig attraktiv. Die Autostraße, die parallel zum Strand mit Dutzenden von Parkbuchten verläuft, kann das Gesamtbild nicht optimieren. Das beheizbare Schwimmbecken, vor hundert Jahren die Sensation der North Bay und ganz Englands, wurde gerade abgebrochen; das Grundstück wird derzeit umgemodelt in eine – was sonst? – Shopping Mall. Daneben sind am Nordstrand Häuser und Anlagen aus den vergangenen dreißig Jahren zu besichtigen; einzig etwas höher auf dem Kamm der Steilküste gelegen: eine typische britische Häuserzeile und ein altes Grand Hotel. Das gesamte Viertel hat einmal bessere Zeiten erlebt.
Wie auch der Südstrand als Zentrum Scars; doch lassen sich dem abgehalfterten Charme alter Seebäder durchaus nostalgische Déjavus abgewinnen. Erinnerungen an "unschuldige" Badeurlaube und Sommerfrischen flackern auf, selbst wenn man sie nur aus Spielfilmen kennt. Wie Capri von Anacapri durch den Monte Solaro getrennt ist, den man an der Nordküste des Eilands umfahren kann, so lässt sich auch der Südstrand, von der Nordstadt durch das oben genannte Burgfelsmassiv namens "Headland" geschieden, auf der Küstenstraße erreichen – und schon ist man in einer anderen Welt.
Der alte Hafen von Scarborough wurde in einen kleinen Jahrmarkt mit winzigem Riesenrad und anderen kindlichen Plaisiers umgewandelt. Diese Kirmesattraktionen gehören für den Briten zu jedem echten Urlaubserlebnis – ebenso die Bingohallen, Vergnügungstempel mit einarmigen Banditen und "slot machines" jedweder Bauart und Finesse. Für die einen der Alptraum, den sie mit Las Vegas verbinden, für die anderen Volksbespaßung, gesellige Zusammenkunft und nicht zuletzt DIE Möglichkeit, eine schmale Urlaubskasse aufzubessern. Dazwischen Cafés, Fish and Chips, aber auch das "Futurist", eine mittlerweile stillgelegte Veranstaltungshalle, in der die Beatles vor über 50 (fünfzig!) Jahren einen umjubelten Auftritt hatten.
Direkt vom Strand geht es hier hügelaufwärts in die Eastborough, die in die Fußgängerzone und Haupteinkaufsstraße der Westborough mündet. Abseits vom allgegenwärtigen Programm der Markenketten lassen sich in den Seitenstraßen einige kulinarische und weitere schräge Entdeckungen machen. Bei uns zum Beispiel nie gesehen: ein Taxidermist, in dessen Schaufenster sich allerhand ausgestopfte Vögel ausbreiteten und scheinbar zum Flug anhoben.
Über allem thront wie eine müde gewordene Fregatte, aber noch immer majestätisch, eines der ältesten (und für lange Jahre das größte!) Grand Hotels der Welt. Das Gebäude aus senffarbenen Ziegeln, im damals brandaktuellen Bombast der Neo-Renaissance (auch Second Empire genannt) gestaltet, wurde hoch über den South Sands auf den Steilfelsen von Scars Küste errichtet. Und es schaut exakt so aus wie der Name seines Architekten klingt: Cuthbert B(rod)rick! Steingewordene Synästhesie. Das Konzept klingt ähnlich verschroben. Das Haus funktioniert außen wie innen gemäß eines kalendarischen Plans: vier Türme für die Jahreszeiten, 12 Etagen für die Monate, 52 Schornsteine für die Wochen, ursprünglich 365 Zimmer – nur, dies detailliert zu erläutern, wäre ein eigener Text.
Bis nach Scar gelangte im Ersten Weltkrieg Admiral von Tirpitz' Flotte und beschoss die Hotel-Fregatte mit 30 Kanonenkugeln. Das war in den rund 150 Jahren ihres Bestehens die wohl härteste Anfechtung, auch wenn die Seevögel Dauersabotage betreiben. Seit der Eröffnung im Jahre 1867 führen die Hotelmanager einen harten, aber vergeblichen Kampf gegen die Möwenvölker, die die Verzierungen der Fassade auf ihre Weise schätzen. Jedes Gesims, jedes Türmchen, jede Zinne haben sie in Beschlag genommen, um dort zu brüten, sich zu unterhalten oder anzukeckern. Netze an der Fassade stören sie dabei keineswegs. Der Lärm ist mitunter infernalisch, weshalb die vielen Zimmer ohne Fenster, die das Hotel heute anbietet, wohl die teureren sein müssen. Aber bescheiden gefragt: Gibt es Küsten oder Strände ohne Möwen? Vielleicht auf einigen entlegenen Atollen im Pazifik. – Als beschauliche Unterkunft ist das Hotel mit seinen Flohmärkten für Handgehäkeltes, den Bingoabenden und Sangesdarbietungen sowie dem ununterbrochenen Möwengeschrei keinesfalls zu empfehlen.
Uli fand es in seiner gnadenlos kitschigen Inneneinrichtung, mit all den Gästen, die bei Musicals wie "Sound of Music" (die Trapp-Familie!) im "Edelweiß" schwelgten oder zu Beatles-Potpourris begeistert mitschunkelten, so herrlich schräg, dass er fast jeden Abend hinstromerte, um – natürlich, um mitzutingeln! (Hier gelangt die britische Populärmusik wieder zurück zu ihren Ursprungsorten, den Music Halls und deftigen Volksvergnügungen. Der Kreis schließt sich, den zu untersuchen einem anderen Text vorbehalten bleiben muss.)
Im Grand Hotel kreuzten sich gewissermaßen drei von Ulis Vorlieben: 1) die Begeisterung für das Design brut der DDR, dessen billig-praktisches Echo aus Kunststoffen, Aluminium, Schaumgummi, Melaminfurnieren und Pressspanplatten (bitte formaldehydgesättigt!) millionenfach in den USA und eben auch in England erschallt; 2) das Grand Hotel als Repräsentant der Ruinen-Romantik am lebenden Organismus, no fake, wie Trump echt gealtert und abgewetzt; 3) und last but not least der glückliche Mensch und Sangesbruder, der inmitten seines geliebten Clans Yorkshire Pudding, Roastbeef und Lemon Pie verspeist, sich bei Varieté-Klamauk und -Entertainment königlich amüsierend. Auch dafür liebe ich Uli!
Ich las derweil in unserem "Crown Spa Hotel" auf der Esplanade "Spoilt rotten! The toxic cult of sentimentality" von Theodore Dalrymple und beschäftigte mich bei dieser Lektüre im Grunde mit den selben Phänomenen.
Zum Grand Hotel führte einst eine der drei (3) Tramways des Südstrandes, von denen allerdings nur jene zur ehemaligen Kuranlage noch in Betrieb ist. Vergleichsweise sei hier erneut das schöne Capri herbeizitiert: Dort existiert eine (1) Funicolare, die den Hafen mit dem Marktplatz des Städtchens Capri verbindet. Scarborough strotzte für viele Jahrzehnte vor Luxus!
Eine parabelhaft geschwungene Eisenbrücke hilft dem Fußgänger, die Schlucht zwischen den Steilküstenabschnitten zu überwinden. Auf dem südlicher gelegenen finden sich weitere alte Grand Hotels, darunter unser "Crown Spa". Elegante viktorianische Häuserzeilen bieten ihren glücklichen Bewohnern oder den Hotelgästen einmalige panoramatische Ausblicke aufs Meer, den Hafen mit Altstadt oder auf die weiter südlich beginnenden, kaum besiedelten Felsen. An dieser Stelle wurde die Steilküste in einen Kurpark verwandelt, dessen Themenbereiche über endlos sich erstreckende Serpentinenwege erschlossen werden können.
Am Strand darunter liegt das alte Kurzentrum. Seine Quellen verhalfen Scarborough einst zum Titel "Bad" ("Spa"). Die alte Anlage wurde durch einige Anbauten in den 1970ern in ihrem Fin de Siècle-Charakter arg lädiert. Sie ist ohnehin nicht mehr in Betrieb, dient als Veranstaltungsort und hat neben einer Sonnenterrasse noch ein größeres Café zu bieten. Bei Flut wird das Kurhaus dramatisch von Gezeitenwellen bedrängt.
Im Sommer werden hier u.a. Mick Avory, der ehemalige Schlagzeuger von den KINKS, mit seiner neuen Formation und Jools Holland, formerly member of the SQUEEZE, auftreten. In der Arena an den North Sands hatte sich zudem der unverwüstliche Cliff Richard angekündigt. Während ich die Plakate studierte, wurde ich einmal mehr von jenen Sentiments überwältigt, über die ich gerade las: solchen nostalgischer Natur und solchen des Schreckens. Leiden die Idole unserer Jugend nicht Tantalusqualen, wenn sie immer und immer wieder dieselben Songs zum Besten geben – bis ans Ende ihrer Tage? Darauf folgte sogleich der Gedanke, dass in Kirchen seit Jahrhunderten mehr oder weniger inbrünstig Liedtexte von Paul Gerhardt gesungen werden, an Lagerfeuern der Jugendherbergen vermutlich noch immer die Mundorgel kursiert und sich eine Melodie wie die oben genannte "Are you going to Scarborough Fair?" durch Jahrhunderte als "traditional" in unsere Zeit hinüber rettete. Es bleibt eine Sache der Einstellung. Ist es erfüllend, anderen Menschen Freude zu bereiten, selbst wenn (oder gerade weil) sie das Repertoire in- und auswendig kennen? Eines ist sicher: Würden die BEATLES diesen Sommer in Scars "Futurist" auftreten – ich würde sogar zu Fuß hinlaufen.
Der Strand von Scar war extrem sauber, was sich in der Hauptsaison vermutlich drastisch ändern wird. Die Nordseeküste weist hier einen gekörnten dunkelgelben Sand auf, der bei entsprechendem Licht golden schimmert. Überhaupt das Licht! Scheint die Sonne, ergeben sich bei zurückgehender Flut auf noch nassen Sandflächen zauberhafte Spiegelungen von Altstadt und Hafen. Die Vormittage am Strand, in den Parkanlagen oder auf der Esplanade waren im morgendlichen Leuchten der Ostsonne einfach wunderbar. Wir mussten uns ein übers andere Mal in Erinnerung rufen, wo wir uns eigentlich befanden: unweit der schottischen Grenze an der Ostküste Nordenglands! Und dennoch wähnt sich der steppwestenwattierte Flaneur – verzückt über Lichtspiele und gleißendes Meer – beinahe an der Küste Amalfis! Die Nordsee reflektiert die Morgensonne millionenfach auf ihren Wellenkämmen und liegt in der leicht gekippten Steilküsten-Perspektive wie ein funkelnd bewegter Teppich vor dem Betrachter. Der Südstrand von Scarborough gehört zu den schönsten Buchten, die wir je gesehen haben! Und wir sahen wenige.
Sehr angenehm, dass der Autoverkehr an der südlichen Strandpromenade ab der Eisenbrücke bis auf Busse und ein Manövrieren weniger PKWs eingestellt wurde. Vom Kurhaus aus begleiten den Strand ohnehin nur noch Fußwege, die schließlich den Hang hinauf zum Heideweg über die Steilklippen nach Filey führen. Der ist nichts für Zauderer; hier muss man wahrhaftig "gut zu Fuß" sein. Weshalb wir gleich das Auto benutzten, um über Filey weiter südlich nach Bridlington zu gelangen. Beeindruckender als dieser gesichtslose kleine Hafen, den David Hockney für viele Jahre zu seinem Arbeits- und Wohnort gemacht hatte, waren die landeinwärts gelegenen Yorkshire Wolds, in denen er Landschaften malte oder filmte: die Schwingungen der Felder auf sanften Hügeln im Wechsel mit Waldstücken und Dörfern, stets rhythmisiert durch die Hecken seines geliebten "hawthorne", dem zuvor beschriebenen Weißdorn. Der gedeiht zwar auch bei uns, doch hat er in England seit Jahrhunderten die Funktion, Felder zu trennen und die wertvolle Ackerkrume vor den heftigen Winden der Nordsee zu schützen.
Wir hatten noch am selben Tag die Kraft, der Langeweile Bridlingtons die Schwermut Whitbys entgegenzusetzen. Zwanzig Meilen nördlich von Scar liegt an der Mündung des Esk die kleine Fischereistadt, deren Architektur an norwegische Küstenorte gemahnt. Wahrzeichen ist die hoch über dem Hafenbecken ruhende Klosterruine, St. Hilda geweiht, die irgendwann aus einem Gemälde von Caspar David Friedrich auf diesen Hügel an der Nordsee teleportiert worden sein muss. Der 200 Jahre alte Friedhof mit seinen Aberdutzenden von verwitterten Grabsteinen unmittelbar neben der Ruine sowie der düstere, ja abweisende Charakter der Stadt inspirierten Bram Stoker, hier seine Romanfigur Dracula anzusiedeln. Whitby ist deshalb heute ein Wallfahrtsort für Grufties und Gothic-Fans geworden, aber auch begehrte Kulisse für Horrorfilme. Die endlose Heidelandschaft vor Whitby wird regelmäßig abgefackelt, um zu verhindern, dass sich durch Samenflug heidefremde Pflanzen ansiedeln. Brandkeimer wie Heidekraut, Ginster und andere Arten überleben das Feuer unter der Erde. Die verkohlten rußigen Flächen, akzentuiert von Findlingen, erweitern Whitbys Drehorte um bizarr-gruselige "locations".
Der interessantere Ausflug von Scar führte uns gen Westen nach Bradford bei Leeds mit anschließender Stippvisite in York. Es war eine Reise in das Herzland der Industriellen Revolution. Doch hier floriert schon lange nichts mehr, seit die Märkte sich nach Asien verlagert haben und Englands traditionelle Produktionsstätten für Stahl und Textil aufgeben mussten. Die Digitalisierung hat unserem alten Europa schließlich den Genickschuss verpasst. Was bleibt, sind Tourismus, Dienstleistungen und der Umbau historischer oder industrieller Stätten in "wertvolle" und familienkompatible Erlebnisorte. (Nordrhein-Westfalen schreitet voran!) Bradford besitzt nicht nur das größte Medienmuseum des Königreichs, in dem wir uns die Moholys der fotografischen Sammlung und die aktuellen Ausstellungen anschauten. In Bradford wurden in den 1930ern auch die ersten Einwohner aus Ländern des Commonwealth angesiedelt, vorwiegend Pakistani. Die schweren Rassenunruhen 2001 unter Bradfordians asiatischer und englischer Herkunft berichten von einer wenig gelungenen Integration. Von welcher Malaise wir im Mai 2017 nichts bemerkten; die Stadt schien sediert bis hin zu einem Zustand frühsommerlicher Paralyse. – Bradford besitzt auch eines der schönsten Industriedenkmäler in Gestalt der ehemaligen Textilfabrik von Titus Salt. Der befand im 19. Jahrhundert, dass eine vorteilhafte Arbeitsumgebung in gediegener Architektur seine Arbeiter zu Höchstleistungen stimulieren könne. Der Erfolg gab ihm Recht. Heute gehört die Anlage dem Textilkaufmann Jonathan Silver, der sie zu einer kulturellen Begegnungsstätte umbaute, die nicht nur von Bradfords alter Textiltradition kündet, sondern darüber hinaus von Silvers künstlerischen Vorlieben. In Bradford, dem Geburtsort David Hockneys, ist Silvers Privatsammlung dem berühmten Sohn der Stadt gewidmet. Unsere Freude ist, wie soll ich sagen, wahrhaft grenzenlos gewesen angesichts dieses reichhaltigen Desserts, das uns nach der Tate Britain-Retrospektive serviert wurde. Zumal keiner unserer Reiseführer über diesen Umstand Auskunft gab. Überraschungen dieser Art sind für "culture vultures" Höhepunkte jeder Büldungsreise.
In York möchte man sich niederlassen. Getreu Sinatras Liedtext über NEW York "... if you can make it there, you'll make it anywhere..." sollte man sich hier nach einem aufregenden Jahrzehnt in Manhattan zur Ruhe setzen. Die 140.000 Seelen zählende Stadt hat alles, was den leicht angegrauten Großstädter glücklich macht: Universitäten, Studenten, Kultur, Ruhe und Gelassenheit, ein unversehrtes mittelalterliches Stadtbild, den Fluss Ouse vor den Stadtmauern und die Nähe zum Meer. Bis nach Scar sind es ganze 35 Meilen.
UNVERSEHRT ist ein Adjektiv, das uns in Deutschland, dem unheimlichen Reich der Heimatanbeter, Kriegserklärer, Völkermörder und Sentimentalisten, in dem kaum ein Platz, ein Dorf, eine Stadt von den auf unserer Seite angezettelten und mit allem Völker-Recht verlorenen Kriegen des vergangenen Jahrhunderts verschont blieb, selten in den Sinn käme, um Orte zu beschreiben. York ist so unversehrt, dass es einen Deutschen zu Tränen rührte, würde er nicht gerade Dalrymple gelesen haben, mit dessen Hilfe das fataldeutsche Pendel zwischen Idealismus und Rationalismus eindeutig zu letzterem hin ausschlagen muss.
Und dennoch bleibt dieser kleine Rest an Miss Marple-Sehnsucht, in dem die knurrige alte Dame nervenstark, mit amateurdetektivischem Furor und grandiosem Mutterwitz bösen Buben den Garaus macht, auf dass Tudor-Fachwerk und Rosengärten wieder einwandfrei funktionieren. Doch vergessen wir nicht: Gerade unter der Haube des pittoresken, moralisch sauberen Englands der "budding English roses" und des "fair play" nistet das Böse. Sensiblen Gemütern möchte man deshalb unbedingt von der englischen Serie über den "Yorkshire Killer" abraten. In allen Nationen tun sich menschliche Abgründe auf; es geht darum, Methoden zu entwickeln, diese unter Verschluss zu halten. England hat die Zivil-Gesellschaft erfunden, die parlamentarische Demokratie, das Recht auf uneingeschränkte Entfaltung des Individuums. Dafür schulden wir England Dank und England uns eine Zweitwohnung in York!
Die Insel sei zu klein für all die Leute, die Zutritt begehrten, wurde uns in Scar von einem Hotelier-Pärchen beschieden, das für den Brexit gestimmt hatte. Gut, neben ihnen und den Londonern Sandra und Dominic (sie Schottin mit italienischen Wurzeln, also im Grunde eine doppelte Ausländerin) sowie dem Hotel-Personal im Norden begegneten uns in der Tat fast ausschließlich Angestellte, deren gebrochenes Englisch dem unseren kaum nachstand. Der Dienstleistungssektor wird in London fast vollständig von Zugereisten bestellt. Aber ist es nicht inzwischen ein globales Phänomen, dass die Eingeborenen westlicher Industrienationen sich zu niederen Diensten kaum noch herablassen? Ein Allgemeinplatz, dass Spargelernte oder Weinlese bei uns von Arbeitern aus den ehemaligen Ostblockstaaten ausgeführt werden. Wenn Polen sich in England als findiger und fleißiger erweisen, sind sie plötzlich Buhmänner, die argwöhnisch beäugt oder gar angegangen werden. Die Menschen sind überall gleich, das Fremde ist eine Gefahr, Besitzstände müssen verteidigt werden, Stämme und Clans wollen unter sich bleiben. Auf das Terrain der monotheistischen Religionen, die angeblich alle zu dem einen Gott beten, möchte man sich gar nicht erst begeben. Es ist schwer, und wie sagt Bazon Brock? Wir können einander nicht verstehen, sondern nur missverstehen. Seit Menschengedenken wird deshalb um Kommunikation gerungen. Dass Lumpen wie Nigel Farage von der UKIP, die inzwischen nicht mehr existiert, gleich nach der populistischen Hetze, das sinkende Schiff verlassen haben, sagt alles. Die Früchte dieses Zorns haben nun andere aufzusammeln und zu verarbeiten.
Das Schlusswort sei drei Ladies gewidmet, die in Scar das hoch gelobte "Mother Hubbard"-Restaurant an der Westborough betreiben und so blond und blauäugig, wie sie uns entgegentraten, ganz offensichtlich dänisch-wikingischen Ursprungs sind, nach den Römern weitere Invasoren der Insel. Die Hubbard-Frauen – Mutter und zwei Töchter –, die mit Ron nichts zu schaffen haben, aber wegen ihrer Kochkünste mindestens in den Rang der "Kulinaria-Org" erhoben werden sollten, haben uns vier Tage lang liebevoll mit dem Besten der britischen Fish and Chips-Küche "gefüttert", und hier erfuhren wir, dass ausschließlich der haddock = Schellfisch die Nationalküche adelt. Nun noch der Limerick, dann sind wir durch:
Mom Hubbard's kitchen doors ajar, there've been three ladies in Scar,
Scents of fish in the air, our ladies' heads so golden and fair!
We'll return to the balms, pounds in our palms, if Scar only wasn't so far!
Eight days a week in England for Uli and Jeannine (Berlin, Juni 2017)
*Ich bin beim Schreiben vom aktuellen Grauen eingeholt worden, das von anderen Daten kündet. Sie verbannen die Armen auch in Türme mitten im stinkreichen Kensington, die so skandalös ungesichert sind, dass sie nicht einmal den Mindeststandards bei Brand- und anderen Unglücksfällen genügen. Man möchte sich in Grund und Boden schämen. Es sollten 5,000 Britische Pfund eingespart werden!
Analog zu den Geschlechtertürmen in der Toskana sollte heute also nicht von Armenhäusern, sondern von Armentürmen gesprochen werden.
Cote d'Azur im November 2015
"Bétonarmé-sur-Mer"
oder: Begegnungen mit dem Baustoff des 20. Jahrhunderts
Eine Reise an die Côte d'Azur führte uns in das Marseille der kleinen Leute, wie sie Marcel Pagnol so liebenswert in seinen Bühnenstücken gezeichnet hatte. Wir pilgerten zum Jetset nach Saint-Tropez in der Hoffnung, wenigstens eine blonde Strähne Brigitte Bardots erspähen zu können. Damals hatte Bardot ihr Konterfei für Marianne, die französische Nationalfigur, zur Verfügung gestellt. Natürlich trafen wir sie nicht. Stattdessen prangte sie als Briefmarken-Marianne auf sämtlichen Postkarten, die in die Heimat verschickt wurden. Bis zu Gracia Patricia ins Fürstentum Monaco reichten weder Zeit noch Geld, denn es sollte – wie bei jedem Frankreich-Trip – die obligatorische Paris-Woche angehängt werden.
Filmbilder begleiteten uns auf Schritt und Tritt. Die schöne Grace lenkte "Über den Dächern von Nizza" (1955) ihr Cabriolet in aberwitzigem Tempo durch die Serpentinen, und Cary Grant stieg wie ein griechischer Gott aus jeder Bucht an den Strand der Côte d'Azur. Der Zauber des Kinos war ungebrochen.
Wir tourten in einem K 70, der in seinem "Eidotterorange", der Signalfarbe des Jahrzehnts, der wohl auffälligste PKW jenes Sommers gewesen sein muss. Hermann war ein grandioser Fahrer, der sich von den toutes directions an Kreuzungen und Kreisverkehren kaum beirren ließ. Es wurde gezeltet, wir mussten sparen. Trotz mitunter heftiger Debatten und eines schlimmen Sonnenstichs spricht die Erinnerung von einer lustigen, wenn auch nicht vollkommen unbeschwerten Reise: Die jungen Männer hatten ihr Studium gerade beendet, ich meines vor zwei Semestern begonnen. Der Ernst des Lebens pochte beharrlich auf Anerkennung.
Wir schreiben das Jahr 1978 – Bautätigkeiten an der Côte d'Azur auf sämtlichen Strecken, die wir erkundeten. Es war die Zeit, als am Reißbrett entwickelte Resorts wie Port Cogolin bei Saint-Tropez sich wie Metastasen ausbreiteten. Keine fünf Kilometer landeinwärts fanden wir indes noch die ursprüngliche Hinterland aus Wäldern und verschlafenen Dörfern.
Pagnol und Grace Kelly weilen lang nicht mehr unter uns. Wobei es der Fürstin bestimmt war, 1982 so zu Tode zu kommen, wie es die erwähnte Hitchcock-Sequenz fast prophezeit hatte – auf einer Küstenstraße zwischen Nizza und Monaco. Und Bardot wäre wohl noch heute prominente Trommlerin für den Front National, hätte sie nicht das Alter für solchen Klamauk überschritten. Gut befreundet ist sie dennoch mit dem Le Pen-Clan.
Kinotraum ist die Côte d'Azur heute noch während der Filmfestwoche in Cannes. In den übrigen 358 Tagen herrschen rechtsnationale Selbstzufriedenheit, gottlob selten der Albtraum des Terrors und BETON. Marion Maréchal-Le Pen, die Enkelin des Parteigründers und Nichte der mutmaßlich ersten Präsidentin der Fünften Republik (das hat sich Gott sei Dank nicht bewahrheitet, Juni 2017), Marine Le Pen, regiert im Département Vaucluse. Der Südosten mit den beiden anderen Départements Var und Alpes-Maritimes ist fest in der Hand der Rechtspopulisten. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand: Die Reichen wollen ihr Geld und ihr Savoir-vivre behalten; die Betonburgen in den Vorstädten Marseilles und Nizzas, die zum großen Teil von Algeriern, Marokkanern und anderen arabischen Anrainern des Mittelmeers besiedelt werden, wirken bedrohlich und sind es de facto auch. Die vorwiegend jungen Männer sind zu einem hohen Prozentsatz arbeitslos, frustriert und werden entsprechend erfolgreich vom IS rekrutiert. Touristen meiden diese Banlieues. Doch manchmal, wie im Sommer 2016, kommen die ferngesteuerten und gewaltbereiten Jungs eben in die schönen Küstenstädte und mähen mit einem LKW 84 Menschen von der Promenade. Àpropos de Nice. Die wollten sich vergnügen und das Leben genießen. Aber das ist heute alles nicht mehr so einfach.
Wir landeten im November 2015 in Marseille, zehn Tage nach den Anschlägen auf den Veranstaltungsort Bataclan, auf das Stade de France und auf weitere Orte in Paris. Frankreich befand sich noch immer in Schockstarre. Die Flughäfen machten allerdings Dienst nach Plan. Uli war schrecklich erkältet. Wir erwischten also eine terrorfreie Phase (so wird heute vom Reisen berichtet!). Der Flug zu meinen Vorträgen am Syndicat des Architèctes des Bouches-du-Rhône (für diesen hatten wir im September 2015 die Aufnahmen von der White City in Tel Aviv gemacht) und an der École Nationale Supérieure d'Architecture de Marseille, Luminy ("Der Vorkurs am Bauhaus") führte uns in ein bitterkaltes, vom Mistral tüchtig durchfegtes Marseille – gefühlte zwei statt der annoncierten neun Grad Celsius. Der Pool in unserem Hotel war kein Trost, sondern eher Hohn auf unsere Berliner Phantasie, dass das mediterrane Klima den einen oder anderen Badespaß erlauben könnte. Doch so abgehärtet wie die Volleyballspieler an dem winzigen Strandstück unterhalb des Palais du Pharo waren wir nicht, sind es nie gewesen. Wir schauten fasziniert auf Bikinis, Badehosen und die Muskeln der energisch und schwitzend Sport treibenden "Massilianer". – Wie schön, dass wir Menschen so unterschiedlich sind!
Das Hotel war fake news aus dem Netz. (Endlich ein Begriff, der auf alles passt!) Was hier als exquisite Lage mit Sicht auf den alten Hafen angepriesen wurde, befand sich realiter etwas erhöht über einer der meist befahrenen Routen aus der City zur Küstenstraße in die Viertel Bompard, Roucas-Blanc und zu den Stränden Richtung Osten nach Bandol und Sanary-sur-Mer. Die Sicht zum Hafen war verstellt durch Regierungsgebäude. – Wir nahmen es mit Gelassenheit, größere Aufregungen waren Ulis angeknackstem Zustand ohnehin abträglich. Im Supermarché besorgte ich Salz zum Gurgeln und Halspastillen. Ein Gang zum Arzt wurde dennoch unerlässlich.
Marseille hatte sich verändert. Wie auch anders in vierzig Jahren? Die größten Freuden des Franzosen? – Ganz wie der Nachbar rechts vom Rhein liebt der Gallier sein Auto und den Fußball über alles. Aber wohin mit all den stinkenden Vehikeln? In Paris wünscht man sich neben sechsspurigen Boulevards die Flügel der Nike von Samothrake aus dem Louvre nebenan, um der verpesteten Luft entschweben zu können. Im Geburtsort des Flaneurs verlässt der Tourist also die Straßen und geht zum Luftholen in die Parks.
Außer bei den wenigen ebenen Küstenlinien Aquitaniens, der Normandie oder des Languedoc-Roussillon sind Frankreichs Küsten felsig, schrundig, gebirgig, geradeso wie das Hinterland. Der Franzose musste für seine Küstenstraßen schon immer Tunnel bauen, sich der Landschaft anpassen. Aber er perforierte auch die Seineufer in Paris, früher verschwiegene Plätze für die Verliebten. Arkadentunnel säumen die Rhône in Lyon, und in Marseille untertunnelte er ganze Quartiere. All dies urbane Konglomerate mit den womöglich längsten und ältesten Stadttunnel der Welt. War Betunnelung an den Küsten unmöglich, wurde der unmittelbare Altbaubestand abgerissen und einplaniert, um Platz für sechs- bis achtspurige Autotrassen zu schaffen. Daneben blieben noch immer handtuchgroße Parzellen für 20-stöckige Wohntürme. Hier, auf der richtigen Seite gewohnt, ahhh, la mer Mediterranée, phantastische Sonnenuntergänge, Schiffe tanzen auf glitzernden Wellen. Landeinwärts erstrahlt die Morgensonne über dem Grauen, das Generationen korrupter Bürgermeister und Stadtverordneter mit ihren Duzfreunden aus der Bauwirtschaft verbrochen haben. Das alles ist irreversibel. Es ist nur konsequent, dass der Autofahrer für dieses Gruselkabinett, das ihm an diesen "Süpär-Highways" geboten wird, löhnen muss. So viel Hässlichkeit darf nicht umsonst sein!
Die Beschaulichkeit des alten Frankreich in seinen unmittelbaren Küstenregionen ist perdu. Wohin der Zug gehen würde, dafür hatte schon Jacques Tati in "Mon Oncle" (1958) die passende Gleichung gefunden, mit einem lachenden neben dem weinenden Auge. Das Lachen ist uns heute vergangen angesichts der zubetonierten Städte und Pisten. Der Fortschritt sei nicht aufzuhalten, heißt es – Fortschritt? Hoffentlich geht uns tatsächlich bald der Sand aus. Aber der Mensch ist erfinderisch, als Zerstörer wie als Planer.
Ja doch, es gibt Konstruktionen aus Beton und Stahl, die wir bestaunen. Marseille ist seit dem 19. Jahrhundert ein Mekka für Bewunderer technologischer Großtaten: Als Beispiele für Moderne sind Marseiller Industriebauten und Transportmittel wie die schwebende Brückenkonstruktion des Pont Transbordeur, die Seilbahn zur Kirche Notre-Dame de la Garde oder der sich über Dutzende von Kilometern an der Mittelmeerküste erstreckende Hafen spätestens mit der Bewegung des Neuen Sehens viel besucht, gefilmt und fotografiert (Moholy-Nagy, Giedion, Bayer, Krull u.v.a.) worden. In der Kunst und im Alltagsgeschehen des frühen 20. Jahrhunderts verkörperten Maschinen und technische Anlagen mit ihren dynamischen Raumkonstellationen den Geist des Aufbruchs. Es herrschte die utopische Vorstellung, dass die Welt der Maschinen die existierende Welt von ihren Makeln befreien könne und deshalb die bessere und schönere sei.
Zur Marien-Wallfahrtskirche Notre-Dame de la Garde (1864) führte bis in die 1960er Jahre eine Standseilbahn, die Funicolare. Erbaut vier Jahrzehnte vor Sacre Coeur, als sich Paris und Marseille noch im edlen Wettstreit um die Krone der schönsten aller Städte Galliens befanden, thront auch sie auf einem Hügel und ist aus nahezu jedem Winkel des alten Hafens und der Innenstadt sichtbar. Die Standseilbahn war ein Meisterwerk frühindustrieller Ingenieurskunst, von deren Art es in Europa nur noch wenige Exemplare gibt (Capri, Neapel, Scarborough). Der Pont Transbordeur überspannte für einige Jahrzehnte als schwebende Transportbrücke das Becken des alten Hafens, markierte in seiner filigranen Stahlfachwerkkonstruktion die "Propyläen" zu einer industriellen Moderne, die schon damals die mittelalterliche Struktur des Vieux Port zu sprengen drohte; die Nationalsozialisten jagten ihn noch kurz vor Kriegsende in die Luft. In Pagnols Verfilmungen seiner Bühnenstücke aus den 1930er Jahren, der Marseiller Trilogie mit "Marius", "Fanny" und "César" als ihren Protagonisten, ist er noch in Aktion zu sehen.
Wie in den meisten französischen Großstädten hat sich auch in Marseille wenig mittelalterliche Bausubstanz erhalten; dennoch ist das Mittelalter hier wie anderswo an der Struktur von engmaschig verbundenen Straßen, Gassen und Plätzen abzulesen. In der Dritten Republik unter Napoleon II. wurden Städte wie Paris, Lyon, Bordeaux oder eben Marseille aufgeschlossen, die kleinparzellierte Bebauung früherer Jahrhunderte wich großzügigen Bürgervierteln, durch die spektakuläre Boulevards (Baron Haussmann!) neue Hauptverkehrsadern schlugen.
Beton wurde spätestens mit Le Corbusiers "Unité d'Habitation" (1947-52) ein Thema in der Hafenmetropole. Das gewaltige Scheibengebäude mit weit über 300 Wohneinheiten erhielt seinen Platz an einer der Ausfallstraßen Richtung Osten. Die "Mutter aller Wohnmaschinen" findet bis heute Nachahmer, die sich nicht scheuen, sogar aus den karstigen Gebirgszügen im Marseiller Hinterland weiße Wohntürme wie riesige Andachtskerzen wachsen zu lassen. Die Menschen brauchen Wohnraum. In Hafenstädten können die Banlieues sich nur in eine Richtung ausdehnen, und die liegt fernab vom Meer. Aber nicht nur sozial Benachteiligte wohnen hier, denn die eng bebaute Küste fasst längst nicht alle, die Wohneigentum begehren. (Der citoyen kauft eher, als dass er mietet!) Auch diese siedeln jetzt landeinwärts, da die zentral gelegenen Wohnungen aus der Dritten Republik (vergleichbar unserer Gründerzeit) ebenso wie Villen am Meer nur für wenige erschwinglich sind.
Die faszinierendste Verarbeitung von Stahl und Beton erleben gegenwärtig Museumsbauten. Mit dem MuCEM (Museum of European and Mediterrean Civilisations, Eröffnung 2013), am Vieux Port Marseilles direkt vor dem Fort Saint Jean gelegen und mit diesem durch eine Stahltraverse verbunden, die entfernt an den Pont Transbordeur erinnert, gelang den Architekten Rudy Ricciotti und Tilman Reichert ein Coup de Foudre moderner Museumsarchitektur: Der quaderförmige Bau beherbergt verschiedene Sammlungen und Museen, ist Erlebnisort, Kunstmesse, kulinarischer Treff- und grandioser Aussichtspunkt in einem. Die Lichtspiele der vorgehängten und über den beiden verglasten Seiten vorkragenden Außenhaut, deren anmutiges Muster Meeresgekräusel und Seetang assoziiert sowie das Dach des Gebäudes, welches den Blick auf die Altstadt, die Kathedrale La Major, Hafenanlagen und die zahllosen Buchten der Küstenlinie weitet, versöhnt mit einer seltsamen Farbgestaltung im Keller und der höhlenartigen Empfangshalle – an deren Kühle man sich bei großer Hitze aber womöglich labt wie an einem Schluck kühlen Wassers.
Eine ähnliche Erfrischung wird Sir Norman Foster im Sinn gehabt haben, als er für die Stirnseite des alten Hafenbassins einen Ort zum Verweilen entwarf, der wie eine riesige Haltestelle anmutet: Auf zarten geweißten Pfeilern ruht ein Flachdach wie der Hauch einer Silberfolie, dessen untere Seite komplett verspiegelt ist. Der Müßiggänger weiß hier einen lyrischen Himmel über sich, der, obschon metallisch glänzend, Schatten verheißt. Passanten, Flaneure, jegliche Bewegung wird "auf dem Kopf" gespiegelt und versetzt die Folie gleichsam in Rotation. Ein Windsegel ohne Wind, ein Parasol sans soleil, ein Himmel ohne Wolken, ein Deckenspiegel, der den Müßiggang des Flaneurs reflektiert – so betrachtet, ein architektonisches Philosophem und genial konzipierter Ausgangspunkt für einen Bummel auf Marseilles Prachtboulevard La Canebière. Dessen heutige Erscheinung ist nur noch schwacher Abglanz auf die Belle Époque, als elegante Cafés und Einzelhändler mit raffinierten Schaufensterauslagen die Kunden lockten und prachtvolle Bankhäuser oder Kontore hier ihren Sitz hatten. In deutlicher Mehrzahl begegnen dem Touristen auf der Canebière wie in ihren Seitenstraßen Menschen aus dem Maghreb, den ehemaligen französischen Kolonien. Sie handeln mit Fisch und Meeresfrüchten, bieten Gemüse oder heiße Maroni feil und brutzeln an arabischen Delikatessen. Nennenswerte Restaurants fanden wir allerdings keine, bis wir nach zwei Stunden des Herumirrens in einem Fischrestaurant mit Selbstbedienung landeten. Es war nicht schlecht, hielt aber keinen Vergleich zum exquisiten Lunch aus, zu dem uns am folgenden Tag als Einladende der Université Aix-Marseille unsere Freundin Nicole Colin bat. In fremden Städten braucht man Food-Scouts, sonst ist es düster. (Nur zur Erinnerung: Wie schnell wechseln in Berliner Restaurants die Köche! Was heute gut war, kann morgen schon enttäuschen.) Wir speisten in einem ehemaligen Weinkeller an der Cours Honoré d'Estienne d'Orves im Opéra-Viertel und wurden sehr fein bedient. Fotos im Restauranteingang gaben Auskunft darüber, dass noch vor gar nicht langer Zeit ein Parkhaus den länglichen Platz besetzte. Diese städtebauliche Zumutung wurde also widerrufen, der Cours hatte sein altes Aussehen zurückerhalten. Es wird dazugelernt!
Ja, das Essen im Reich der Gourmets und Gourmants – eine heikle Sache. Wie überall auf der Welt wird der Tourist gern und reichlich übers Ohr gehauen. Es ist schwer, mit hungrigem Magen immer auf dem Quivive zu sein, wenn man nicht wie Gene Hackman in "French Connection II" (John Frankenheimer, 1975), der in Marseille spielt, bereits mit einer Tafel Hershey-Schokolade zufrieden ist. Von der schmutzigen Drogen-Szene im Film, die zur Drehzeit die Altstadt noch voll im Griff hatte, war 2015 nichts mehr zu spüren – vermutlich deshalb, weil diese Viertel mittlerweile gentrifiziert und die Dealer weitergezogen sind. Walter Benjamin würde das Marseille der Zwanzigerjahre, das er in all seinen abstoßenden Facetten, aber auch in seiner Lebendigkeit großartig analysiert hat, nicht wiedererkennen. Apropos Drogen, es fiel uns gar nicht leicht, für den kranken Uli Arzneien aufzutreiben. Nasenspray eine unbekannte Gattung bei hiesigen Pharmazeuten. In Marseille kommen Schnupfen und Bronchitis offenbar so selten vor wie Badetage im November. Seither wissen wir, dass auch ein Nasenspray in die Medikamententasche gehört.
Was soll ich sagen, die Vorträge liefen erstaunlich gut und waren noch besser besucht. Wir fühlten uns dennoch glücklich, als wir am Flughafen Marignane unseren Leihwagen abholten, um ins beschauliche Aix-en-Provence zu fahren – ganze 25 Kilometer nordöstlich von Marseille gelegen. Die Universitätsstadt ist an Gediegenheit kaum zu überbieten und allenfalls dem hübschen Tübingen vergleichbar. Kein Wunder nun, dass beide Orte Partnerstädte sind. Wir hofften auf Sonne und wurden erhört. Für einen Café crème in einem der zahlreichen Restaurants auf dem Cours Mirabeau war es trotzdem zu kühl. Natürlich hatte ich während unseres Mirabeau-Korsos Jean-Paul Belmondo vor Augen, der in "À double tour" (1959) von Claude Chabrol unter denselben Platanen mit jeder niedlichen Mademoiselle flirtete – die Zigarette frech in den Mundwinkel geschoben, ein unwiderstehliches Lachen auf dem Boxergesicht.
Uli hatte uns im Nobel-Spa des Ortes ein Zimmer gebucht. Herrlich diese alten Grand Hotels mit ihrem altmodischen Charme, die – wenn man Glück hat – sogar einige letzte Einrichtungsdetails aus der Jahrhundertmitte ausstellen. Die Hoffnung auf ein paar Sauna-Runden, um der Erkältung den Garaus zu machen, war indes eitel. Im Kellergelass des Hotels fanden wir zwar Gemäuer aus römischen Zeiten, als die Thermalquellen von Aix entdeckt wurden, sowie Dutzende von Behandlungskabinen und Wasserbecken; wir erblickten den obligatorischen Pool, für den es draußen natürlich zu kalt war, doch die finnische Sauna scheint den Betreibern des "Spa Aquabella" nicht ins antike Thermalkonzept gepasst zu haben. Wie auch immer. Uli sah zögerlich einer Gesundung entgegen, während sich bei mir langsam die Viren ausbreiteten.
Der absolute Höhepunkt des Aix-Aufenthaltes war nach dem Besuch des Hotel de Caumont (es wurde die Sammlung des Prinzen von Liechtenstein präsentiert: Cranach, Rubens, van Dyck, Rembrandt et al.) unsere Visite im Atelier Paul Cézanne. Neben einem unscheinbaren Wohnviertel außerhalb des Zentrums versteckt sich das bescheidene, von Cézanne selbst gebaute Atelierhaus – einst umgeben von Olivenhainen und Feigenbäumen vor den Toren der Stadt – in einem natürlichen Garten. Cézanne arbeitete hier in den letzten fünf Jahren seines Lebens, vollendete die "Großen Badenden" und andere Spätwerke. Es ist immer risqué von der Aura eines Ortes zu sprechen, doch hier passt es: Das Atelier ist mit echten Utensilien wie kleinen Skulpturen, Geschirr, einem Kaffeekocher, Pinseln und Leinwänden bestückt. Für Cézanne fokussierte sich in dem hohen Atelierraum alles auf die Staffelei; es gab keinerlei Ablenkungen außer dem Vogelgezwitscher aus dem Garten und dem sanften Wechsel des Nordlichtes. Die Kuratoren vermieden ein steriles Sanieren des Gebäudes. Dafür muss man ihnen danken. Das gesamte Ensemble mit Zuweg, Landhaus und Garten kommt so unprätentiös daher wie zu Zeiten des Meisters – so vermutet man. Es bescheiden zu nennen, ist vielleicht nicht richtig. In ihrer Zentrierung um den schöpferischen Prozess wäre es genauer, die Atmosphäre als innerlich, womöglich sogar als mönchisch zu beschreiben. Cézanne brauchte damals viele Stunden, um von hier zum Mont Sainte-Victoire, einem seiner großen malerischen Themen, zu gelangen und sechzig Minuten zur Schlafwohnung in der Stadt. –
Aus diesem Jahrhundertwendefluidum wieder aufzutauchen und den Leihwagen aus der Siebzigerjahre-Siedlung nebenan zu holen, war ein höchst seltsames Gefühl.
Bei unserer letzten Station in Aix passten sie wieder, die Siebziger. Die Fondation Vasarely erhielt 1973-76 mitten auf dem Feld ein futuristisches Gebäude im Geschmack der Zeit. Eine passende Hülle für die überdimensionalen Leinwände des Op-Art-Meisters, der tatsächlich nur elf Jahre jünger war als László Moholy-Nagy! Eine Begegnung der beiden Ungarn in Paris, zu Beginn der 1930er Jahre, zum Beispiel in Brancusis Atelier – auszuschließen wäre sie nicht. Aber Welten trennten sie. Die schematische, nahezu maschinengenerierte Geometrie des Landsmannes wäre Moholy fremd gewesen, auch wenn sie Vasarely erst nach dessen Tod, 1946, entwickelte. Zuvor hatte er als Grafiker gearbeitet – ebenso wie der Bauhausmeister, neben all seinen anderen Berufungen!
Es ist immer ein wenig rätselhaft, wie "tauftrisch" alte Gemälde uns in Ausstellungen entgegentreten und wie gealtert und zerknittert die Moderne unserer Jugend erscheint. Hat es mit dem eigenen Altern zu tun oder mit der gewissenhaften Restaurierung eines Caravaggio, während an den vergilbten und nachgedunkelten Leinwänden von Andy Warhol, Jasper Johns, David Hockney oder Peter Blake der Zahn der Zeit nagt?
Vom unguten Zustand der Leinwände abgesehen, ist das Vasarely-Museum insgesamt ein schwerer Sanierungsfall: Die mit Auslegware tapezierten Wände sind verblichen, an den Nähten wölben sich die Polyäthylenmaterialien. Der Besucher muss auf Stolperstellen im Teppichboden achten, die Ruhebänke sind zerschlissen – kurz, seit seiner Eröffnung im Jahre 1976 wurde offensichtlich nicht am oder im Hause renoviert. Den im Museum herumlungernden und unverhohlenes Desinteresse zu Schau stellenden Schulklassen kann man nichts vormachen: Sie verhalten sich ihrer Umgebung gemäß mehr oder weniger rabauzig. Auch hier greift die "Broken windows"-Theorie: Wo bereits Verfall herrscht, wird auf nichts mehr Rücksicht genommen.
Wir fuhren weiter in den Osten, auf der Autobahn über Brignoles Richtung Cannes – der Sonne entgegen, die sich auf der Croisette bereits anschickte, hinter uns unterzugehen.
Cannes denn das wahr sein? (Pardonnez-moi.) Alles war so, wie man es sich vorgestellt hatte: der abgeschabte Charme des einst mondänen Seebades, die Blumenrabatten noch im November, der schmucklose Festivalpavillon, die Yachten am Pier und dauergewellte Ladies mit ihren Zwergpudeln. Wieso eigentlich werden die Klischees stets von der Wirklichkeit eingeholt? Und warum sollte der Mensch hier Urlaub machen wollen? Zumal es viel zu kalt war für einen Novembertag an der Côte d'Azur. Trotzdem trafen sich zahlreiche Sonnenanbeter am Strand, um noch das letzte Licht, das letzte Sonnenstündlein auszukosten. Ist es Herkunft, Tradition oder tatsächlich immer noch schick? Geld, zu viel oder zu wenig davon, zerstört das Denken. Liegt es daran?
Die letzte Station an diesem Tag sollte Juan-les-Pins sein. Wir hatten in Aix eine Siebzigerjahreanlage im Internet gebucht. Valérie, die Concièrge, war so reizend wie Véronique, die Air France-Stewardess auf dem Flug nach Marseille, und teilte uns ein luxuriöses Apartement im obersten Stock zu. Unsere Dachterrasse wäre bei etwas mehr Sonne ein Traum gewesen. Wir erfreuten uns an den Möglichkeiten. Bei der Einweihung des Komplexes konnte man wahrscheinlich noch aufs Meer schauen, inzwischen war alles verbaut worden. Ich hörte Peter Sarstedt als Dauerohrwurm: "Where do you go to my lovely (when you're alone in your bed?)", aus dem Jahr 1969. Die angebete und gleichzeitig schwer ironisierte Dame verbringt ihre Sommer an diesem Ort: "When you go on your summer vacation, you go to Juan-les-Pines.?With your carefully designed topless swimsuit, you get an even suntan, on your back and on your legs ..."?Ein typologischer Vergleich zwischen einem Badeanzug von Rudi Gernreich und der Villa Savoye von Corbusier zum Beispiel ist sicher nie gezogen worden. Auch ich will es an dieser Stelle nicht versuchen, aber lohnend wäre es schon.
Gute Architektur in Juan zu finden, ist nicht leicht. Das Stadtgebiet, zertrennt von den Gleisen des Côte d'Azur-Express', was an einigen Bahnbrücken nostalgisch-reizend wirkt, ist neben alten Ferienhäuschen und einigen wunderbaren Beispielen für Art Déco randvoll mit Architektur, die zwischen 1960 und 1980 errichtet wurde – wie eigentlich die gesamte Küste. Besser ausgestattete Exemplare dieser Bauphase sind gelegentlich jedoch gelungen: bodentiefe französische Fensterbänder hinter endlosen Balkongalerien; die Innenarchitektur großzügig, Mahagoni-Verkleidungen, die typischen Treppengeländer aus Holzpaneelen an Stahl und weite bepflanzte Innenhöfe. Die Gäste können sich, falls gewünscht, aus dem Weg gehen. Zur Hochsaison ist es überlaufen genug.
Das Mittelmeer kennt keinen wesentlichen Gezeitenwechsel. Der erste Eindruck ändert sich nie: Die Strände der Côte d'Azur bleiben schmal. Das Leben in kleinen Strandcafés und Bars, aus denen laute Schlagermusik selbst im November schallt, ist ohnehin das, was zählt. Es mag phantastische Villen auf der Landzunge zwischen Juan und Antibes geben, aber der Zitadellengestus der Reichen verhindert selbst dezente Einblicke. Die von Sarstedt besungene Partylöwin wird wohl eher hier ihre Sommer verbracht haben als im bürgerlichen Juan, das uns in seiner winterlich-spröden Atmosphäre angenehm war. Nur wenige Restaurants waren noch geöffnet, aber es gab einen Bio-Laden und natürlich Boulangeries, ohne deren herrlich buttrige Offenbarungen kein Frankreich-Urlaub perfekt wäre.
Der vorletzte Tag war reserviert für Nizza. Das Beste hatten wir, ohne es zu ahnen, an den Anfang des Ausfluges gesetzt: die Fondation Maeght [mæ:t], in den Bergen nordwestlich von Nizza gelegen. Josep Lluís Sert schuf Anfang der Sechzigerjahre für den Kunsthändler Aimé Maeght und dessen Frau Marguerite ein architektonisches Kleinod. Die Gebäude der Maeght-Stiftung bespielen einen Hügel oberhalb von Saint-Paul-de-Vence. Zwischen Kiefern und Pinien erwandert der Besucher wie in einer Zeitkapsel die Fünfziger- bis in den Pop-Aufbruch der Sechzigerjahre. Im anmutigen Wechsel erlebt er unterschiedlich hohe Baukörper, zwischen ihnen Terrassen, Höfe, Wasserbecken und Skulpturengärten. Die Fassaden aus siennafarbenem Ziegelstein und die Dachgartenbrüstungen sind geometrisch gegliedert. Treppenhäuser sowie Fensterfronten erhielten lichtbrechende Schmuckfachelemente aus Beton. Hinter geweißten Betonbändern verbergen sich die konstruktiven Elemente. Wie cornettes, die Flügelhauben alter französischer Nonnenhabits, sitzen u-förmige Eternitwellen auf den Dächern; eine Idee, die von Sert über dem Eingang umgekehrt variiert wurde. Die Kunstwerke der Sammlung Maeght aus der Moderne zwischen den Kriegen und aus der Nachkriegszeit erlebt man vor diesem Genius loci als blass.
Saint-Paul erlitt dasselbe Schicksal wie Dutzende malerische Bergdörfer an der Côte d'Azur (oder andere Orte), die, einmal für den Tourismus entdeckt, im Grunde für immer verdorben sind: Galerien für Pseudokunst, Neppläden und maßlos überteuerte Lokale hinterlassen einen schalen Geschmack. In Nizza erwartete uns Vergleichbares in städtischem Maßstab. Die Marktgassen der Altstadt, ähnlich eng und dunkel wie in Neapel, vermitteln noch ein wenig südländisches Flair und lassen ahnen, dass Nizza einst ein vitaler italienischer Hafen war. Der Blumenmarkt an den Kolonnaden der östlichen Promenade des Anglais sorgte im eingangs zitierten Hitchcock-Film für Lokalkolorit und ist ein Rausch an Farben und Gerüchen – es gibt sie noch, die guten Dinge! Die asphaltierte Promenade wirkt heute charakterlos, austauschbar, sans charme, und ist wie jene in Cannes als kleiner Film über die unterschiedlichen Baustile der vergangenen hundertundmehr Jahre abzulaufen – von der Belle Époque, über Jugendstil, Art Déco, die oft unterschätzten Nachkriegsbauten bis hin zum béton brut der Siebzigerjahre.
Doch sind wir vielleicht nostalgietrunken und deshalb zu ungeduldig in unserem Urteil über die Côte d'Azur, wie wir sie 2015 erlebten? – "Àpropos de Nice", in Jean Vigos legendärem Kurzfilm über Nizza im Jahre 1930 tummeln sich wie heute arme und reiche Müßiggänger auf der Promenade, die damals noch mit Granitplatten ausgelegt war. Bettelnde Sinti-Mädchen unter ihnen, Dandys, junge Frauen auf der Jagd nach sugar daddies, die Demi-monde beim Sonnenbad vor dem abendlichen Besuch im Casino. Alles wie gehabt, selbst der carnaval niçoise, die luxuriösen Yachten, das neapolitanische Flair, die Armut neben der Opulenz ... es ist alles vorhanden und mit Hilfe von Boris Kaufman, Vigos genialischem Kamera-Operateur aus der Vertov-Familie, zu einem poetischen Amalgam aus Bildern verdichtet, das bis heute nichts an Charme, Humor, Strahlkraft oder Sinnlichkeit eingebüßt hätte. Vielleicht haben wir einfach zu viele Filme, Bilder und Plätze des alten Europas gesehen ...
Der Boulevard Jean Jaurès, den als breites Vergnügungsband aus Rabatten, Grünanlagen und Springbrunnen die Fortifikation des Musée d'Art Moderne (1990 eröffnet, Architekt: Yves Bayard) aus Beton krönt, ließ uns erneut zweifeln. Wir befanden diese stadtplanerische Idee aus Asphalt, Beton und grünen Beeten für misslungen, doch ist uns die Geschichte dieses Ortes unbekannt. Selbst das Internet bietet keine nennenswerte Ausbeute an historischen Fakten. Ein Stadthistoriker könnte Auskunft geben; ihn müssten wir auf der nächsten Reise befragen.
Das Musée Matisse bildet, wenn man so möchte, den nördlichen Abschluss dieser innerstädtischen Schneise, der Nizza in eine moderne (der Westen) und eine historische (der Osten) Stadthälfte scheidet. Es ist fraglos auch der Höhepunkt eines jeden Tagesausfluges in eine Stadt, der ein Ruf vorauseilt, den sie heute nicht mehr unbedingt einzulösen vermag. Das 1963, neun Jahre nach dem Tod des Meisters eröffnete Museum in der Villa des Arènes zeigt einen Querschnitt durch sein Schaffen und liegt – gesegnet mit wunderbaren Ausblicken auf das Meer – in einen Park, weit genug entfernt vom lauten Zentrum. Die Ruhe nach dem städtischen Treiben ist unbeschreiblich und der Kontemplation vor des Meisters Scherenschnitten zuträglich.
Unsere Tour de Côte d'Azur näherte sich ihrem Ende. Den Sonntag bis zur Abgabe des Mietwagens und bis zu unserem frühabendlichen Rückflug, diesmal über Amsterdam, wollten wir einer gemütlichen Fahrt an der Küste entlang widmen. Von Juan-les-Pins über Cannes, Le Dramont, Saint-Raphaël, Sainte Maxime zuckelten wir bei Sonnenschein und mit viel Abschiedsweh, mais oui!, nach Saint-Tropez, das Uli noch nicht kannte. Möchtegerne und Parvenüs bevölkern das kleine Städtchen offenbar zu jeder Jahreszeit. Die Lokale waren überfüllt, das Meer vor lauter Riesenyachten kaum zu entziffern, und nein, man muss sich hier nicht aufhalten. Viel interessanter ist das Hinterland, das wir über Grimaud auf dem Wege zur Autobahn durchquerten. Intakte Wälder, verschwiegene Orte, Stille – sicher gäbe es hier bei einer längeren Reise einiges zu entdecken, was an einem Tag schier unmöglich war.
Die Suche nach einer Tankstelle zum vorgeschriebenen Befüllen des Tankes vor Abgabe des Leihautos entwickelte sich zum Horrortrip auf einem Flughafen aus Baustellen, Einbahnstraßen und Sackgassen. Die kryptische Ausschilderung erst beim zweiten Anlauf verstanden zu haben, lag gewiss an unserer eigenen betonharten Borniertheit. Wir schafften es so gerade pünktlich zum Flugsteig zu gelangen, der von Menschentrauben fast unkenntlich war. Was noch vor uns lag, sollte sich allerdings zu einem echten Albtraum entwickeln. Orkane tobten über Mitteleuropa, unser Zwischenstopp Amsterdam konnte zunächst nicht angeflogen werden. Als wir endlich gegen Mitternacht landeten, wurden wir in ein eisgekühltes Flughafenhotel verfrachtet, wo wir drei Stunden schlafen durften, bevor es am Montagmorgen des 30. November 2015, endlich nach Hause ging. Der Amsterdamer Flughafen Schipohl ist seither für mich ein Unort. – Uli war recht bald genesen; meine Grippe entpuppte sich als äußerst hartnäckiges Souvenir. Ich wurde sie erst gegen Ende Januar 2016 wieder los.
Àpropos béton: Bei einigen Recherchen – wer erinnerte sich nach anderthalb Jahren noch all der Küstenorte? – stieß ich auf ein Kuriosum. Jean-Luc Godard schuf lange vor seinem ersten abendfüllenden Spielfilm "À bout de souffle" (1960) den Dokumentarfilm "Opération Béton", über dessen Herstellungsjahr mit 1953, 1954 und 1955 wenig präzise Auskunft gegeben wird. Die Existenz dieses Films war mir bislang völlig unbekannt. Er beschreibt die Bauarbeiten am Grande Dixence Damm in den Alpen des Kantons Valais. Der Dixence ist der höchste Staudamm der Welt. Für seine Gewichtsstaumauer, höher als der Eiffelturm, musste ein ganzer Berg zu Beton zermahlen werden!
Den Godard wie auch Vigos "Àpropos de Nice" kann man auf YouTube anschauen. Beide dauern kaum länger als 20 Minuten. Et voilà!
Der Text ist unserem liebenswürdigen Nachbarn, dem Filmschaffenden und Künstler Werner Kließ gewidmet, der im Mai 2016 verstarb. Ich habe es zu meinem großen Bedauern nicht vollbracht, den Text noch zu seinen Lebzeiten fertigzustellen.
Jeannine Fiedler
Berlin, Februar 2017
oder: Begegnungen mit dem Baustoff des 20. Jahrhunderts
Eine Reise an die Côte d'Azur führte uns in das Marseille der kleinen Leute, wie sie Marcel Pagnol so liebenswert in seinen Bühnenstücken gezeichnet hatte. Wir pilgerten zum Jetset nach Saint-Tropez in der Hoffnung, wenigstens eine blonde Strähne Brigitte Bardots erspähen zu können. Damals hatte Bardot ihr Konterfei für Marianne, die französische Nationalfigur, zur Verfügung gestellt. Natürlich trafen wir sie nicht. Stattdessen prangte sie als Briefmarken-Marianne auf sämtlichen Postkarten, die in die Heimat verschickt wurden. Bis zu Gracia Patricia ins Fürstentum Monaco reichten weder Zeit noch Geld, denn es sollte – wie bei jedem Frankreich-Trip – die obligatorische Paris-Woche angehängt werden.
Filmbilder begleiteten uns auf Schritt und Tritt. Die schöne Grace lenkte "Über den Dächern von Nizza" (1955) ihr Cabriolet in aberwitzigem Tempo durch die Serpentinen, und Cary Grant stieg wie ein griechischer Gott aus jeder Bucht an den Strand der Côte d'Azur. Der Zauber des Kinos war ungebrochen.
Wir tourten in einem K 70, der in seinem "Eidotterorange", der Signalfarbe des Jahrzehnts, der wohl auffälligste PKW jenes Sommers gewesen sein muss. Hermann war ein grandioser Fahrer, der sich von den toutes directions an Kreuzungen und Kreisverkehren kaum beirren ließ. Es wurde gezeltet, wir mussten sparen. Trotz mitunter heftiger Debatten und eines schlimmen Sonnenstichs spricht die Erinnerung von einer lustigen, wenn auch nicht vollkommen unbeschwerten Reise: Die jungen Männer hatten ihr Studium gerade beendet, ich meines vor zwei Semestern begonnen. Der Ernst des Lebens pochte beharrlich auf Anerkennung.
Wir schreiben das Jahr 1978 – Bautätigkeiten an der Côte d'Azur auf sämtlichen Strecken, die wir erkundeten. Es war die Zeit, als am Reißbrett entwickelte Resorts wie Port Cogolin bei Saint-Tropez sich wie Metastasen ausbreiteten. Keine fünf Kilometer landeinwärts fanden wir indes noch die ursprüngliche Hinterland aus Wäldern und verschlafenen Dörfern.
Pagnol und Grace Kelly weilen lang nicht mehr unter uns. Wobei es der Fürstin bestimmt war, 1982 so zu Tode zu kommen, wie es die erwähnte Hitchcock-Sequenz fast prophezeit hatte – auf einer Küstenstraße zwischen Nizza und Monaco. Und Bardot wäre wohl noch heute prominente Trommlerin für den Front National, hätte sie nicht das Alter für solchen Klamauk überschritten. Gut befreundet ist sie dennoch mit dem Le Pen-Clan.
Kinotraum ist die Côte d'Azur heute noch während der Filmfestwoche in Cannes. In den übrigen 358 Tagen herrschen rechtsnationale Selbstzufriedenheit, gottlob selten der Albtraum des Terrors und BETON. Marion Maréchal-Le Pen, die Enkelin des Parteigründers und Nichte der mutmaßlich ersten Präsidentin der Fünften Republik (das hat sich Gott sei Dank nicht bewahrheitet, Juni 2017), Marine Le Pen, regiert im Département Vaucluse. Der Südosten mit den beiden anderen Départements Var und Alpes-Maritimes ist fest in der Hand der Rechtspopulisten. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand: Die Reichen wollen ihr Geld und ihr Savoir-vivre behalten; die Betonburgen in den Vorstädten Marseilles und Nizzas, die zum großen Teil von Algeriern, Marokkanern und anderen arabischen Anrainern des Mittelmeers besiedelt werden, wirken bedrohlich und sind es de facto auch. Die vorwiegend jungen Männer sind zu einem hohen Prozentsatz arbeitslos, frustriert und werden entsprechend erfolgreich vom IS rekrutiert. Touristen meiden diese Banlieues. Doch manchmal, wie im Sommer 2016, kommen die ferngesteuerten und gewaltbereiten Jungs eben in die schönen Küstenstädte und mähen mit einem LKW 84 Menschen von der Promenade. Àpropos de Nice. Die wollten sich vergnügen und das Leben genießen. Aber das ist heute alles nicht mehr so einfach.
Wir landeten im November 2015 in Marseille, zehn Tage nach den Anschlägen auf den Veranstaltungsort Bataclan, auf das Stade de France und auf weitere Orte in Paris. Frankreich befand sich noch immer in Schockstarre. Die Flughäfen machten allerdings Dienst nach Plan. Uli war schrecklich erkältet. Wir erwischten also eine terrorfreie Phase (so wird heute vom Reisen berichtet!). Der Flug zu meinen Vorträgen am Syndicat des Architèctes des Bouches-du-Rhône (für diesen hatten wir im September 2015 die Aufnahmen von der White City in Tel Aviv gemacht) und an der École Nationale Supérieure d'Architecture de Marseille, Luminy ("Der Vorkurs am Bauhaus") führte uns in ein bitterkaltes, vom Mistral tüchtig durchfegtes Marseille – gefühlte zwei statt der annoncierten neun Grad Celsius. Der Pool in unserem Hotel war kein Trost, sondern eher Hohn auf unsere Berliner Phantasie, dass das mediterrane Klima den einen oder anderen Badespaß erlauben könnte. Doch so abgehärtet wie die Volleyballspieler an dem winzigen Strandstück unterhalb des Palais du Pharo waren wir nicht, sind es nie gewesen. Wir schauten fasziniert auf Bikinis, Badehosen und die Muskeln der energisch und schwitzend Sport treibenden "Massilianer". – Wie schön, dass wir Menschen so unterschiedlich sind!
Das Hotel war fake news aus dem Netz. (Endlich ein Begriff, der auf alles passt!) Was hier als exquisite Lage mit Sicht auf den alten Hafen angepriesen wurde, befand sich realiter etwas erhöht über einer der meist befahrenen Routen aus der City zur Küstenstraße in die Viertel Bompard, Roucas-Blanc und zu den Stränden Richtung Osten nach Bandol und Sanary-sur-Mer. Die Sicht zum Hafen war verstellt durch Regierungsgebäude. – Wir nahmen es mit Gelassenheit, größere Aufregungen waren Ulis angeknackstem Zustand ohnehin abträglich. Im Supermarché besorgte ich Salz zum Gurgeln und Halspastillen. Ein Gang zum Arzt wurde dennoch unerlässlich.
Marseille hatte sich verändert. Wie auch anders in vierzig Jahren? Die größten Freuden des Franzosen? – Ganz wie der Nachbar rechts vom Rhein liebt der Gallier sein Auto und den Fußball über alles. Aber wohin mit all den stinkenden Vehikeln? In Paris wünscht man sich neben sechsspurigen Boulevards die Flügel der Nike von Samothrake aus dem Louvre nebenan, um der verpesteten Luft entschweben zu können. Im Geburtsort des Flaneurs verlässt der Tourist also die Straßen und geht zum Luftholen in die Parks.
Außer bei den wenigen ebenen Küstenlinien Aquitaniens, der Normandie oder des Languedoc-Roussillon sind Frankreichs Küsten felsig, schrundig, gebirgig, geradeso wie das Hinterland. Der Franzose musste für seine Küstenstraßen schon immer Tunnel bauen, sich der Landschaft anpassen. Aber er perforierte auch die Seineufer in Paris, früher verschwiegene Plätze für die Verliebten. Arkadentunnel säumen die Rhône in Lyon, und in Marseille untertunnelte er ganze Quartiere. All dies urbane Konglomerate mit den womöglich längsten und ältesten Stadttunnel der Welt. War Betunnelung an den Küsten unmöglich, wurde der unmittelbare Altbaubestand abgerissen und einplaniert, um Platz für sechs- bis achtspurige Autotrassen zu schaffen. Daneben blieben noch immer handtuchgroße Parzellen für 20-stöckige Wohntürme. Hier, auf der richtigen Seite gewohnt, ahhh, la mer Mediterranée, phantastische Sonnenuntergänge, Schiffe tanzen auf glitzernden Wellen. Landeinwärts erstrahlt die Morgensonne über dem Grauen, das Generationen korrupter Bürgermeister und Stadtverordneter mit ihren Duzfreunden aus der Bauwirtschaft verbrochen haben. Das alles ist irreversibel. Es ist nur konsequent, dass der Autofahrer für dieses Gruselkabinett, das ihm an diesen "Süpär-Highways" geboten wird, löhnen muss. So viel Hässlichkeit darf nicht umsonst sein!
Die Beschaulichkeit des alten Frankreich in seinen unmittelbaren Küstenregionen ist perdu. Wohin der Zug gehen würde, dafür hatte schon Jacques Tati in "Mon Oncle" (1958) die passende Gleichung gefunden, mit einem lachenden neben dem weinenden Auge. Das Lachen ist uns heute vergangen angesichts der zubetonierten Städte und Pisten. Der Fortschritt sei nicht aufzuhalten, heißt es – Fortschritt? Hoffentlich geht uns tatsächlich bald der Sand aus. Aber der Mensch ist erfinderisch, als Zerstörer wie als Planer.
Ja doch, es gibt Konstruktionen aus Beton und Stahl, die wir bestaunen. Marseille ist seit dem 19. Jahrhundert ein Mekka für Bewunderer technologischer Großtaten: Als Beispiele für Moderne sind Marseiller Industriebauten und Transportmittel wie die schwebende Brückenkonstruktion des Pont Transbordeur, die Seilbahn zur Kirche Notre-Dame de la Garde oder der sich über Dutzende von Kilometern an der Mittelmeerküste erstreckende Hafen spätestens mit der Bewegung des Neuen Sehens viel besucht, gefilmt und fotografiert (Moholy-Nagy, Giedion, Bayer, Krull u.v.a.) worden. In der Kunst und im Alltagsgeschehen des frühen 20. Jahrhunderts verkörperten Maschinen und technische Anlagen mit ihren dynamischen Raumkonstellationen den Geist des Aufbruchs. Es herrschte die utopische Vorstellung, dass die Welt der Maschinen die existierende Welt von ihren Makeln befreien könne und deshalb die bessere und schönere sei.
Zur Marien-Wallfahrtskirche Notre-Dame de la Garde (1864) führte bis in die 1960er Jahre eine Standseilbahn, die Funicolare. Erbaut vier Jahrzehnte vor Sacre Coeur, als sich Paris und Marseille noch im edlen Wettstreit um die Krone der schönsten aller Städte Galliens befanden, thront auch sie auf einem Hügel und ist aus nahezu jedem Winkel des alten Hafens und der Innenstadt sichtbar. Die Standseilbahn war ein Meisterwerk frühindustrieller Ingenieurskunst, von deren Art es in Europa nur noch wenige Exemplare gibt (Capri, Neapel, Scarborough). Der Pont Transbordeur überspannte für einige Jahrzehnte als schwebende Transportbrücke das Becken des alten Hafens, markierte in seiner filigranen Stahlfachwerkkonstruktion die "Propyläen" zu einer industriellen Moderne, die schon damals die mittelalterliche Struktur des Vieux Port zu sprengen drohte; die Nationalsozialisten jagten ihn noch kurz vor Kriegsende in die Luft. In Pagnols Verfilmungen seiner Bühnenstücke aus den 1930er Jahren, der Marseiller Trilogie mit "Marius", "Fanny" und "César" als ihren Protagonisten, ist er noch in Aktion zu sehen.
Wie in den meisten französischen Großstädten hat sich auch in Marseille wenig mittelalterliche Bausubstanz erhalten; dennoch ist das Mittelalter hier wie anderswo an der Struktur von engmaschig verbundenen Straßen, Gassen und Plätzen abzulesen. In der Dritten Republik unter Napoleon II. wurden Städte wie Paris, Lyon, Bordeaux oder eben Marseille aufgeschlossen, die kleinparzellierte Bebauung früherer Jahrhunderte wich großzügigen Bürgervierteln, durch die spektakuläre Boulevards (Baron Haussmann!) neue Hauptverkehrsadern schlugen.
Beton wurde spätestens mit Le Corbusiers "Unité d'Habitation" (1947-52) ein Thema in der Hafenmetropole. Das gewaltige Scheibengebäude mit weit über 300 Wohneinheiten erhielt seinen Platz an einer der Ausfallstraßen Richtung Osten. Die "Mutter aller Wohnmaschinen" findet bis heute Nachahmer, die sich nicht scheuen, sogar aus den karstigen Gebirgszügen im Marseiller Hinterland weiße Wohntürme wie riesige Andachtskerzen wachsen zu lassen. Die Menschen brauchen Wohnraum. In Hafenstädten können die Banlieues sich nur in eine Richtung ausdehnen, und die liegt fernab vom Meer. Aber nicht nur sozial Benachteiligte wohnen hier, denn die eng bebaute Küste fasst längst nicht alle, die Wohneigentum begehren. (Der citoyen kauft eher, als dass er mietet!) Auch diese siedeln jetzt landeinwärts, da die zentral gelegenen Wohnungen aus der Dritten Republik (vergleichbar unserer Gründerzeit) ebenso wie Villen am Meer nur für wenige erschwinglich sind.
Die faszinierendste Verarbeitung von Stahl und Beton erleben gegenwärtig Museumsbauten. Mit dem MuCEM (Museum of European and Mediterrean Civilisations, Eröffnung 2013), am Vieux Port Marseilles direkt vor dem Fort Saint Jean gelegen und mit diesem durch eine Stahltraverse verbunden, die entfernt an den Pont Transbordeur erinnert, gelang den Architekten Rudy Ricciotti und Tilman Reichert ein Coup de Foudre moderner Museumsarchitektur: Der quaderförmige Bau beherbergt verschiedene Sammlungen und Museen, ist Erlebnisort, Kunstmesse, kulinarischer Treff- und grandioser Aussichtspunkt in einem. Die Lichtspiele der vorgehängten und über den beiden verglasten Seiten vorkragenden Außenhaut, deren anmutiges Muster Meeresgekräusel und Seetang assoziiert sowie das Dach des Gebäudes, welches den Blick auf die Altstadt, die Kathedrale La Major, Hafenanlagen und die zahllosen Buchten der Küstenlinie weitet, versöhnt mit einer seltsamen Farbgestaltung im Keller und der höhlenartigen Empfangshalle – an deren Kühle man sich bei großer Hitze aber womöglich labt wie an einem Schluck kühlen Wassers.
Eine ähnliche Erfrischung wird Sir Norman Foster im Sinn gehabt haben, als er für die Stirnseite des alten Hafenbassins einen Ort zum Verweilen entwarf, der wie eine riesige Haltestelle anmutet: Auf zarten geweißten Pfeilern ruht ein Flachdach wie der Hauch einer Silberfolie, dessen untere Seite komplett verspiegelt ist. Der Müßiggänger weiß hier einen lyrischen Himmel über sich, der, obschon metallisch glänzend, Schatten verheißt. Passanten, Flaneure, jegliche Bewegung wird "auf dem Kopf" gespiegelt und versetzt die Folie gleichsam in Rotation. Ein Windsegel ohne Wind, ein Parasol sans soleil, ein Himmel ohne Wolken, ein Deckenspiegel, der den Müßiggang des Flaneurs reflektiert – so betrachtet, ein architektonisches Philosophem und genial konzipierter Ausgangspunkt für einen Bummel auf Marseilles Prachtboulevard La Canebière. Dessen heutige Erscheinung ist nur noch schwacher Abglanz auf die Belle Époque, als elegante Cafés und Einzelhändler mit raffinierten Schaufensterauslagen die Kunden lockten und prachtvolle Bankhäuser oder Kontore hier ihren Sitz hatten. In deutlicher Mehrzahl begegnen dem Touristen auf der Canebière wie in ihren Seitenstraßen Menschen aus dem Maghreb, den ehemaligen französischen Kolonien. Sie handeln mit Fisch und Meeresfrüchten, bieten Gemüse oder heiße Maroni feil und brutzeln an arabischen Delikatessen. Nennenswerte Restaurants fanden wir allerdings keine, bis wir nach zwei Stunden des Herumirrens in einem Fischrestaurant mit Selbstbedienung landeten. Es war nicht schlecht, hielt aber keinen Vergleich zum exquisiten Lunch aus, zu dem uns am folgenden Tag als Einladende der Université Aix-Marseille unsere Freundin Nicole Colin bat. In fremden Städten braucht man Food-Scouts, sonst ist es düster. (Nur zur Erinnerung: Wie schnell wechseln in Berliner Restaurants die Köche! Was heute gut war, kann morgen schon enttäuschen.) Wir speisten in einem ehemaligen Weinkeller an der Cours Honoré d'Estienne d'Orves im Opéra-Viertel und wurden sehr fein bedient. Fotos im Restauranteingang gaben Auskunft darüber, dass noch vor gar nicht langer Zeit ein Parkhaus den länglichen Platz besetzte. Diese städtebauliche Zumutung wurde also widerrufen, der Cours hatte sein altes Aussehen zurückerhalten. Es wird dazugelernt!
Ja, das Essen im Reich der Gourmets und Gourmants – eine heikle Sache. Wie überall auf der Welt wird der Tourist gern und reichlich übers Ohr gehauen. Es ist schwer, mit hungrigem Magen immer auf dem Quivive zu sein, wenn man nicht wie Gene Hackman in "French Connection II" (John Frankenheimer, 1975), der in Marseille spielt, bereits mit einer Tafel Hershey-Schokolade zufrieden ist. Von der schmutzigen Drogen-Szene im Film, die zur Drehzeit die Altstadt noch voll im Griff hatte, war 2015 nichts mehr zu spüren – vermutlich deshalb, weil diese Viertel mittlerweile gentrifiziert und die Dealer weitergezogen sind. Walter Benjamin würde das Marseille der Zwanzigerjahre, das er in all seinen abstoßenden Facetten, aber auch in seiner Lebendigkeit großartig analysiert hat, nicht wiedererkennen. Apropos Drogen, es fiel uns gar nicht leicht, für den kranken Uli Arzneien aufzutreiben. Nasenspray eine unbekannte Gattung bei hiesigen Pharmazeuten. In Marseille kommen Schnupfen und Bronchitis offenbar so selten vor wie Badetage im November. Seither wissen wir, dass auch ein Nasenspray in die Medikamententasche gehört.
Was soll ich sagen, die Vorträge liefen erstaunlich gut und waren noch besser besucht. Wir fühlten uns dennoch glücklich, als wir am Flughafen Marignane unseren Leihwagen abholten, um ins beschauliche Aix-en-Provence zu fahren – ganze 25 Kilometer nordöstlich von Marseille gelegen. Die Universitätsstadt ist an Gediegenheit kaum zu überbieten und allenfalls dem hübschen Tübingen vergleichbar. Kein Wunder nun, dass beide Orte Partnerstädte sind. Wir hofften auf Sonne und wurden erhört. Für einen Café crème in einem der zahlreichen Restaurants auf dem Cours Mirabeau war es trotzdem zu kühl. Natürlich hatte ich während unseres Mirabeau-Korsos Jean-Paul Belmondo vor Augen, der in "À double tour" (1959) von Claude Chabrol unter denselben Platanen mit jeder niedlichen Mademoiselle flirtete – die Zigarette frech in den Mundwinkel geschoben, ein unwiderstehliches Lachen auf dem Boxergesicht.
Uli hatte uns im Nobel-Spa des Ortes ein Zimmer gebucht. Herrlich diese alten Grand Hotels mit ihrem altmodischen Charme, die – wenn man Glück hat – sogar einige letzte Einrichtungsdetails aus der Jahrhundertmitte ausstellen. Die Hoffnung auf ein paar Sauna-Runden, um der Erkältung den Garaus zu machen, war indes eitel. Im Kellergelass des Hotels fanden wir zwar Gemäuer aus römischen Zeiten, als die Thermalquellen von Aix entdeckt wurden, sowie Dutzende von Behandlungskabinen und Wasserbecken; wir erblickten den obligatorischen Pool, für den es draußen natürlich zu kalt war, doch die finnische Sauna scheint den Betreibern des "Spa Aquabella" nicht ins antike Thermalkonzept gepasst zu haben. Wie auch immer. Uli sah zögerlich einer Gesundung entgegen, während sich bei mir langsam die Viren ausbreiteten.
Der absolute Höhepunkt des Aix-Aufenthaltes war nach dem Besuch des Hotel de Caumont (es wurde die Sammlung des Prinzen von Liechtenstein präsentiert: Cranach, Rubens, van Dyck, Rembrandt et al.) unsere Visite im Atelier Paul Cézanne. Neben einem unscheinbaren Wohnviertel außerhalb des Zentrums versteckt sich das bescheidene, von Cézanne selbst gebaute Atelierhaus – einst umgeben von Olivenhainen und Feigenbäumen vor den Toren der Stadt – in einem natürlichen Garten. Cézanne arbeitete hier in den letzten fünf Jahren seines Lebens, vollendete die "Großen Badenden" und andere Spätwerke. Es ist immer risqué von der Aura eines Ortes zu sprechen, doch hier passt es: Das Atelier ist mit echten Utensilien wie kleinen Skulpturen, Geschirr, einem Kaffeekocher, Pinseln und Leinwänden bestückt. Für Cézanne fokussierte sich in dem hohen Atelierraum alles auf die Staffelei; es gab keinerlei Ablenkungen außer dem Vogelgezwitscher aus dem Garten und dem sanften Wechsel des Nordlichtes. Die Kuratoren vermieden ein steriles Sanieren des Gebäudes. Dafür muss man ihnen danken. Das gesamte Ensemble mit Zuweg, Landhaus und Garten kommt so unprätentiös daher wie zu Zeiten des Meisters – so vermutet man. Es bescheiden zu nennen, ist vielleicht nicht richtig. In ihrer Zentrierung um den schöpferischen Prozess wäre es genauer, die Atmosphäre als innerlich, womöglich sogar als mönchisch zu beschreiben. Cézanne brauchte damals viele Stunden, um von hier zum Mont Sainte-Victoire, einem seiner großen malerischen Themen, zu gelangen und sechzig Minuten zur Schlafwohnung in der Stadt. –
Aus diesem Jahrhundertwendefluidum wieder aufzutauchen und den Leihwagen aus der Siebzigerjahre-Siedlung nebenan zu holen, war ein höchst seltsames Gefühl.
Bei unserer letzten Station in Aix passten sie wieder, die Siebziger. Die Fondation Vasarely erhielt 1973-76 mitten auf dem Feld ein futuristisches Gebäude im Geschmack der Zeit. Eine passende Hülle für die überdimensionalen Leinwände des Op-Art-Meisters, der tatsächlich nur elf Jahre jünger war als László Moholy-Nagy! Eine Begegnung der beiden Ungarn in Paris, zu Beginn der 1930er Jahre, zum Beispiel in Brancusis Atelier – auszuschließen wäre sie nicht. Aber Welten trennten sie. Die schematische, nahezu maschinengenerierte Geometrie des Landsmannes wäre Moholy fremd gewesen, auch wenn sie Vasarely erst nach dessen Tod, 1946, entwickelte. Zuvor hatte er als Grafiker gearbeitet – ebenso wie der Bauhausmeister, neben all seinen anderen Berufungen!
Es ist immer ein wenig rätselhaft, wie "tauftrisch" alte Gemälde uns in Ausstellungen entgegentreten und wie gealtert und zerknittert die Moderne unserer Jugend erscheint. Hat es mit dem eigenen Altern zu tun oder mit der gewissenhaften Restaurierung eines Caravaggio, während an den vergilbten und nachgedunkelten Leinwänden von Andy Warhol, Jasper Johns, David Hockney oder Peter Blake der Zahn der Zeit nagt?
Vom unguten Zustand der Leinwände abgesehen, ist das Vasarely-Museum insgesamt ein schwerer Sanierungsfall: Die mit Auslegware tapezierten Wände sind verblichen, an den Nähten wölben sich die Polyäthylenmaterialien. Der Besucher muss auf Stolperstellen im Teppichboden achten, die Ruhebänke sind zerschlissen – kurz, seit seiner Eröffnung im Jahre 1976 wurde offensichtlich nicht am oder im Hause renoviert. Den im Museum herumlungernden und unverhohlenes Desinteresse zu Schau stellenden Schulklassen kann man nichts vormachen: Sie verhalten sich ihrer Umgebung gemäß mehr oder weniger rabauzig. Auch hier greift die "Broken windows"-Theorie: Wo bereits Verfall herrscht, wird auf nichts mehr Rücksicht genommen.
Wir fuhren weiter in den Osten, auf der Autobahn über Brignoles Richtung Cannes – der Sonne entgegen, die sich auf der Croisette bereits anschickte, hinter uns unterzugehen.
Cannes denn das wahr sein? (Pardonnez-moi.) Alles war so, wie man es sich vorgestellt hatte: der abgeschabte Charme des einst mondänen Seebades, die Blumenrabatten noch im November, der schmucklose Festivalpavillon, die Yachten am Pier und dauergewellte Ladies mit ihren Zwergpudeln. Wieso eigentlich werden die Klischees stets von der Wirklichkeit eingeholt? Und warum sollte der Mensch hier Urlaub machen wollen? Zumal es viel zu kalt war für einen Novembertag an der Côte d'Azur. Trotzdem trafen sich zahlreiche Sonnenanbeter am Strand, um noch das letzte Licht, das letzte Sonnenstündlein auszukosten. Ist es Herkunft, Tradition oder tatsächlich immer noch schick? Geld, zu viel oder zu wenig davon, zerstört das Denken. Liegt es daran?
Die letzte Station an diesem Tag sollte Juan-les-Pins sein. Wir hatten in Aix eine Siebzigerjahreanlage im Internet gebucht. Valérie, die Concièrge, war so reizend wie Véronique, die Air France-Stewardess auf dem Flug nach Marseille, und teilte uns ein luxuriöses Apartement im obersten Stock zu. Unsere Dachterrasse wäre bei etwas mehr Sonne ein Traum gewesen. Wir erfreuten uns an den Möglichkeiten. Bei der Einweihung des Komplexes konnte man wahrscheinlich noch aufs Meer schauen, inzwischen war alles verbaut worden. Ich hörte Peter Sarstedt als Dauerohrwurm: "Where do you go to my lovely (when you're alone in your bed?)", aus dem Jahr 1969. Die angebete und gleichzeitig schwer ironisierte Dame verbringt ihre Sommer an diesem Ort: "When you go on your summer vacation, you go to Juan-les-Pines.?With your carefully designed topless swimsuit, you get an even suntan, on your back and on your legs ..."?Ein typologischer Vergleich zwischen einem Badeanzug von Rudi Gernreich und der Villa Savoye von Corbusier zum Beispiel ist sicher nie gezogen worden. Auch ich will es an dieser Stelle nicht versuchen, aber lohnend wäre es schon.
Gute Architektur in Juan zu finden, ist nicht leicht. Das Stadtgebiet, zertrennt von den Gleisen des Côte d'Azur-Express', was an einigen Bahnbrücken nostalgisch-reizend wirkt, ist neben alten Ferienhäuschen und einigen wunderbaren Beispielen für Art Déco randvoll mit Architektur, die zwischen 1960 und 1980 errichtet wurde – wie eigentlich die gesamte Küste. Besser ausgestattete Exemplare dieser Bauphase sind gelegentlich jedoch gelungen: bodentiefe französische Fensterbänder hinter endlosen Balkongalerien; die Innenarchitektur großzügig, Mahagoni-Verkleidungen, die typischen Treppengeländer aus Holzpaneelen an Stahl und weite bepflanzte Innenhöfe. Die Gäste können sich, falls gewünscht, aus dem Weg gehen. Zur Hochsaison ist es überlaufen genug.
Das Mittelmeer kennt keinen wesentlichen Gezeitenwechsel. Der erste Eindruck ändert sich nie: Die Strände der Côte d'Azur bleiben schmal. Das Leben in kleinen Strandcafés und Bars, aus denen laute Schlagermusik selbst im November schallt, ist ohnehin das, was zählt. Es mag phantastische Villen auf der Landzunge zwischen Juan und Antibes geben, aber der Zitadellengestus der Reichen verhindert selbst dezente Einblicke. Die von Sarstedt besungene Partylöwin wird wohl eher hier ihre Sommer verbracht haben als im bürgerlichen Juan, das uns in seiner winterlich-spröden Atmosphäre angenehm war. Nur wenige Restaurants waren noch geöffnet, aber es gab einen Bio-Laden und natürlich Boulangeries, ohne deren herrlich buttrige Offenbarungen kein Frankreich-Urlaub perfekt wäre.
Der vorletzte Tag war reserviert für Nizza. Das Beste hatten wir, ohne es zu ahnen, an den Anfang des Ausfluges gesetzt: die Fondation Maeght [mæ:t], in den Bergen nordwestlich von Nizza gelegen. Josep Lluís Sert schuf Anfang der Sechzigerjahre für den Kunsthändler Aimé Maeght und dessen Frau Marguerite ein architektonisches Kleinod. Die Gebäude der Maeght-Stiftung bespielen einen Hügel oberhalb von Saint-Paul-de-Vence. Zwischen Kiefern und Pinien erwandert der Besucher wie in einer Zeitkapsel die Fünfziger- bis in den Pop-Aufbruch der Sechzigerjahre. Im anmutigen Wechsel erlebt er unterschiedlich hohe Baukörper, zwischen ihnen Terrassen, Höfe, Wasserbecken und Skulpturengärten. Die Fassaden aus siennafarbenem Ziegelstein und die Dachgartenbrüstungen sind geometrisch gegliedert. Treppenhäuser sowie Fensterfronten erhielten lichtbrechende Schmuckfachelemente aus Beton. Hinter geweißten Betonbändern verbergen sich die konstruktiven Elemente. Wie cornettes, die Flügelhauben alter französischer Nonnenhabits, sitzen u-förmige Eternitwellen auf den Dächern; eine Idee, die von Sert über dem Eingang umgekehrt variiert wurde. Die Kunstwerke der Sammlung Maeght aus der Moderne zwischen den Kriegen und aus der Nachkriegszeit erlebt man vor diesem Genius loci als blass.
Saint-Paul erlitt dasselbe Schicksal wie Dutzende malerische Bergdörfer an der Côte d'Azur (oder andere Orte), die, einmal für den Tourismus entdeckt, im Grunde für immer verdorben sind: Galerien für Pseudokunst, Neppläden und maßlos überteuerte Lokale hinterlassen einen schalen Geschmack. In Nizza erwartete uns Vergleichbares in städtischem Maßstab. Die Marktgassen der Altstadt, ähnlich eng und dunkel wie in Neapel, vermitteln noch ein wenig südländisches Flair und lassen ahnen, dass Nizza einst ein vitaler italienischer Hafen war. Der Blumenmarkt an den Kolonnaden der östlichen Promenade des Anglais sorgte im eingangs zitierten Hitchcock-Film für Lokalkolorit und ist ein Rausch an Farben und Gerüchen – es gibt sie noch, die guten Dinge! Die asphaltierte Promenade wirkt heute charakterlos, austauschbar, sans charme, und ist wie jene in Cannes als kleiner Film über die unterschiedlichen Baustile der vergangenen hundertundmehr Jahre abzulaufen – von der Belle Époque, über Jugendstil, Art Déco, die oft unterschätzten Nachkriegsbauten bis hin zum béton brut der Siebzigerjahre.
Doch sind wir vielleicht nostalgietrunken und deshalb zu ungeduldig in unserem Urteil über die Côte d'Azur, wie wir sie 2015 erlebten? – "Àpropos de Nice", in Jean Vigos legendärem Kurzfilm über Nizza im Jahre 1930 tummeln sich wie heute arme und reiche Müßiggänger auf der Promenade, die damals noch mit Granitplatten ausgelegt war. Bettelnde Sinti-Mädchen unter ihnen, Dandys, junge Frauen auf der Jagd nach sugar daddies, die Demi-monde beim Sonnenbad vor dem abendlichen Besuch im Casino. Alles wie gehabt, selbst der carnaval niçoise, die luxuriösen Yachten, das neapolitanische Flair, die Armut neben der Opulenz ... es ist alles vorhanden und mit Hilfe von Boris Kaufman, Vigos genialischem Kamera-Operateur aus der Vertov-Familie, zu einem poetischen Amalgam aus Bildern verdichtet, das bis heute nichts an Charme, Humor, Strahlkraft oder Sinnlichkeit eingebüßt hätte. Vielleicht haben wir einfach zu viele Filme, Bilder und Plätze des alten Europas gesehen ...
Der Boulevard Jean Jaurès, den als breites Vergnügungsband aus Rabatten, Grünanlagen und Springbrunnen die Fortifikation des Musée d'Art Moderne (1990 eröffnet, Architekt: Yves Bayard) aus Beton krönt, ließ uns erneut zweifeln. Wir befanden diese stadtplanerische Idee aus Asphalt, Beton und grünen Beeten für misslungen, doch ist uns die Geschichte dieses Ortes unbekannt. Selbst das Internet bietet keine nennenswerte Ausbeute an historischen Fakten. Ein Stadthistoriker könnte Auskunft geben; ihn müssten wir auf der nächsten Reise befragen.
Das Musée Matisse bildet, wenn man so möchte, den nördlichen Abschluss dieser innerstädtischen Schneise, der Nizza in eine moderne (der Westen) und eine historische (der Osten) Stadthälfte scheidet. Es ist fraglos auch der Höhepunkt eines jeden Tagesausfluges in eine Stadt, der ein Ruf vorauseilt, den sie heute nicht mehr unbedingt einzulösen vermag. Das 1963, neun Jahre nach dem Tod des Meisters eröffnete Museum in der Villa des Arènes zeigt einen Querschnitt durch sein Schaffen und liegt – gesegnet mit wunderbaren Ausblicken auf das Meer – in einen Park, weit genug entfernt vom lauten Zentrum. Die Ruhe nach dem städtischen Treiben ist unbeschreiblich und der Kontemplation vor des Meisters Scherenschnitten zuträglich.
Unsere Tour de Côte d'Azur näherte sich ihrem Ende. Den Sonntag bis zur Abgabe des Mietwagens und bis zu unserem frühabendlichen Rückflug, diesmal über Amsterdam, wollten wir einer gemütlichen Fahrt an der Küste entlang widmen. Von Juan-les-Pins über Cannes, Le Dramont, Saint-Raphaël, Sainte Maxime zuckelten wir bei Sonnenschein und mit viel Abschiedsweh, mais oui!, nach Saint-Tropez, das Uli noch nicht kannte. Möchtegerne und Parvenüs bevölkern das kleine Städtchen offenbar zu jeder Jahreszeit. Die Lokale waren überfüllt, das Meer vor lauter Riesenyachten kaum zu entziffern, und nein, man muss sich hier nicht aufhalten. Viel interessanter ist das Hinterland, das wir über Grimaud auf dem Wege zur Autobahn durchquerten. Intakte Wälder, verschwiegene Orte, Stille – sicher gäbe es hier bei einer längeren Reise einiges zu entdecken, was an einem Tag schier unmöglich war.
Die Suche nach einer Tankstelle zum vorgeschriebenen Befüllen des Tankes vor Abgabe des Leihautos entwickelte sich zum Horrortrip auf einem Flughafen aus Baustellen, Einbahnstraßen und Sackgassen. Die kryptische Ausschilderung erst beim zweiten Anlauf verstanden zu haben, lag gewiss an unserer eigenen betonharten Borniertheit. Wir schafften es so gerade pünktlich zum Flugsteig zu gelangen, der von Menschentrauben fast unkenntlich war. Was noch vor uns lag, sollte sich allerdings zu einem echten Albtraum entwickeln. Orkane tobten über Mitteleuropa, unser Zwischenstopp Amsterdam konnte zunächst nicht angeflogen werden. Als wir endlich gegen Mitternacht landeten, wurden wir in ein eisgekühltes Flughafenhotel verfrachtet, wo wir drei Stunden schlafen durften, bevor es am Montagmorgen des 30. November 2015, endlich nach Hause ging. Der Amsterdamer Flughafen Schipohl ist seither für mich ein Unort. – Uli war recht bald genesen; meine Grippe entpuppte sich als äußerst hartnäckiges Souvenir. Ich wurde sie erst gegen Ende Januar 2016 wieder los.
Àpropos béton: Bei einigen Recherchen – wer erinnerte sich nach anderthalb Jahren noch all der Küstenorte? – stieß ich auf ein Kuriosum. Jean-Luc Godard schuf lange vor seinem ersten abendfüllenden Spielfilm "À bout de souffle" (1960) den Dokumentarfilm "Opération Béton", über dessen Herstellungsjahr mit 1953, 1954 und 1955 wenig präzise Auskunft gegeben wird. Die Existenz dieses Films war mir bislang völlig unbekannt. Er beschreibt die Bauarbeiten am Grande Dixence Damm in den Alpen des Kantons Valais. Der Dixence ist der höchste Staudamm der Welt. Für seine Gewichtsstaumauer, höher als der Eiffelturm, musste ein ganzer Berg zu Beton zermahlen werden!
Den Godard wie auch Vigos "Àpropos de Nice" kann man auf YouTube anschauen. Beide dauern kaum länger als 20 Minuten. Et voilà!
Der Text ist unserem liebenswürdigen Nachbarn, dem Filmschaffenden und Künstler Werner Kließ gewidmet, der im Mai 2016 verstarb. Ich habe es zu meinem großen Bedauern nicht vollbracht, den Text noch zu seinen Lebzeiten fertigzustellen.
Jeannine Fiedler
Berlin, Februar 2017
Samstag, 18. März 2017
Von der Uneigentlichkeit des Seins, sozusagen
Leserbrief auf den Artikel "It's like" von Ulf Erdmann Ziegler, FAZ, 04.03.2017
Stehenden Fußes, sozusagen, möchte eine Erwiderung sich Bahn brechen, sich soz'sagen Gehör verschaffen.
Worum geht es? Ulf Erdmann Ziegler schreibt von Beobachtungen, doch will er selbstverständlich keine Kurzstudie zur amerikanischen Gebärdensprache vorlegen. Es geht um die unlängst gemachten 'Hörungen' des Linguisten während eines Stipendiums auf den Straßen von New York. Im Herbst. Anno 2016.
Der aufmerksame Zeitgenosse und Amateurphänomenologe liest und staunt nicht schlecht. Yo, bro, what an astute observation you've made!
The "likes" and their likes zerren an den Nerven, wer möchte das bestreiten? Denn auch durch Berlin und andere Megalopolen des alten Kontinents ziehen Horden von amerikanischen college kids, like talking to each other like stuttering. Dem Teenagerslang wurde ein mechanischer Stotterer eingebaut, der die Sprache verunreinigt wie ein Tropfen Zuckerwassers die Tankfüllung. Seither hat der Redefluss ein Anlasserproblem und stammert wie ein verunreinigter Otto-Motor.
Der Linguist hat diese aural sculptures fein beschrieben. Nur zog er daraus keine Schlüsse. Auch die Chronologie ist deutlich zu kurz gefasst.
Sprachliche Verschleifungen, Füllwörter, Redensarten, street talk and garbling geben Auskunft über unsere amerikolonisierte consumers' culture. Es gibt haarfeine mentale Spaltungen ebenso wie Entsprechungen im Mare Germanicum der englischen und deutschen Dialekte.
Dass sich über den "like" button von facebook die "likes" natürlich in sämtliche Bewertungsformatierungen der social media eingeschlichen haben – like it or not, it's a fact. Wobei es auch ein "nice, fab, great, cool, awesome" täte. Aber nein, hier ist das "like" wieder an einen urteilenden Autor gebunden, subjektiviert sich so to speak und erhält durch den Prozess der Wertung eine andere Qualität, die des Vorzuggebens.
Handelt es sich um einen Auswuchs politischer Korrektheit, der mit der Gleichmacherei der "likes" noch jeden Unterschied in der Dingwelt einebnen möchte? Wenn nichts mit einer exakten Entsprechung benannt werden kann, die ein "like" überflüssig machte, würde auch jede Semantik ihre Bedeutung verlieren. Eine Welt von Gleichen unter Gleichen. Ein Paradies.
Oder versucht die Alltagsprosa weißer rich kids, auf seltsame Weise eine Hip-Hop-Melodie zu imitieren, wobei ihr nöliger Singsang selbstredend jener schwarzen Rhythmik entbehrt, die schon tänzerische Darbietungen von Afroamerikanern aufs Anmutigste von jenen aus W.A.S.P. suburbia unterscheidet?
Wir scheinen hier womöglich ins Schwarze oder ins Weiße (der political correctness halber) getroffen zu haben: Frank Zappa – als Dekonstrukteur, Komponist, Pop-Avantgardist und, ja, begnadeter Linguist viel zu früh abgetreten – weiß die Antwort. Seine galligen Verballhornungen der La la Landsleute fanden unmittelbaren Eingang in seine Songtexte. Die 'Hörungen' seiner nicht minder intelligenten Tochter Moon, die im zarten Alter von 14 Jahren unter den Mitschülerinnen im Valley kulturanthropologische Studien vornahm, verarbeiteten sie gemeinsam in den lyrics des einzigen Zappa-Top 40-Hits: "Valley Girl" ...
She's a Valley Girl
In a clothing store
Like, OH MY GOD! (Valley Girl)
Like - TOTALLY (Valley Girl)
Encino is like SO BITCHEN (Valley Girl)
There's like the Galleria (Valley Girl)
And like all these like really great shoe stores
I love going into like clothing stores and stuff
I like buy the neatest mini-skirts and stuff
It s like so BITCHEN cuz like everybody's like
Super-super nice
It's like so BITCHEN
On Ventura, there she goes
She just bought some bitchen clothes
Tosses her head 'n flips her hair
She got a whole bunch of nothin in there
Anyway, he goes are you into S and M?
I go, oh RIGHT .
Could you like just picture me in like a
LEATHER TEDDY
Yeah right, HURT ME, HURT ME...
I'm sure! NO WAY!
He was like freaking me out...
He called me a BEASTIE...
That's cuz like he was totally BLITZED
He goes like BAG YOUR FACE!
I'm sure!
Valley Girl
She's a Valley Girl
Valley Girl
She's a Valley Girl
Okay, fine...
Fer sure, fer sure
andsoforth ...
der allerdings sollte langen Nachhall haben. Das "Valley" ist ein nordöstlich von Hollywood gelegenes Tal zwischen Encino und San Fernando. Hier lebt der Mittelstand mit seinen verwöhnten brats, für den Brentwood und Bel Air unerschwinglich sind; unter anderen arbeitet hier die weltweit größte Porno-Industrie, was in den lyrics anklingt. Kluge Menschen beschreiben die Historiografie des Stückes auf American Wiki: "Though intended as a parody, the single popularized the Valley Girl stereotype nationwide [still happening today, we might want to add]. Following the single's release, there was a significant increase in "VALSPEAK" slang usage, whether ironically spoken or not." –
Kurz zur Erinnerung, dass es oft nur e i n e s Multiplikators bedarf: Nena in Dieter-Thomas Hecks Hitparade fand alles "geil". Fortan machte sich die bundesrepublika-nische Vorwende-Jugend das Geilfinden zu eigen – schnieke, knorke, klasse, super, das war vorgestern. Die 1980er Jahre, das geile Jahrzehnt, aber nur im Westen.
Yes, fer sure, wir schreiben bei der Veröffentlichung der Zappa-Single den Juni des Jahres 1982. Das nun endlich lokalisierte Phänomen ist heuer stolze 35 Jahre alt und so lebendig wie je. Von Ironie kann allerdings in unserer ironiefreien Gegenwart keine Rede mehr sein. Aber wurde der "VALSPEAK" je ironisch verwendet? Offensichtlich war er bei seiner Erfindung eine rein weibliche Sprachfigur. Zappas Ironie hingegen ist legendär gewesen und zog alles und jeden durch den bitteren Kakao des Kulturkritikers, der er natürlich auch war.
Warum also lässt der Schwachsinn sich niemals eindämmen? Woran liegt es?
Daran, dass sich die Jugend – neben aller Klugscheißerei, die es Gott sei Dank noch gibt – partout nicht festlegen möchte? Alles ist "irgendwie", nur wie genau, weiß man "halt" noch nicht. "Nein, wirklich?" Neue umgangssprachliche Wendungen winden sich "sozusagen" im Halbjahresturnus durch unseren Alltag. Sie zersetzen Klarheit des Satzbaus, Schärfe der Rhetorik, zerfasern jegliches Narrativ, oft genug auch deren Logik, wabern an der Oberfläche der Wortteiche wie unausrottbare Entengrütze und sprechen in ihrer sintflutartigen Verwendung vor allem vom Befinden des Nutzers, sich der Uneigentlichkeit des Seins überantwortet zu haben. "Genau, genau!"
Wer sich vom Wesen der Dinge einen Begriff machen, eine eigene Anschauung von der Welt gewinnen konnte, muss nicht ins "like", ins "sozusagen", ins "pour ainsi dire" abrutschen.
Reden wir also von sprachlichen Zuständen, die mit Lebensaltern einhergehen? Mit einer gewissen Reife und dem gerühmten Erfahrungsschatz wären sie zu überwinden? ... der angelsächsische Hang zur Individualität legt dies nahe. Adulte Sprachkuriositäten besitzen einen starken Eigencharakter und sind nicht mehr gruppenkonform. Es hat sich soz'sagen ausge-like-t. Neue Generationen von teenage twitter machines übernehmen derweil.
Endlich die Pointe: In Deutschland ist alles anders, "irgendwie" gründlicher, langlebiger "halt", weil "gut gemacht", made by germs, exactly. Denn es keimt bei uns das "Sozusagen" erst bei dem Erwachsenen, genauer: beim erwachsenen Bildungsbürger und als Nebengleis: beim Kinde des Bildungsbürgers. Wir müssen einfach gründlich sein. Es ist unsere Natur.
In jeder zweiten Vorlesung, in jeder Eröffnungsrede oder Ansprache lautet das am häufigsten eingesetzte Wort "sozusagen". Es ist zum die Wände der Vortragssäle hochgehen. Ein Sachverhalt unter Gästen, die Gebrauchsanweisung durch den Ingeniör – hat man sich mal drauf eingeschossen, hört man nichts anderes mör. Stellungnahmen der Politiker ... "das ist sozusagen die Lage der Nation", unbeholfenes Lächeln in die Kamera, Raute, Schnitt. –
Was ist in die Leute gefahren, vertrauen sie der eigenen Sprache nicht? Nicht den eigenen Gedanken und Ideen? Alles verharrt in der Unbestimmtheit des "Sozusagen". An diesem Punkt kommen wir mit dem Ersatz von "ähs" und "ähms" im Redefluss nicht weiter. Auf subtile Art wird an Aulatüren wie vorm Plenarsaal Verantwortung abgegeben. Wir leben in einer Welt voller Ungereimtheiten, kein Zweifel. Obwohl wir enorme Wissensberge anhäufen, wird unser Zustand je mehr wir erkennen, desto instabiler. Das "Sozusagen" möchte Brücken bauen zwischen dem kaum Greifbaren hier und dort. Schwankende Hängebrücken durch das Dickicht der Unwägbarkeiten. Ein Adverb als mentaler Stempel auf unserer Sprache. Der Gemütsknick äußert sich nicht mehr in kantig zerteilten Sofakissen, sondern in unserer alltäglichen Kommunikation und Geistesverfassung.
Aber meinen wir nur das gesprochene Wort – geäußert in der Jetztzeit?
Wenn wir daran gehen, die letzten Geheimnisse aufzudecken, die die deutsche Hochsprache noch in der Hinterhand hält, können wir nicht umhin, einigen Literaturfürsten des vergangenen Jahrhunderts "sozusagen" das Kaninchen aus dem Hut zu zaubern: Die "Strudlhofstiege" (1951) hält mindestens zwei "Sozusagen" pro Seite parat. Das möchte mit viel gutem Willen und Sympathie für den Wiener Schmäh Heimito von Doderers angehen: Küss' der gnädigen Frau die Hand und tritt' ihr sozusagen gleichzeitig in den Allerwertesten.
Aber im Buch aller Bücher, des Deutschen Literatur-Urmeter, an welchem in eterno alles zu messen sei? Wer wäre auf einen Schnitt von 42 "Sozusagen" (zwei "gewissermaßen" wurden als ad verbum-Zwillinge mitnotiert) auf 984 Seiten des "Zauberbergs" gekommen? Eines auf jeder zweikommadritten Seite. (Diese unsere Erhebung fand zur Jahrtausendwende statt.)
Thomas Mann schreibt in seiner Todesfuge über ein Lungensanatorium von der Uneigentlichkeit des Todes, dieser "verdammten Schweinerei" (Bazon Brock), die nie ein Ende haben wird. Ihm gelang 1924 das literarische Interludium der Sensenmänner, angesiedelt in der friedfertigen Schweiz, zwischen den Metzeleien der großen Kriege: ", ... Ein Sterbender ist doch sozusagen heilig, sollte ich meinen!'" (nach der Erstausgabe, S. 81) An anderer Stelle: " ... es sei nicht Formlosigkeit, sondern Überform, der Tod als Form, sozusagen, nicht Todesauflösung, sondern Todesstrenge, schwarz, vornehm und blutig." (ebda., S. 690) Mann verwendet das Adverb wie ein "als ob". Angesichts der Unfasslichkeit des Todes und tödlicher Gewissheit oszilliert sein Sanatorium zwischen Philosophenschule von Athen/Davos und letzter Station vor der Querung des Styx. –
Als Aperçu am Rande, lässt sich Mann wie über Tod, Gott und die Welt auch über Redensarten aus. Eine Patientin liebt und hegt sie unverdrossen, während sie dem jungen Hans Castorp "ihrer Abgeschmacktheit und modisch ordinären Verbrauchtheit wegen, auf die Nerven gingen, wie zum Beispiel: 'Das ist die Höhe!' oder: 'Du ahnst es nicht!' Und da die Bezeichnung 'blendend', die das Modemaul lange Zeit für 'glänzend' oder 'vorzüglich' gebraucht hatte, sich als gänzlich ausgelaugt, entkräftet, prostituiert und sohin veraltet erwies, so warf sie sich auf das Neueste, nämlich das Wort 'verheerend', und fand nun, im Ernst oder höhnischerweise, alles 'verheerend' ..." (ebda., S. 411f)
Schon vor knapp hundert Jahren beklagte unser Mann demnach ähnliche Sprachmiseren, deren Herkunft aus plumpem Nachplappern, gruppendynamischen Zwängen, Ironie oder Hohn nicht eindeutig zu klären sei. Nirgends ein Hauch von Trost? Vielleicht aus dieser Warte: Wurde nicht auch ein Quantensprung vollzogen zwischen der Uneigentlichkeit des Todes damals und jener unseres Lebens heute? So exklusiv sich die "likes" aus dem "VALSPEAK" den Oberflächenreizen und Lustbarkeiten der Konsumkultur widmen, so wankend der Boden unter den Füßen der "Sozusagen"-Adepten – alle sprechen, stottern, stammern wir vom Leben, nicht wahr?
Oder aus jener: Die Moden wechseln mit den Jahreszeiten. Wir dürfen auf weniger "ausgelaugte" und "entkräftete" Redensarten hoffen, auch wenn sich die hier beschriebenen sozusagen hartnäckig eingenistet haben.
Warum fiel Ulf Erdmann Ziegler dieser Vergleich beim Verfassen seiner linguistischen Plauderei nicht umstandslos vor die Feder?
P.S.: LeserInnen einer Wochen-FAZ müssen lange suchen, um die Inthronisierung des Verfassers allein über die Mittel der Gestaltung zu erleben: der Haupttitel tomatenrot, die Autornennung in kursiver Serife. Es hätte niemanden verwundert, wenn das "Von" in die zweite Zeile gerutscht wäre – aus Versehen oder besser noch: als ironischer Lapsus.
Es gibt sie also doch noch.
Jeannine Fiedler, März 2017
Stehenden Fußes, sozusagen, möchte eine Erwiderung sich Bahn brechen, sich soz'sagen Gehör verschaffen.
Worum geht es? Ulf Erdmann Ziegler schreibt von Beobachtungen, doch will er selbstverständlich keine Kurzstudie zur amerikanischen Gebärdensprache vorlegen. Es geht um die unlängst gemachten 'Hörungen' des Linguisten während eines Stipendiums auf den Straßen von New York. Im Herbst. Anno 2016.
Der aufmerksame Zeitgenosse und Amateurphänomenologe liest und staunt nicht schlecht. Yo, bro, what an astute observation you've made!
The "likes" and their likes zerren an den Nerven, wer möchte das bestreiten? Denn auch durch Berlin und andere Megalopolen des alten Kontinents ziehen Horden von amerikanischen college kids, like talking to each other like stuttering. Dem Teenagerslang wurde ein mechanischer Stotterer eingebaut, der die Sprache verunreinigt wie ein Tropfen Zuckerwassers die Tankfüllung. Seither hat der Redefluss ein Anlasserproblem und stammert wie ein verunreinigter Otto-Motor.
Der Linguist hat diese aural sculptures fein beschrieben. Nur zog er daraus keine Schlüsse. Auch die Chronologie ist deutlich zu kurz gefasst.
Sprachliche Verschleifungen, Füllwörter, Redensarten, street talk and garbling geben Auskunft über unsere amerikolonisierte consumers' culture. Es gibt haarfeine mentale Spaltungen ebenso wie Entsprechungen im Mare Germanicum der englischen und deutschen Dialekte.
Dass sich über den "like" button von facebook die "likes" natürlich in sämtliche Bewertungsformatierungen der social media eingeschlichen haben – like it or not, it's a fact. Wobei es auch ein "nice, fab, great, cool, awesome" täte. Aber nein, hier ist das "like" wieder an einen urteilenden Autor gebunden, subjektiviert sich so to speak und erhält durch den Prozess der Wertung eine andere Qualität, die des Vorzuggebens.
Handelt es sich um einen Auswuchs politischer Korrektheit, der mit der Gleichmacherei der "likes" noch jeden Unterschied in der Dingwelt einebnen möchte? Wenn nichts mit einer exakten Entsprechung benannt werden kann, die ein "like" überflüssig machte, würde auch jede Semantik ihre Bedeutung verlieren. Eine Welt von Gleichen unter Gleichen. Ein Paradies.
Oder versucht die Alltagsprosa weißer rich kids, auf seltsame Weise eine Hip-Hop-Melodie zu imitieren, wobei ihr nöliger Singsang selbstredend jener schwarzen Rhythmik entbehrt, die schon tänzerische Darbietungen von Afroamerikanern aufs Anmutigste von jenen aus W.A.S.P. suburbia unterscheidet?
Wir scheinen hier womöglich ins Schwarze oder ins Weiße (der political correctness halber) getroffen zu haben: Frank Zappa – als Dekonstrukteur, Komponist, Pop-Avantgardist und, ja, begnadeter Linguist viel zu früh abgetreten – weiß die Antwort. Seine galligen Verballhornungen der La la Landsleute fanden unmittelbaren Eingang in seine Songtexte. Die 'Hörungen' seiner nicht minder intelligenten Tochter Moon, die im zarten Alter von 14 Jahren unter den Mitschülerinnen im Valley kulturanthropologische Studien vornahm, verarbeiteten sie gemeinsam in den lyrics des einzigen Zappa-Top 40-Hits: "Valley Girl" ...
She's a Valley Girl
In a clothing store
Like, OH MY GOD! (Valley Girl)
Like - TOTALLY (Valley Girl)
Encino is like SO BITCHEN (Valley Girl)
There's like the Galleria (Valley Girl)
And like all these like really great shoe stores
I love going into like clothing stores and stuff
I like buy the neatest mini-skirts and stuff
It s like so BITCHEN cuz like everybody's like
Super-super nice
It's like so BITCHEN
On Ventura, there she goes
She just bought some bitchen clothes
Tosses her head 'n flips her hair
She got a whole bunch of nothin in there
Anyway, he goes are you into S and M?
I go, oh RIGHT .
Could you like just picture me in like a
LEATHER TEDDY
Yeah right, HURT ME, HURT ME...
I'm sure! NO WAY!
He was like freaking me out...
He called me a BEASTIE...
That's cuz like he was totally BLITZED
He goes like BAG YOUR FACE!
I'm sure!
Valley Girl
She's a Valley Girl
Valley Girl
She's a Valley Girl
Okay, fine...
Fer sure, fer sure
andsoforth ...
der allerdings sollte langen Nachhall haben. Das "Valley" ist ein nordöstlich von Hollywood gelegenes Tal zwischen Encino und San Fernando. Hier lebt der Mittelstand mit seinen verwöhnten brats, für den Brentwood und Bel Air unerschwinglich sind; unter anderen arbeitet hier die weltweit größte Porno-Industrie, was in den lyrics anklingt. Kluge Menschen beschreiben die Historiografie des Stückes auf American Wiki: "Though intended as a parody, the single popularized the Valley Girl stereotype nationwide [still happening today, we might want to add]. Following the single's release, there was a significant increase in "VALSPEAK" slang usage, whether ironically spoken or not." –
Kurz zur Erinnerung, dass es oft nur e i n e s Multiplikators bedarf: Nena in Dieter-Thomas Hecks Hitparade fand alles "geil". Fortan machte sich die bundesrepublika-nische Vorwende-Jugend das Geilfinden zu eigen – schnieke, knorke, klasse, super, das war vorgestern. Die 1980er Jahre, das geile Jahrzehnt, aber nur im Westen.
Yes, fer sure, wir schreiben bei der Veröffentlichung der Zappa-Single den Juni des Jahres 1982. Das nun endlich lokalisierte Phänomen ist heuer stolze 35 Jahre alt und so lebendig wie je. Von Ironie kann allerdings in unserer ironiefreien Gegenwart keine Rede mehr sein. Aber wurde der "VALSPEAK" je ironisch verwendet? Offensichtlich war er bei seiner Erfindung eine rein weibliche Sprachfigur. Zappas Ironie hingegen ist legendär gewesen und zog alles und jeden durch den bitteren Kakao des Kulturkritikers, der er natürlich auch war.
Warum also lässt der Schwachsinn sich niemals eindämmen? Woran liegt es?
Daran, dass sich die Jugend – neben aller Klugscheißerei, die es Gott sei Dank noch gibt – partout nicht festlegen möchte? Alles ist "irgendwie", nur wie genau, weiß man "halt" noch nicht. "Nein, wirklich?" Neue umgangssprachliche Wendungen winden sich "sozusagen" im Halbjahresturnus durch unseren Alltag. Sie zersetzen Klarheit des Satzbaus, Schärfe der Rhetorik, zerfasern jegliches Narrativ, oft genug auch deren Logik, wabern an der Oberfläche der Wortteiche wie unausrottbare Entengrütze und sprechen in ihrer sintflutartigen Verwendung vor allem vom Befinden des Nutzers, sich der Uneigentlichkeit des Seins überantwortet zu haben. "Genau, genau!"
Wer sich vom Wesen der Dinge einen Begriff machen, eine eigene Anschauung von der Welt gewinnen konnte, muss nicht ins "like", ins "sozusagen", ins "pour ainsi dire" abrutschen.
Reden wir also von sprachlichen Zuständen, die mit Lebensaltern einhergehen? Mit einer gewissen Reife und dem gerühmten Erfahrungsschatz wären sie zu überwinden? ... der angelsächsische Hang zur Individualität legt dies nahe. Adulte Sprachkuriositäten besitzen einen starken Eigencharakter und sind nicht mehr gruppenkonform. Es hat sich soz'sagen ausge-like-t. Neue Generationen von teenage twitter machines übernehmen derweil.
Endlich die Pointe: In Deutschland ist alles anders, "irgendwie" gründlicher, langlebiger "halt", weil "gut gemacht", made by germs, exactly. Denn es keimt bei uns das "Sozusagen" erst bei dem Erwachsenen, genauer: beim erwachsenen Bildungsbürger und als Nebengleis: beim Kinde des Bildungsbürgers. Wir müssen einfach gründlich sein. Es ist unsere Natur.
In jeder zweiten Vorlesung, in jeder Eröffnungsrede oder Ansprache lautet das am häufigsten eingesetzte Wort "sozusagen". Es ist zum die Wände der Vortragssäle hochgehen. Ein Sachverhalt unter Gästen, die Gebrauchsanweisung durch den Ingeniör – hat man sich mal drauf eingeschossen, hört man nichts anderes mör. Stellungnahmen der Politiker ... "das ist sozusagen die Lage der Nation", unbeholfenes Lächeln in die Kamera, Raute, Schnitt. –
Was ist in die Leute gefahren, vertrauen sie der eigenen Sprache nicht? Nicht den eigenen Gedanken und Ideen? Alles verharrt in der Unbestimmtheit des "Sozusagen". An diesem Punkt kommen wir mit dem Ersatz von "ähs" und "ähms" im Redefluss nicht weiter. Auf subtile Art wird an Aulatüren wie vorm Plenarsaal Verantwortung abgegeben. Wir leben in einer Welt voller Ungereimtheiten, kein Zweifel. Obwohl wir enorme Wissensberge anhäufen, wird unser Zustand je mehr wir erkennen, desto instabiler. Das "Sozusagen" möchte Brücken bauen zwischen dem kaum Greifbaren hier und dort. Schwankende Hängebrücken durch das Dickicht der Unwägbarkeiten. Ein Adverb als mentaler Stempel auf unserer Sprache. Der Gemütsknick äußert sich nicht mehr in kantig zerteilten Sofakissen, sondern in unserer alltäglichen Kommunikation und Geistesverfassung.
Aber meinen wir nur das gesprochene Wort – geäußert in der Jetztzeit?
Wenn wir daran gehen, die letzten Geheimnisse aufzudecken, die die deutsche Hochsprache noch in der Hinterhand hält, können wir nicht umhin, einigen Literaturfürsten des vergangenen Jahrhunderts "sozusagen" das Kaninchen aus dem Hut zu zaubern: Die "Strudlhofstiege" (1951) hält mindestens zwei "Sozusagen" pro Seite parat. Das möchte mit viel gutem Willen und Sympathie für den Wiener Schmäh Heimito von Doderers angehen: Küss' der gnädigen Frau die Hand und tritt' ihr sozusagen gleichzeitig in den Allerwertesten.
Aber im Buch aller Bücher, des Deutschen Literatur-Urmeter, an welchem in eterno alles zu messen sei? Wer wäre auf einen Schnitt von 42 "Sozusagen" (zwei "gewissermaßen" wurden als ad verbum-Zwillinge mitnotiert) auf 984 Seiten des "Zauberbergs" gekommen? Eines auf jeder zweikommadritten Seite. (Diese unsere Erhebung fand zur Jahrtausendwende statt.)
Thomas Mann schreibt in seiner Todesfuge über ein Lungensanatorium von der Uneigentlichkeit des Todes, dieser "verdammten Schweinerei" (Bazon Brock), die nie ein Ende haben wird. Ihm gelang 1924 das literarische Interludium der Sensenmänner, angesiedelt in der friedfertigen Schweiz, zwischen den Metzeleien der großen Kriege: ", ... Ein Sterbender ist doch sozusagen heilig, sollte ich meinen!'" (nach der Erstausgabe, S. 81) An anderer Stelle: " ... es sei nicht Formlosigkeit, sondern Überform, der Tod als Form, sozusagen, nicht Todesauflösung, sondern Todesstrenge, schwarz, vornehm und blutig." (ebda., S. 690) Mann verwendet das Adverb wie ein "als ob". Angesichts der Unfasslichkeit des Todes und tödlicher Gewissheit oszilliert sein Sanatorium zwischen Philosophenschule von Athen/Davos und letzter Station vor der Querung des Styx. –
Als Aperçu am Rande, lässt sich Mann wie über Tod, Gott und die Welt auch über Redensarten aus. Eine Patientin liebt und hegt sie unverdrossen, während sie dem jungen Hans Castorp "ihrer Abgeschmacktheit und modisch ordinären Verbrauchtheit wegen, auf die Nerven gingen, wie zum Beispiel: 'Das ist die Höhe!' oder: 'Du ahnst es nicht!' Und da die Bezeichnung 'blendend', die das Modemaul lange Zeit für 'glänzend' oder 'vorzüglich' gebraucht hatte, sich als gänzlich ausgelaugt, entkräftet, prostituiert und sohin veraltet erwies, so warf sie sich auf das Neueste, nämlich das Wort 'verheerend', und fand nun, im Ernst oder höhnischerweise, alles 'verheerend' ..." (ebda., S. 411f)
Schon vor knapp hundert Jahren beklagte unser Mann demnach ähnliche Sprachmiseren, deren Herkunft aus plumpem Nachplappern, gruppendynamischen Zwängen, Ironie oder Hohn nicht eindeutig zu klären sei. Nirgends ein Hauch von Trost? Vielleicht aus dieser Warte: Wurde nicht auch ein Quantensprung vollzogen zwischen der Uneigentlichkeit des Todes damals und jener unseres Lebens heute? So exklusiv sich die "likes" aus dem "VALSPEAK" den Oberflächenreizen und Lustbarkeiten der Konsumkultur widmen, so wankend der Boden unter den Füßen der "Sozusagen"-Adepten – alle sprechen, stottern, stammern wir vom Leben, nicht wahr?
Oder aus jener: Die Moden wechseln mit den Jahreszeiten. Wir dürfen auf weniger "ausgelaugte" und "entkräftete" Redensarten hoffen, auch wenn sich die hier beschriebenen sozusagen hartnäckig eingenistet haben.
Warum fiel Ulf Erdmann Ziegler dieser Vergleich beim Verfassen seiner linguistischen Plauderei nicht umstandslos vor die Feder?
P.S.: LeserInnen einer Wochen-FAZ müssen lange suchen, um die Inthronisierung des Verfassers allein über die Mittel der Gestaltung zu erleben: der Haupttitel tomatenrot, die Autornennung in kursiver Serife. Es hätte niemanden verwundert, wenn das "Von" in die zweite Zeile gerutscht wäre – aus Versehen oder besser noch: als ironischer Lapsus.
Es gibt sie also doch noch.
Jeannine Fiedler, März 2017
Montag, 20. Februar 2017
Satans Spielfeld, Roman von Ute Cohen, 2017
Bärendienste oder Die Ökonomie der Mittel
An einem Debüt – gleichgültig, ob hier Zutritt zu den Künsten begehrt wird oder die Schwelle ins Erwachsenendasein überschritten sein will – hängt Herzblut. Der Lehrling hat viel Zeit in der Alchimistenküche verbracht, beherrscht mutmaßlich sämtliche Griffe, möchte die Kunststücke endlich selbst aufführen, den Trank mischen, um das Publikum seiner Wahl zu verzaubern. Nur haben Debütantin oder Debütant mit ihrer Kunstform nicht nur ein Publikum erwählt, sondern zuvor auch die Mittel, um der Form Struktur und Halt zu verleihen. Das Kind lernt früh, dass der Sand von einer feuchten Beschaffenheit zu sein hat, damit der Abdruck des Förmchens gelingt. Sonst zerrinnt er zu einer amorphen Masse – kein Kuchen ist anzubieten. Es gibt das Herzblut, die Wahl und Ökonomie der Mittel und selbstverständlich ein Sujet.
Kindesmissbrauch gehört zum grausamen Alltag des Nachwuchses von Hartzern genauso wie von den Besserverdienenden mit der Doppelgarage neben der Villa; von eingebürgerten Arbeitsmigranten wie von jenen, die aus schierer Not die Heranwachsenden in den paradiesischen Westen schicken. Es vergeht kaum ein Tag, an dem die Medien nicht erneut jahrelangen, gar Jahrzehnte währenden Missbrauch beklagten. Dazu gehört ohne Ausnahme der siamesische Zwilling der Ignoranz, der die Verbrechen vor aller Augen zulässt und schützt. Erfolgt der "Täterschutz" gar durch die eigenen Eltern oder Vertrauenspersonen aus dem unmittelbaren Umfeld der Kinder und Jugendlichen, gelingt ihnen der Alltag nur noch im freien Fall.
Wobei das Täter-Opfer-Schema in der öffentlichen Wahrnehmung stets dieselbe Struktur besitzt: Das Faszinosum des aus unserem gesellschaftlichen Kanon an Gesetzen und Normen hier, Verboten und Verdikten dort ausbrechenden und im Wortsinn asozialen Täters ist Humus für des Menschen Lust an ungeheuerlichen Taten, ergo auch für den allabendlichen Krimi. Das Opfer ist in diesem Zusammenhang so bedeutungslos, dass ihm die desinteressierte Öffentlichkeit den zweiten Genickschlag versetzt, damit es endlich aufhörte, wie ein Fisch zu zappeln. Während sich die Torfstecher in den Fernsehanstalten um die selten gewordenen Dauerposten mit Prämiumpension keine Sorge machen müssen, erfüllen die Opfer von Gewalttaten, seien wir ehrlich, auch bei ihren sporadischen Auftritten in TV-Talkshows eine reine Alibifunktion: Es wird sich entrüstet, für einige Minuten herzlich mitgelitten und rasch wieder vergessen. Der Weiße Ring besitzt in unserer Gesellschaft von Tätern kein nennenswertes Forum.
Die Energie – und sei sie noch so kriminell – ist auf des Täters Seite. Und Energie ist Trumpf.
Den Missbrauch im Roman zu bearbeiten, wagten einige unter den Literaturfürsten des 20. Jahrhunderts. Exemplarisch deshalb nur diese zwei: Thomas Mann, der das Begehren in seiner Novelle, das sich an wenigen Blicken und dem Augenschein des Knaben Tadzio entzündet, im Virtuellen und als fiebriges Phantasma des dem Tode geweihten Schriftstellers von Aschenbach unerfüllt sein lässt. Ein "Tod in Venedig" als bürgerlich-dekadentes Schauerstück auf die Päderastie – unter den verkommenen Honoratioren des deutschen Kaiserreichs täglich ausgeübte Kurzweil, vom Autor und Nobelpreisträger unterdrückte, literarisch sublimierte Neigung – ist im Jahr seiner Entstehung (1911) noch der Spätromantik verhaftet.
Bei Vladimir Nabokov kommt es zum Vollzug. Er schuf mit "Lolita" (1955) die "Mutter aller Missbrauchsfabeln", die moderne Inkarnation kindlicher Verführungskraft. Seine Kindfrau taufte das psychologische Amalgam aus Nymphomanie und Hysterie, das bis heute und in alle Ewigkeit in männlicher Sicht des Phänomens als "Lolita-Syndrom" bezeichnet werden wird. Die heranwachsende Nymphe ist in diesen Darstellungen selten ein Opfer. In ihren eher erratischen als taktisch angelegten Manövern siegt die Romanfigur schlussendlich über den Strategen/Peiniger Humbert Humbert, der sich als der Hanswurst entpuppt, der er von Anfang an war. Doch werden fiese Fallstricke eingebaut, sind so viele Lesarten dieser "Patchwork-Familie" möglich, dass jede exklusive Interpretation des Textes trügerisch scheint. Neben anderem zerbricht die heilige Urzelle der amerikanischen Nation nicht nur an den egomanischen Eltern; auch die Baby-Boomer sind verzogene und gefühlskalte kleine Ratten. Die Nachkriegsmoderne ist so unsympathisch wie ihr Personal.
Ute Cohen verwendet die lyrische Wortwahl von Vladimir Nabokov als Romantitel sowie das komplette Zitat als literarisches Motto: "Die Einsamkeit ist SATANS SPIELFELD." Es stammt aus seinem Romangedicht "Pale Fire" (1962) und nicht aus "Lolita", wie der Leser nach Genuss des Cohenschen Debüts zu glauben veranlasst ist. Aber wie auch immer, mit Nabokov sind die Ambitionen benannt, die Ziele hoch gesteckt. Der Septime-Verleger in schon sprichwörtlicher Omnipotenz einer wienerischen Krone der Schöpfung möchte da mithalten und betätigt sich als Grafiker. Er zeichnet für die Gestaltung des Schutzumschlags verantwortlich. Das muss man können. In Union mit der Zeichnung eines dürren langhaarigen Wesens, das seine Blöße erschöpft unter einem Daunenkissen verbirgt, bekommt der Romantitel eine reißerische, zweideutige Konnotation. Zwischen Manga und Gothic – etwas für kleine Mädchen oder doch ein Schneider-Buch für Erwachsene? Der potentielle Käufer ist verwirrt, aber der Text auf dem Schutzumschlag spricht von einem Netz aus "Verführung, Vaterliebe und Macht", Anathema für Hanni und Nanni. Von Missbrauch indes keine Rede. Lolita erhält keine namentliche Nennung. Nirgends. Eine falsche Fährte?
Tatsächlich beginnt der Roman wie ein maßgeSchneidertes Buch für Jugendliche – und erzählt von jungen Mädchen kurz vor der Pubertät, ihren Spielen, Marotten und Bösartigkeiten. Teenager werden erst in ein, zwei Jahren aus ihnen. Die Sättigung der Sprache mit Adjektiven ist ermüdend: "geweiteter Blick, gefälliges Lächeln, zuckender Blitz, gezackter Stern, bläuliches Licht, bedrohliche Schatten, gierige Zungen, üppig entfaltete Baumkronen, glimmendes Streichholz, tiefe Stimme" – zuviel für ein Kapitel, geschweige denn für eine halbe Seite. Halte ein, möchte man der Autorin zurufen, selbst Enid Blyton war sparsamer. Sind dies klassische Anfängerfehler? Zu viel wird auf einmal gewollt. Oder ist es doch der Narzissmus einer allzu selbstgewissen Debütantin, die sich unter Kontrolle ihres ersten literarischen Vehikels wähnt? Mit vollzogener sexueller Unterwerfung der Protagonistin Marie durch den Provinztiger, eines "Bauleitner" (sic!) benamten Architekten, wird Cohens Sprache freier, kleben die Adjektive nicht mehr an den Substantiven wie das Pech an der Marie. Aber je leichter die Sprache, desto härter die Zumutungen und Attacken auf das Hymen ...
... Mariechen saß weinend im Garten. Sie bleibt eigenartig blass, die Marie, ein Streberle, das sich selbst negiert und nur im Verführungsspiel etwas Kontur erhält. Weil es hier um Macht geht, was schon das Kind begreift und für sich sucht zu nutzen. Es ist indes nicht so schablonenhaft gezeichnet wie seine Eltern: Die Mutter gesichtslos, putzt und bäckt tagein tagaus, hat einen einzigen Auftritt in Capri-Hosen und erhält nur die eine (fast) innige Szene beim Zöpfeflechten der Tochter. Als verhinderter Provinz-Revoluzzer, der rührend seines Hobby-Kommunismus frönt, wird der Vater als gebildeter Frühgescheiterter umrissen. Alle bleiben sie Silhouetten im Schattenreich des Verführers, des gleichfalls scherenschnittartig angelegten Fred Bauleitner. Doch der ist unverstellt, ist als grobes fränkisches Schnitzwerk frech, siegesgewiss, voller Energie und überschüssiger Säfte. Seine Rhetorik und Männlichkeit blenden junge wie ältere Damen in der Nachbarschaft. Diese Casanova-Existenz besetzt mit als zu fett beschimpfter Gattin und verwöhnten Töchtern ein gelbes Haus: Maries Zuflucht aus der spießigen Enge der elterlichen Wohnung. Zunächst ist hier noch ein Luftholen möglich, auch wenn der Würgegriff des Provinz-Playboys sich immer enger um ihren Hals legt. Sie mutiert zum Automaten, der die Erwartungen der Erwachsenen, der bigotten bayrischen Provinz zu bedienen gelernt hat, zum leeren Zentrum einer gefühlskalten, farblosen Welt, denn auch das Zeitkolorit der 1970er und frühen 1980er Jahre wird von Cohen wie eine Nummernrevue aus Pop-Elementen vorgeführt.
Im Garten saß weinend Marie ... wo bleibt hier das Herzblut, wieso empfindet der Leser nicht mit ihr, mit den gescheiterten Eltern, mit der frustrierten Frau Bauleitner? Identifikationsmodi werden von Cohen nicht eingebaut. Soll in dieser Versuchsanordnung, die alle bedienen wie Pawlowsche Hündchen, ein Mitfühlen unterbunden werden? Da Verführungsgeschichten wie die ihre hinlänglich bekannt sind, schnurrt Cohens Erzählmaschine wie eine gut geölte Singer Klischees und schablonenhafte Situationen (Eiscafé, Baggersee, Schulklasse, Teenagerzimmer) mit gerader Naht herunter. Der Leser kennt diese topografischen Backdrops aus der Glotze oder aus dem eigenen Leben. Ein Zickzack aus Brüchen, Geheimnissen, Traumwelten (angedeutet) oder Reflexionen findet nicht statt. Erst gegen Ende des Romans, als Marie eine Rachestrategie entwickelt, werden ihre Gedanken und Gefühle konkreter, bekommen eine Sprache. Doch ist es zu spät. Auch wenn der Roman als lemniskatische Bewegung endet – der Missbrauch durch ihren Peiniger wird in Verführungs- und Unterwerfungsritualen ewig fortgesetzt werden – hat sich Marie in der psychopathologischen Täter-Opfer-Verstrickung bei aller Hilflosigkeit, die nun keine mehr ist, dem Täter so sehr angeglichen, dass sie beginnen, wie ein Körper zu oszillieren. Anderen Erzählungen über physischen und psychischen Missbrauch gleich ist auch diese die Beschreibung einer Tyrannis, die alle Beteiligten in eine gegenseitige Abhängigkeit führt und, wie von Cohen demonstriert, dem Opfer nicht nur die sexuelle Unschuld raubt.
Ich muss als Leserin mit dieser eindimensionalen Darstellung in Romanform nicht einverstanden sein. Mehr noch, es lesen sich weite Strecken des Buches wie Kolportage: teen drama, Kulissenprovinz, die kalkuliert harten Sexdarstellungen et.al. Dass so viele positive Rückmeldungen aus der vorwiegend männlichen Leserschaft kommen, wundert deshalb weniger. Nun ist dies ein fiktiver Text, den offensichtlich viele Leser dennoch mit der Realität abgleichen. Aus genannten Gründen erweist sich der Roman jedoch für die Sache der realen Opfer, die diese Frondienste und Torturen heute und jeden künftigen Tag über sich ergehen lassen müssen, als Bärendienst – zu viel Softporno-Kalkül, zu wenig Empathie für Marie. Der Double Bind, den die Autorin und der Septime-Verleger schon mit Titel und Gestaltung angelegt haben, wird vom Roman nicht aufgelöst, sondern bis zum Ende durchdekliniert. Schade. Es gibt keine Fallstricke, keine Metaebenen, der Beschreibungsduktus steht im Vordergrund und beherrscht den Text: Der Leser bekommt, was er liest und wenig mehr.
Doch es gibt Hoffnung: Ute Cohen verfügt über eine exzellente sprachliche Kompetenz. Der Text ist gut gebaut. Man wünscht ihr ein Lektorat, das diese Talente zu fördern versteht und das ihr dabei helfen könnte, Sprache und Stil zu entschlacken. Less is more. Nicht jedes Wort, jeder Vergleich muss wie ein Schatz gehütet und nicht jedes literarische Bild grell ausgeleuchtet werden. Stilistische Mittel sollten ökonomisch eingesetzt werden, sonst verschwinden hinter ihnen die Ideen. Was bleibt ist Tinseltown, Strass-Burg, l'art pour l'art. Die Eitelkeit ist beim Schreiben weiß Gott kein guter Begleiter. Sie ist es in keiner der schönen Künste. Weshalb gute Lektoren Gold wert sind. Sie schleifen sprachliche Selbstverliebtheiten und Auswüchse lange genug, um den Text zum Strahlen zu bringen.
Ich hoffe auf weit ausstrahlende Texte von Ute Cohen. Sie hat etwas zu sagen und ein erstaunliches Debüt vorgelegt.
An einem Debüt – gleichgültig, ob hier Zutritt zu den Künsten begehrt wird oder die Schwelle ins Erwachsenendasein überschritten sein will – hängt Herzblut. Der Lehrling hat viel Zeit in der Alchimistenküche verbracht, beherrscht mutmaßlich sämtliche Griffe, möchte die Kunststücke endlich selbst aufführen, den Trank mischen, um das Publikum seiner Wahl zu verzaubern. Nur haben Debütantin oder Debütant mit ihrer Kunstform nicht nur ein Publikum erwählt, sondern zuvor auch die Mittel, um der Form Struktur und Halt zu verleihen. Das Kind lernt früh, dass der Sand von einer feuchten Beschaffenheit zu sein hat, damit der Abdruck des Förmchens gelingt. Sonst zerrinnt er zu einer amorphen Masse – kein Kuchen ist anzubieten. Es gibt das Herzblut, die Wahl und Ökonomie der Mittel und selbstverständlich ein Sujet.
Kindesmissbrauch gehört zum grausamen Alltag des Nachwuchses von Hartzern genauso wie von den Besserverdienenden mit der Doppelgarage neben der Villa; von eingebürgerten Arbeitsmigranten wie von jenen, die aus schierer Not die Heranwachsenden in den paradiesischen Westen schicken. Es vergeht kaum ein Tag, an dem die Medien nicht erneut jahrelangen, gar Jahrzehnte währenden Missbrauch beklagten. Dazu gehört ohne Ausnahme der siamesische Zwilling der Ignoranz, der die Verbrechen vor aller Augen zulässt und schützt. Erfolgt der "Täterschutz" gar durch die eigenen Eltern oder Vertrauenspersonen aus dem unmittelbaren Umfeld der Kinder und Jugendlichen, gelingt ihnen der Alltag nur noch im freien Fall.
Wobei das Täter-Opfer-Schema in der öffentlichen Wahrnehmung stets dieselbe Struktur besitzt: Das Faszinosum des aus unserem gesellschaftlichen Kanon an Gesetzen und Normen hier, Verboten und Verdikten dort ausbrechenden und im Wortsinn asozialen Täters ist Humus für des Menschen Lust an ungeheuerlichen Taten, ergo auch für den allabendlichen Krimi. Das Opfer ist in diesem Zusammenhang so bedeutungslos, dass ihm die desinteressierte Öffentlichkeit den zweiten Genickschlag versetzt, damit es endlich aufhörte, wie ein Fisch zu zappeln. Während sich die Torfstecher in den Fernsehanstalten um die selten gewordenen Dauerposten mit Prämiumpension keine Sorge machen müssen, erfüllen die Opfer von Gewalttaten, seien wir ehrlich, auch bei ihren sporadischen Auftritten in TV-Talkshows eine reine Alibifunktion: Es wird sich entrüstet, für einige Minuten herzlich mitgelitten und rasch wieder vergessen. Der Weiße Ring besitzt in unserer Gesellschaft von Tätern kein nennenswertes Forum.
Die Energie – und sei sie noch so kriminell – ist auf des Täters Seite. Und Energie ist Trumpf.
Den Missbrauch im Roman zu bearbeiten, wagten einige unter den Literaturfürsten des 20. Jahrhunderts. Exemplarisch deshalb nur diese zwei: Thomas Mann, der das Begehren in seiner Novelle, das sich an wenigen Blicken und dem Augenschein des Knaben Tadzio entzündet, im Virtuellen und als fiebriges Phantasma des dem Tode geweihten Schriftstellers von Aschenbach unerfüllt sein lässt. Ein "Tod in Venedig" als bürgerlich-dekadentes Schauerstück auf die Päderastie – unter den verkommenen Honoratioren des deutschen Kaiserreichs täglich ausgeübte Kurzweil, vom Autor und Nobelpreisträger unterdrückte, literarisch sublimierte Neigung – ist im Jahr seiner Entstehung (1911) noch der Spätromantik verhaftet.
Bei Vladimir Nabokov kommt es zum Vollzug. Er schuf mit "Lolita" (1955) die "Mutter aller Missbrauchsfabeln", die moderne Inkarnation kindlicher Verführungskraft. Seine Kindfrau taufte das psychologische Amalgam aus Nymphomanie und Hysterie, das bis heute und in alle Ewigkeit in männlicher Sicht des Phänomens als "Lolita-Syndrom" bezeichnet werden wird. Die heranwachsende Nymphe ist in diesen Darstellungen selten ein Opfer. In ihren eher erratischen als taktisch angelegten Manövern siegt die Romanfigur schlussendlich über den Strategen/Peiniger Humbert Humbert, der sich als der Hanswurst entpuppt, der er von Anfang an war. Doch werden fiese Fallstricke eingebaut, sind so viele Lesarten dieser "Patchwork-Familie" möglich, dass jede exklusive Interpretation des Textes trügerisch scheint. Neben anderem zerbricht die heilige Urzelle der amerikanischen Nation nicht nur an den egomanischen Eltern; auch die Baby-Boomer sind verzogene und gefühlskalte kleine Ratten. Die Nachkriegsmoderne ist so unsympathisch wie ihr Personal.
Ute Cohen verwendet die lyrische Wortwahl von Vladimir Nabokov als Romantitel sowie das komplette Zitat als literarisches Motto: "Die Einsamkeit ist SATANS SPIELFELD." Es stammt aus seinem Romangedicht "Pale Fire" (1962) und nicht aus "Lolita", wie der Leser nach Genuss des Cohenschen Debüts zu glauben veranlasst ist. Aber wie auch immer, mit Nabokov sind die Ambitionen benannt, die Ziele hoch gesteckt. Der Septime-Verleger in schon sprichwörtlicher Omnipotenz einer wienerischen Krone der Schöpfung möchte da mithalten und betätigt sich als Grafiker. Er zeichnet für die Gestaltung des Schutzumschlags verantwortlich. Das muss man können. In Union mit der Zeichnung eines dürren langhaarigen Wesens, das seine Blöße erschöpft unter einem Daunenkissen verbirgt, bekommt der Romantitel eine reißerische, zweideutige Konnotation. Zwischen Manga und Gothic – etwas für kleine Mädchen oder doch ein Schneider-Buch für Erwachsene? Der potentielle Käufer ist verwirrt, aber der Text auf dem Schutzumschlag spricht von einem Netz aus "Verführung, Vaterliebe und Macht", Anathema für Hanni und Nanni. Von Missbrauch indes keine Rede. Lolita erhält keine namentliche Nennung. Nirgends. Eine falsche Fährte?
Tatsächlich beginnt der Roman wie ein maßgeSchneidertes Buch für Jugendliche – und erzählt von jungen Mädchen kurz vor der Pubertät, ihren Spielen, Marotten und Bösartigkeiten. Teenager werden erst in ein, zwei Jahren aus ihnen. Die Sättigung der Sprache mit Adjektiven ist ermüdend: "geweiteter Blick, gefälliges Lächeln, zuckender Blitz, gezackter Stern, bläuliches Licht, bedrohliche Schatten, gierige Zungen, üppig entfaltete Baumkronen, glimmendes Streichholz, tiefe Stimme" – zuviel für ein Kapitel, geschweige denn für eine halbe Seite. Halte ein, möchte man der Autorin zurufen, selbst Enid Blyton war sparsamer. Sind dies klassische Anfängerfehler? Zu viel wird auf einmal gewollt. Oder ist es doch der Narzissmus einer allzu selbstgewissen Debütantin, die sich unter Kontrolle ihres ersten literarischen Vehikels wähnt? Mit vollzogener sexueller Unterwerfung der Protagonistin Marie durch den Provinztiger, eines "Bauleitner" (sic!) benamten Architekten, wird Cohens Sprache freier, kleben die Adjektive nicht mehr an den Substantiven wie das Pech an der Marie. Aber je leichter die Sprache, desto härter die Zumutungen und Attacken auf das Hymen ...
... Mariechen saß weinend im Garten. Sie bleibt eigenartig blass, die Marie, ein Streberle, das sich selbst negiert und nur im Verführungsspiel etwas Kontur erhält. Weil es hier um Macht geht, was schon das Kind begreift und für sich sucht zu nutzen. Es ist indes nicht so schablonenhaft gezeichnet wie seine Eltern: Die Mutter gesichtslos, putzt und bäckt tagein tagaus, hat einen einzigen Auftritt in Capri-Hosen und erhält nur die eine (fast) innige Szene beim Zöpfeflechten der Tochter. Als verhinderter Provinz-Revoluzzer, der rührend seines Hobby-Kommunismus frönt, wird der Vater als gebildeter Frühgescheiterter umrissen. Alle bleiben sie Silhouetten im Schattenreich des Verführers, des gleichfalls scherenschnittartig angelegten Fred Bauleitner. Doch der ist unverstellt, ist als grobes fränkisches Schnitzwerk frech, siegesgewiss, voller Energie und überschüssiger Säfte. Seine Rhetorik und Männlichkeit blenden junge wie ältere Damen in der Nachbarschaft. Diese Casanova-Existenz besetzt mit als zu fett beschimpfter Gattin und verwöhnten Töchtern ein gelbes Haus: Maries Zuflucht aus der spießigen Enge der elterlichen Wohnung. Zunächst ist hier noch ein Luftholen möglich, auch wenn der Würgegriff des Provinz-Playboys sich immer enger um ihren Hals legt. Sie mutiert zum Automaten, der die Erwartungen der Erwachsenen, der bigotten bayrischen Provinz zu bedienen gelernt hat, zum leeren Zentrum einer gefühlskalten, farblosen Welt, denn auch das Zeitkolorit der 1970er und frühen 1980er Jahre wird von Cohen wie eine Nummernrevue aus Pop-Elementen vorgeführt.
Im Garten saß weinend Marie ... wo bleibt hier das Herzblut, wieso empfindet der Leser nicht mit ihr, mit den gescheiterten Eltern, mit der frustrierten Frau Bauleitner? Identifikationsmodi werden von Cohen nicht eingebaut. Soll in dieser Versuchsanordnung, die alle bedienen wie Pawlowsche Hündchen, ein Mitfühlen unterbunden werden? Da Verführungsgeschichten wie die ihre hinlänglich bekannt sind, schnurrt Cohens Erzählmaschine wie eine gut geölte Singer Klischees und schablonenhafte Situationen (Eiscafé, Baggersee, Schulklasse, Teenagerzimmer) mit gerader Naht herunter. Der Leser kennt diese topografischen Backdrops aus der Glotze oder aus dem eigenen Leben. Ein Zickzack aus Brüchen, Geheimnissen, Traumwelten (angedeutet) oder Reflexionen findet nicht statt. Erst gegen Ende des Romans, als Marie eine Rachestrategie entwickelt, werden ihre Gedanken und Gefühle konkreter, bekommen eine Sprache. Doch ist es zu spät. Auch wenn der Roman als lemniskatische Bewegung endet – der Missbrauch durch ihren Peiniger wird in Verführungs- und Unterwerfungsritualen ewig fortgesetzt werden – hat sich Marie in der psychopathologischen Täter-Opfer-Verstrickung bei aller Hilflosigkeit, die nun keine mehr ist, dem Täter so sehr angeglichen, dass sie beginnen, wie ein Körper zu oszillieren. Anderen Erzählungen über physischen und psychischen Missbrauch gleich ist auch diese die Beschreibung einer Tyrannis, die alle Beteiligten in eine gegenseitige Abhängigkeit führt und, wie von Cohen demonstriert, dem Opfer nicht nur die sexuelle Unschuld raubt.
Ich muss als Leserin mit dieser eindimensionalen Darstellung in Romanform nicht einverstanden sein. Mehr noch, es lesen sich weite Strecken des Buches wie Kolportage: teen drama, Kulissenprovinz, die kalkuliert harten Sexdarstellungen et.al. Dass so viele positive Rückmeldungen aus der vorwiegend männlichen Leserschaft kommen, wundert deshalb weniger. Nun ist dies ein fiktiver Text, den offensichtlich viele Leser dennoch mit der Realität abgleichen. Aus genannten Gründen erweist sich der Roman jedoch für die Sache der realen Opfer, die diese Frondienste und Torturen heute und jeden künftigen Tag über sich ergehen lassen müssen, als Bärendienst – zu viel Softporno-Kalkül, zu wenig Empathie für Marie. Der Double Bind, den die Autorin und der Septime-Verleger schon mit Titel und Gestaltung angelegt haben, wird vom Roman nicht aufgelöst, sondern bis zum Ende durchdekliniert. Schade. Es gibt keine Fallstricke, keine Metaebenen, der Beschreibungsduktus steht im Vordergrund und beherrscht den Text: Der Leser bekommt, was er liest und wenig mehr.
Doch es gibt Hoffnung: Ute Cohen verfügt über eine exzellente sprachliche Kompetenz. Der Text ist gut gebaut. Man wünscht ihr ein Lektorat, das diese Talente zu fördern versteht und das ihr dabei helfen könnte, Sprache und Stil zu entschlacken. Less is more. Nicht jedes Wort, jeder Vergleich muss wie ein Schatz gehütet und nicht jedes literarische Bild grell ausgeleuchtet werden. Stilistische Mittel sollten ökonomisch eingesetzt werden, sonst verschwinden hinter ihnen die Ideen. Was bleibt ist Tinseltown, Strass-Burg, l'art pour l'art. Die Eitelkeit ist beim Schreiben weiß Gott kein guter Begleiter. Sie ist es in keiner der schönen Künste. Weshalb gute Lektoren Gold wert sind. Sie schleifen sprachliche Selbstverliebtheiten und Auswüchse lange genug, um den Text zum Strahlen zu bringen.
Ich hoffe auf weit ausstrahlende Texte von Ute Cohen. Sie hat etwas zu sagen und ein erstaunliches Debüt vorgelegt.
Montag, 22. August 2016
Annelies Strba, "Hiroshima mon amour", 1994
Die Sonne ist von Wolken verdeckt, die als dichte undurchdringliche Masse über einer Parklandschaft liegen und ihr nur ein fahles Licht schenken. Wir wähnen uns einer unspektakulären Situation gegenüber, so alltäglich wie schön: Ein Pärchen, nehmen wir an, es sei ein Liebespaar, sitzt auf einer Bank am Rande dieses Parks. Eher ruht es kontemplativ, in sich gekehrt die Haltung des Mädchens und des jungen Mannes. Wäre da nicht, nahe bei ihnen, als Fortbewegungsgefährt ein Motorrad an der Bordsteinkante geparkt, das auf ihre Jugend verweist, wir könnten versucht sein, sie für die Idee vom Paar schlechthin zu halten, alterslos, stumm kommunizierend. Hier sei ein Grad an gegenseitigem Verständnis erreicht, so würden wir weiterhin vermuten, der jede expressive Gebärdensprache schon vor langer Zeit überflüssig machte. Das wunschlose Beisammensein im Alter. Ein Pärchen, irgendwo auf dieser Welt in irgend einem Park – drei Bänke von ihm entfernt ein einzelner rastender Spaziergänger. Es herrscht Winter. Oder der Frühling steht unmittelbar bevor. Auch die Natur scheint zu ruhen.
Wir entdecken den Titel des Bildes von Annelies Strba – "Hiroshima mon amour". Unserem Blick wird von der einen Sekunde zur nächsten die Gewißheit der ewigen Wiederkehr des Immergleichen entzogen...all jene Liebespaare, eine stete Wiedererfindung der Liebe, die alljährliche Entfaltung der Natur. Unser Blick wird plötzlich von dem Allgemeinen auf das Besondere der Erkenntnis gelenkt: für Menschen in Hiroshima muß ein Normalzustand, ein Denken ohne die Formeln und Erinnerungszwänge der Geschichte oder einfach die Gegenwart auch fünfzig Jahre nach der keinen Widerspruch zulassenden Maßregelung ihrer Nation durch die andere noch immer dem Alltag abgerungen werden.
Gab bis hier die Phantasie unseren Gedanken und Erfindungen die Schubkraft, so zwingt uns der Titel nach der Filmvorlage von Marguerite Duras (der Film von Alain Resnais erschien 1958, dreizehn Jahre nach der Katastrophe) die Gewalt von Geschichte und Wirklichkeit auf. Doch aus der Polarität zwischen der Kraft unserer Einbildung und der Macht der Geschichte zieht Strbas Komposition, die zunächst als alltägliche Beobachtung ins Blickfeld gerät, ihre innere Spannung. Eine Spannung nicht zuletzt zwischen Bild-Wahrnehmung-Gefühl und Buchstaben-Wissen-Vernunft.
Den Dingen ihre Natur, dem Leben die Wärme zurückzugeben, die ihnen durch die Hitze des atomaren Vergeltungsschlags im Fernen Osten und in den Krematorien des europäischen Ostens abhandenkam, ist das große Projekt der Nachkriegszeit, dem sich besonders die Künstler verschrieben haben. Wenn mit Benjamin der Blick die Neige des Menschen ist, so ist folglich der Blick auf Hiroshima die Neige der Menschheit. Der Fotograf und Künstler ist Sammler unserer Blicke, ihrer Reste und ihrer Begrenzungen. Alles, was unbegreiflich ist, hört nicht auf zu sein. Manche Schrecken, die Menschen unter Menschen verursachen, sind so unfaßbar, daß wir nicht anders können, als uns mit ihnen zu beschäftigen. "Bedauerlich ist aber, daß die politische Intelligenz des Menschen hundertmal weniger entwickelt ist als seine wissenschaftliche Intelligenz.", zu lesen auf einem Plakat in Hiroshima.
Fast alle Arbeiten Strbas eint, das Intime im urbanen Raum und das gesellschaftliche Kraftfeld im Privaten aufgespürt zu haben. Feine Häutungen im zufälligen Miteinander ihrer Familie – zwischen Küche und Stube, zwischen Wachen und Traum – eine nie endende Fotoarbeit in Jahresringen; ephemere Schichtungen von Häusern, Gebäuden, Straßenfluchten, die Schleier der Landschaften; alles ist durchdrungen von einem Blick, der zwischen einem Politischen und einem Persönlichen, das uns drinnen wie draußen in der Welt gleichermaßen kennzeichnet, nicht trennen will.
Wir entdecken den Titel des Bildes von Annelies Strba – "Hiroshima mon amour". Unserem Blick wird von der einen Sekunde zur nächsten die Gewißheit der ewigen Wiederkehr des Immergleichen entzogen...all jene Liebespaare, eine stete Wiedererfindung der Liebe, die alljährliche Entfaltung der Natur. Unser Blick wird plötzlich von dem Allgemeinen auf das Besondere der Erkenntnis gelenkt: für Menschen in Hiroshima muß ein Normalzustand, ein Denken ohne die Formeln und Erinnerungszwänge der Geschichte oder einfach die Gegenwart auch fünfzig Jahre nach der keinen Widerspruch zulassenden Maßregelung ihrer Nation durch die andere noch immer dem Alltag abgerungen werden.
Gab bis hier die Phantasie unseren Gedanken und Erfindungen die Schubkraft, so zwingt uns der Titel nach der Filmvorlage von Marguerite Duras (der Film von Alain Resnais erschien 1958, dreizehn Jahre nach der Katastrophe) die Gewalt von Geschichte und Wirklichkeit auf. Doch aus der Polarität zwischen der Kraft unserer Einbildung und der Macht der Geschichte zieht Strbas Komposition, die zunächst als alltägliche Beobachtung ins Blickfeld gerät, ihre innere Spannung. Eine Spannung nicht zuletzt zwischen Bild-Wahrnehmung-Gefühl und Buchstaben-Wissen-Vernunft.
Den Dingen ihre Natur, dem Leben die Wärme zurückzugeben, die ihnen durch die Hitze des atomaren Vergeltungsschlags im Fernen Osten und in den Krematorien des europäischen Ostens abhandenkam, ist das große Projekt der Nachkriegszeit, dem sich besonders die Künstler verschrieben haben. Wenn mit Benjamin der Blick die Neige des Menschen ist, so ist folglich der Blick auf Hiroshima die Neige der Menschheit. Der Fotograf und Künstler ist Sammler unserer Blicke, ihrer Reste und ihrer Begrenzungen. Alles, was unbegreiflich ist, hört nicht auf zu sein. Manche Schrecken, die Menschen unter Menschen verursachen, sind so unfaßbar, daß wir nicht anders können, als uns mit ihnen zu beschäftigen. "Bedauerlich ist aber, daß die politische Intelligenz des Menschen hundertmal weniger entwickelt ist als seine wissenschaftliche Intelligenz.", zu lesen auf einem Plakat in Hiroshima.
Fast alle Arbeiten Strbas eint, das Intime im urbanen Raum und das gesellschaftliche Kraftfeld im Privaten aufgespürt zu haben. Feine Häutungen im zufälligen Miteinander ihrer Familie – zwischen Küche und Stube, zwischen Wachen und Traum – eine nie endende Fotoarbeit in Jahresringen; ephemere Schichtungen von Häusern, Gebäuden, Straßenfluchten, die Schleier der Landschaften; alles ist durchdrungen von einem Blick, der zwischen einem Politischen und einem Persönlichen, das uns drinnen wie draußen in der Welt gleichermaßen kennzeichnet, nicht trennen will.
Comrades of all nations, Freunde, femmes et hommes de la rue, companeros, amici -
Never allow the frolicsomeness, the turmoil, the horror, the despair, the doubt, the independent reflectiveness, and the infinite felicity about creative ideas and deeds of your fellow companions to be purloined from you!
The creative extravagance put on a book, on a Gesamtkunstwerk in the cinema and on stage, on radio features, on painting and sculpture, on music etc. shall be again acknowledged and worshipped as a gift of a few prodigies to all of mankind.
Without the cultural productions of the last 3,000 years we would not be what we are today. Be proud of this heritage and care for it!
Read Goethe and the Manns, read Shakespeare and Bellow, read Molière and Green, read Cervantes and Borges, read Dante and Svevo, read the masters of your individual native language – dig for culture to our present time! Visit museums, theatres and the cinema: Educate yourself!
Don't twitter away life, don't lose your face among millions of faces at the Zuckerberg; at least for a few hours a day or a week do forget the sweet nothing of the WorldWideWeb and dedicate yourself – actively! – to books, films, stage plays, the magnificent works of art in our museums and to your own thoughts about the creative brainwaves of your fellow-wo-men. Finally, become creative yourself! Become fundamentally educated; learn from the expertise of our artists and fellow-wo-men – in order to arm yourself against the cases of emergency in life!
Never let brokers, chain store owners and trust managers get hold of your individual thinking and your own critical mind! Become an active thinker! Become an activist of education! Introduce this message to others!
Put education in your tank! (It's closed season for tigers!)
Nobody can ever take this away from you, never!
Appeal for intellectual appeal, AIA, 13 May 2013
Pneuma Werke für die Bildung des Volkes
The creative extravagance put on a book, on a Gesamtkunstwerk in the cinema and on stage, on radio features, on painting and sculpture, on music etc. shall be again acknowledged and worshipped as a gift of a few prodigies to all of mankind.
Without the cultural productions of the last 3,000 years we would not be what we are today. Be proud of this heritage and care for it!
Read Goethe and the Manns, read Shakespeare and Bellow, read Molière and Green, read Cervantes and Borges, read Dante and Svevo, read the masters of your individual native language – dig for culture to our present time! Visit museums, theatres and the cinema: Educate yourself!
Don't twitter away life, don't lose your face among millions of faces at the Zuckerberg; at least for a few hours a day or a week do forget the sweet nothing of the WorldWideWeb and dedicate yourself – actively! – to books, films, stage plays, the magnificent works of art in our museums and to your own thoughts about the creative brainwaves of your fellow-wo-men. Finally, become creative yourself! Become fundamentally educated; learn from the expertise of our artists and fellow-wo-men – in order to arm yourself against the cases of emergency in life!
Never let brokers, chain store owners and trust managers get hold of your individual thinking and your own critical mind! Become an active thinker! Become an activist of education! Introduce this message to others!
Put education in your tank! (It's closed season for tigers!)
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Appeal for intellectual appeal, AIA, 13 May 2013
Pneuma Werke für die Bildung des Volkes
Freunde, comrades of all nations, femmes et hommes de la rue, companeros, amici -
Lasst Euch niemals das Frohlocken, das Aufgewühltsein, das Entsetzen, das Ver/Zweifeln, das selbständige Reflektieren, das unendliche Beglückt/Sein über die schöpferischen Ideen und Taten Eurer Mitmenschen rauben!
Das kreative Sichverschwenden an ein Buch, an Gesamtkunstwerke in Kino und Theater, an Radiofeatures, an Malerei und Plastik, an die Musik etc. muss wieder als Geschenk von wenigen Hochbegabten an die Menschheit erkannt und wertgeschätzt werden.
Ohne die kulturellen Hervorbringungen der vergangenen 3000 Jahre wären wir nicht die, die wir heute sind. Seid stolz auf dieses Erbe und pflegt es! Lest Goethe und die Manns, lest Shakespeare und Bellow, lest Molière und Green, lest Cervantes und Borges, lest Dante und Svevo, lest die Meister Eurer persönlichen Muttersprache – arbeitet Euch vor bis in die Gegenwart!
Geht ins Museum, ins Theater und Kino: Bildet Euch!
Vertwittert nicht Euer Leben, verliert nicht Euer Gesicht unter Millionen von Gesichtern am Zuckerberg; vergesst zumindest für einige Stunden am Tag oder in der Woche das süße Nichtstun im WorldWideWeb und widmet Euch – aktiv! – den Büchern, Filmen und Bühnenstücken, der großartigen Kunst in unseren Museen und Euren eigenen Gedanken über die schöpferischen Einfälle Eurer Mitmenschen. Werdet schließlich selbst kreativ!
Bildet Euch grundsätzlich; lernt aus den Erfahrungen der Künstler und Eurer Mitmenschen – um Euch zu wappnen vor den Ernstfällen des Lebens!
Lasst Euch nicht durch Börsengänger, Filialisten und Konzerneigner das eigene Denken und Unterscheiden entwenden! Werdet denkaktiv!
Werdet Bildungsaktivisten! Sagt es weiter!
Packt die Bildung in den Tank! (Die Tiger haben Schonzeit!)
Denn die kann Euch keiner nehmen – niemals!
Aufruf zum Intellectual Appeal (AIA) vom 13. Mai 2013
(Was den Müttern nicht gelungen, das habt Ihr für Euch errungen! – Goethe konsequent weitergedacht.)
Pneuma Werke für die Bildung des Volkes, Berlin
Das kreative Sichverschwenden an ein Buch, an Gesamtkunstwerke in Kino und Theater, an Radiofeatures, an Malerei und Plastik, an die Musik etc. muss wieder als Geschenk von wenigen Hochbegabten an die Menschheit erkannt und wertgeschätzt werden.
Ohne die kulturellen Hervorbringungen der vergangenen 3000 Jahre wären wir nicht die, die wir heute sind. Seid stolz auf dieses Erbe und pflegt es! Lest Goethe und die Manns, lest Shakespeare und Bellow, lest Molière und Green, lest Cervantes und Borges, lest Dante und Svevo, lest die Meister Eurer persönlichen Muttersprache – arbeitet Euch vor bis in die Gegenwart!
Geht ins Museum, ins Theater und Kino: Bildet Euch!
Vertwittert nicht Euer Leben, verliert nicht Euer Gesicht unter Millionen von Gesichtern am Zuckerberg; vergesst zumindest für einige Stunden am Tag oder in der Woche das süße Nichtstun im WorldWideWeb und widmet Euch – aktiv! – den Büchern, Filmen und Bühnenstücken, der großartigen Kunst in unseren Museen und Euren eigenen Gedanken über die schöpferischen Einfälle Eurer Mitmenschen. Werdet schließlich selbst kreativ!
Bildet Euch grundsätzlich; lernt aus den Erfahrungen der Künstler und Eurer Mitmenschen – um Euch zu wappnen vor den Ernstfällen des Lebens!
Lasst Euch nicht durch Börsengänger, Filialisten und Konzerneigner das eigene Denken und Unterscheiden entwenden! Werdet denkaktiv!
Werdet Bildungsaktivisten! Sagt es weiter!
Packt die Bildung in den Tank! (Die Tiger haben Schonzeit!)
Denn die kann Euch keiner nehmen – niemals!
Aufruf zum Intellectual Appeal (AIA) vom 13. Mai 2013
(Was den Müttern nicht gelungen, das habt Ihr für Euch errungen! – Goethe konsequent weitergedacht.)
Pneuma Werke für die Bildung des Volkes, Berlin
Balanceakte und artistische Infanten. Equilibristen auf der Schaukel ratlos
Aus den Bilderwelten der Künstlerin Ursula Rosinsky
Wer kennte es nicht? Andersens Märchen vom standhaften Zinnsoldaten, in welchem die Spielzeuge der kleinen Buben und Mädchen des Nachts zum Tanze aufrufen – ein für Menschenaugen unsichtbares Spektakulum – und darüber in ein solch loderndes Gefühlsleben geraten, dass sich zum grausam-schönen Ende hin der Zinnsoldat und seine angebetete Tänzerin in den Flammen des Kaminfeuers vereinen.
In ähnlich magische Gegenwelten entführt uns die Stuttgarter Künstlerin Ursula Rosinsky mit ihren Bildern. Und wie im Märchen so geht es auch auf ihnen nur im ersten Augenblick beschaulich zu. Bevölkert werden sie von allerlei Getier, vorzugsweise von jungen Hunden, die sich Dosen, Schachteln und andere Objekte des Alltags sowie ausgestopfte Bären oder Hasen zu Kameraden erkoren haben. Und von Kindern, kleinen und großen Mädchen, und ihren Puppen, bunt gewandet oder nackt auf Regalen und in Schaukästen ihrer Erweckung harrend.
Die weiblichen Statisten – ob Kindfrau oder puppenhaftes Schemen ausgestattet mit gedrungenen, altklugen Leibern – scheinen leise listig bis offen frivol hinter Kulissen, die die Künstlerin uns vorenthält, die Rollen zu tauschen zur heillosen Verwirrung der Betrachter. Erstaunen macht sich breit auf runden Gesichtern und in riesigen Augen, die uns scheinbar taxieren, doch bei genauerer Befragung durch uns hindurch starren in einen nur ihnen bekannten Kosmos. An dieser Introspektion sind wir so wenig beteiligt wie an ihren womöglich abgründigen Spielen, entdecken wir doch mitunter eine unverhohlene Lust am gelungenen Täuschungsmanöver.
Eins vor, eins zurück, im Ausfallschritt zwischen kindlicher Imagination und kalkulierten, sehr erwachsenen Dressurakten. Hier und da ein Fingerzeig auf Perversionen im Puppenparadies: die Peitsche in der Hand einer pummeligen Mädchenamazone, die ihren Kuschelteddy Mores lehren wird; eine umgerissene, nun auslaufende Nuckelflasche verweist auf die Eifersucht des treuen Hundegefährten; der Fischkadaver im Buddeleimer des nackten Nymphchens lädt ein zu Masturbationsphantasien. Die Balance zwischen Naivité und (sexueller) Abgeklärtheit, zwischen vordergründiger Puppenstubenunschuld und den Untiefen einer Bewusstseinswerdung ist labil und von äußerst delikater Handhabung, so möchten uns die schweigenden Münder mitteilen. Tiere wie Kinder bilden eine gleichsam verschworene Gemeinschaft wider die Regeln einer fremden, einer erwachsenen Welt, die sie gleichwohl perfekt beherrschen – und das ist ihr Trick.
Von Abnabelungsprozessen und heiklen Schwebezuständen erzählt Rosinskys "Schaukelserie". Die vornehmlich weiblichen Figuren befinden sich in feinnerviger Anspannung akrobatisch pendelnd zwischen den Lebensaltern. Der malerische Gestus versetzt die figürliche Staffage hier ebenso wie in den "Badebildern" oder in den "Ladeneinrichtungen" in ein gleichsam 'enträumlichtes' kompositorisches Bildgefüge. Die Etablierung ihrer völlig unsentimentalen Gegenwelten gelingt der Künstlerin durch eine Entkernung der Kompositionen von jeglichem narrativen Gerümpel. Zum Inventar der Bilder gehören wenige, oft nur angedeutete Objekte wie Seile, Leitern und Griffe, die, ohne je ihre Verankerung sichtbar zu machen, in die Komposition ragen. Vor farbig-pastosem Grund vollzieht sich in der Überwindung von Zeit und Raum die Sublimation von emotionalen Zuständen und Lebenszyklen. Ohne doppelten Boden oder Erdung in dechiffrierbaren Zeichensystemen scheinen sich Rosinskys kleine Heroinen zur Verblüffung des Betrachters ihr Equilibrium selbst im Balanceakt geschaffen zu haben.
In Rosinskys autopoetischen Werkzyklen regiert der "ikonographische Imperativ" und hält das Spiel der Sinnschichten in einem fragilen Gleichgewicht. Obwohl sich aus ihren Arbeiten kein direktes Echo auf den Magier des Gegenständlichen, den Maler Balthus, formt, so findet auch sie ihre ästhetische Position in der Abstinenz vom Abstrakten. Von den Avantgarden des 20. Jahrhunderts immer wieder für tot erklärt, wird der veristische Stil im malerischen Metier inklusive seiner Verrätselung durch die jeweiligen Zeitläufte einmal mehr vom Publikum durch besondere Zuwendung geadelt. (Zwei aktuelle Ausstellungen in Frankfurt/Main demonstrieren dies.)
Dieser zunächst 'inhaltliche' oder stilistische Widerspruch der Schülerin zu ihrem Meister an der Stuttgarter Akademie der Künste, K.R.H. Sonderborg, dessen dynamische Schwarzweißbilder sich aus dem abstrakten Expressionismus herleiten, findet im flächig-energischen Strich der Künstlerin, im Werkcharakter seine Aufhebung. Auf unterschiedlichsten Bildformaten – von der Miniatur bis zum wandfüllenden Gemälde – und in der bevorzugten, rasch trocknenden Eitempera-Technik, die den trotzigen oder selbstvergessenen Posen ihrer kleinen Darsteller ein 'hard edge', eine unbewusste Härte verleiht, dominiert ein schwungvoller Duktus die Kompositionen. Deren Struktur, die Wahl der Farben und der wenigen Muster wird manches Mal sichtbar korrigiert und verleugnet nicht eine gewisse Unfertigkeit oder Prozesshaftigkeit der Arbeit. Hier wird die Künstlerin eins mit der Entourage ihrer Werke: auf der Suche nach einer unvollendeten Vergangenheit oder schon beschlossenen Zukunft.
Berlin, 2002
Wer kennte es nicht? Andersens Märchen vom standhaften Zinnsoldaten, in welchem die Spielzeuge der kleinen Buben und Mädchen des Nachts zum Tanze aufrufen – ein für Menschenaugen unsichtbares Spektakulum – und darüber in ein solch loderndes Gefühlsleben geraten, dass sich zum grausam-schönen Ende hin der Zinnsoldat und seine angebetete Tänzerin in den Flammen des Kaminfeuers vereinen.
In ähnlich magische Gegenwelten entführt uns die Stuttgarter Künstlerin Ursula Rosinsky mit ihren Bildern. Und wie im Märchen so geht es auch auf ihnen nur im ersten Augenblick beschaulich zu. Bevölkert werden sie von allerlei Getier, vorzugsweise von jungen Hunden, die sich Dosen, Schachteln und andere Objekte des Alltags sowie ausgestopfte Bären oder Hasen zu Kameraden erkoren haben. Und von Kindern, kleinen und großen Mädchen, und ihren Puppen, bunt gewandet oder nackt auf Regalen und in Schaukästen ihrer Erweckung harrend.
Die weiblichen Statisten – ob Kindfrau oder puppenhaftes Schemen ausgestattet mit gedrungenen, altklugen Leibern – scheinen leise listig bis offen frivol hinter Kulissen, die die Künstlerin uns vorenthält, die Rollen zu tauschen zur heillosen Verwirrung der Betrachter. Erstaunen macht sich breit auf runden Gesichtern und in riesigen Augen, die uns scheinbar taxieren, doch bei genauerer Befragung durch uns hindurch starren in einen nur ihnen bekannten Kosmos. An dieser Introspektion sind wir so wenig beteiligt wie an ihren womöglich abgründigen Spielen, entdecken wir doch mitunter eine unverhohlene Lust am gelungenen Täuschungsmanöver.
Eins vor, eins zurück, im Ausfallschritt zwischen kindlicher Imagination und kalkulierten, sehr erwachsenen Dressurakten. Hier und da ein Fingerzeig auf Perversionen im Puppenparadies: die Peitsche in der Hand einer pummeligen Mädchenamazone, die ihren Kuschelteddy Mores lehren wird; eine umgerissene, nun auslaufende Nuckelflasche verweist auf die Eifersucht des treuen Hundegefährten; der Fischkadaver im Buddeleimer des nackten Nymphchens lädt ein zu Masturbationsphantasien. Die Balance zwischen Naivité und (sexueller) Abgeklärtheit, zwischen vordergründiger Puppenstubenunschuld und den Untiefen einer Bewusstseinswerdung ist labil und von äußerst delikater Handhabung, so möchten uns die schweigenden Münder mitteilen. Tiere wie Kinder bilden eine gleichsam verschworene Gemeinschaft wider die Regeln einer fremden, einer erwachsenen Welt, die sie gleichwohl perfekt beherrschen – und das ist ihr Trick.
Von Abnabelungsprozessen und heiklen Schwebezuständen erzählt Rosinskys "Schaukelserie". Die vornehmlich weiblichen Figuren befinden sich in feinnerviger Anspannung akrobatisch pendelnd zwischen den Lebensaltern. Der malerische Gestus versetzt die figürliche Staffage hier ebenso wie in den "Badebildern" oder in den "Ladeneinrichtungen" in ein gleichsam 'enträumlichtes' kompositorisches Bildgefüge. Die Etablierung ihrer völlig unsentimentalen Gegenwelten gelingt der Künstlerin durch eine Entkernung der Kompositionen von jeglichem narrativen Gerümpel. Zum Inventar der Bilder gehören wenige, oft nur angedeutete Objekte wie Seile, Leitern und Griffe, die, ohne je ihre Verankerung sichtbar zu machen, in die Komposition ragen. Vor farbig-pastosem Grund vollzieht sich in der Überwindung von Zeit und Raum die Sublimation von emotionalen Zuständen und Lebenszyklen. Ohne doppelten Boden oder Erdung in dechiffrierbaren Zeichensystemen scheinen sich Rosinskys kleine Heroinen zur Verblüffung des Betrachters ihr Equilibrium selbst im Balanceakt geschaffen zu haben.
In Rosinskys autopoetischen Werkzyklen regiert der "ikonographische Imperativ" und hält das Spiel der Sinnschichten in einem fragilen Gleichgewicht. Obwohl sich aus ihren Arbeiten kein direktes Echo auf den Magier des Gegenständlichen, den Maler Balthus, formt, so findet auch sie ihre ästhetische Position in der Abstinenz vom Abstrakten. Von den Avantgarden des 20. Jahrhunderts immer wieder für tot erklärt, wird der veristische Stil im malerischen Metier inklusive seiner Verrätselung durch die jeweiligen Zeitläufte einmal mehr vom Publikum durch besondere Zuwendung geadelt. (Zwei aktuelle Ausstellungen in Frankfurt/Main demonstrieren dies.)
Dieser zunächst 'inhaltliche' oder stilistische Widerspruch der Schülerin zu ihrem Meister an der Stuttgarter Akademie der Künste, K.R.H. Sonderborg, dessen dynamische Schwarzweißbilder sich aus dem abstrakten Expressionismus herleiten, findet im flächig-energischen Strich der Künstlerin, im Werkcharakter seine Aufhebung. Auf unterschiedlichsten Bildformaten – von der Miniatur bis zum wandfüllenden Gemälde – und in der bevorzugten, rasch trocknenden Eitempera-Technik, die den trotzigen oder selbstvergessenen Posen ihrer kleinen Darsteller ein 'hard edge', eine unbewusste Härte verleiht, dominiert ein schwungvoller Duktus die Kompositionen. Deren Struktur, die Wahl der Farben und der wenigen Muster wird manches Mal sichtbar korrigiert und verleugnet nicht eine gewisse Unfertigkeit oder Prozesshaftigkeit der Arbeit. Hier wird die Künstlerin eins mit der Entourage ihrer Werke: auf der Suche nach einer unvollendeten Vergangenheit oder schon beschlossenen Zukunft.
Berlin, 2002
Mein Popstar
Unsere erste Begegnung verlief folgendermaßen: Die Fünfjährige – das war sie – erläuterte der Siebenjährigen – das war ich – den Unterschied zwischen Spreiz-, Senk- und Plattfüßen. Ich mußte auf ihr Geheiß hin meine Söckchen ausziehen. Der feuchte Abdruck meiner Fußsohlen auf dem dunklen Linoleumboden sollte der jungen Orthopädin Aufschluß über meine Gehwerkzeuge geben. Die Diagnose war eindeutig: Jeannine war gezeichnet durch Senkfüße. Die starken Schweißabsonderungen veranlaßten sie zur Bemerkung, das sei nicht weiter schlimm, auch sie hätte die Anlage zu Schweißfüßen(!).
Wir schreiben das Jahr 1965.
Nun wurde aus Nena keine Orthopädin, sondern – Wunder geschehen – Deutschlands einziger Popstar weiblichen Geschlechts. Doch bis dahin dauerte es noch ein Dutzend Jahre. Wir übten einstweilen in den Ripprollis unserer Mütter, die wir als todschicke Superminis trugen, was uns Peggy March, Mary Roos, Lena Valeitis, Vicky u.a. in der deutschen Hitparade vormachten: sich "aufregend" zu bewegen und zum Playback ein Singmündchen zu formen. Wir Lolitas hatten von unserer Wirkung sicher nur eine schwache Vorstellung. Bei Nena wurde aus dieser Ahnung allerdings rasch ein angewandtes Wissen, was bei mir, der reinen Theoretikerin in Sachen Erotik, ungläubiges Staunen hervorrief. Wovon ich nur las, setzte sie lange vor mir in die Tat um. Sie hatte enormen Schlag, und die Jungs standen Spalier. Doch zuerst gab es nur den einen, und der hieß Holger. Irgendwann lieh ich ihm meine heißgeliebten Satiremagazine, "Pardon", mich amüsierten sie heftig, ja, mehr noch, sie schulten Humor wie Bewußtsein. Er fand sie schnöselig und gar nicht komisch. Denn ich wollte immer nur John Lennon, den intellektuellen Clown und meinen persönlichen Großguru – und bekam schließlich sein Hagener Double. Nena trällerte in jenen seligen Zeiten mit Maffay "Du" und mit Christian Anders' "Es geht ein Zug nach nirgendwo", grandiose Schmachtscheiben, die in ihrer elterlichen Musiktruhe auf dem Plattenteller lagen. Doch nur kurze Zeit darauf schoß sie sich auf Mick Jagger und die Rolling Stones ein. Die klassischen Fronten des musikalischen Geschmacks waren nun aufgemacht, was wohl bedeutete, daß wir langsam erwachsen wurden.
Die Wege der pubertierenden Provinzküken sollten sich nur noch sporadisch kreuzen – verschiedene Jahrgangsstufen am Christian-Rohlfs-Gymnasium, andere Freunde. Doch es gab noch gemeinsame Diskothekenbesuche, einen Auftritt des Jazz-Saxophonisten Charlie Mariano im verrucht-verrauchten "Piccadilly", der dabei lässig mit Nena flirtete, und die ersten Joints, die wilde Lachorgien einleiteten. In einem Bus der Hagener Verkehrsbetriebe gab Nena eines ihrer ersten Konzerte: es war ein Lachkonzert. Überhaupt, ihr Lachen! Später mehr darüber. – Die üblichen Kämpfe zwischen Eltern und ihren halbwüchsigen Sprößlingen wurden bei den Kerners sehr temperamentvoll ausgefochten. Ob Nena hier ihrer konventionellen "Vorbildrolle" für die beiden jüngeren Geschwister immer gerecht wurde, vermag ich kaum zu sagen. Gewagte Kletteraktionen über das Vordach des elterlichen Hauses – runter ins Tal und rein ins Hagener Nachtleben – werden bei Vater Alfons, dem Lateiner, Sportsfreund und Gemütsmenschen, keine Begeisterungsstürme entfacht haben. Eine entscheidende Weichenstellung fand bei uns zu Hause statt: weiter zur Penne oder eine Lehre absolvieren, z.B. bei einem Goldschmied. Ich mußte das Zimmer verlassen, als unsere Mütter versuchten, dem "Kinde" ins Gewissen zu reden. (Unsere Väter und Mütter waren allesamt großartige Pädagogen!) Dies ist vermutlich einer der letzten Entschlüsse gewesen, den Nena nicht allein gefaßt hat. Es wurde also fortan geschmiedet – und zwar am eigenen Glück. Kein schlechtes Los, wie sich zeigen sollte.
Sie fand bei ihrem Meister in Schwelm eine neue Liebe, Kontakt zur Berufswelt und noch genügend Zeit für ausgedehnte Hopsereien. Auf einem dieser Discoabende wurde sie von Rainer Kitzmann entdeckt, da sie mittlerweile zur besten Tänzerin im Großraum Sauerland geworden war ... der Rest ist Legende. Während sich in Hagen aus den Stripes die Urformation der Nena-Band entwickelte und Kai Hawaii gemeinsam mit Stefan Kleinkrieg begann, extrabreiten Unsinn auszuhecken wie Schulen anzuzünden, hatte ich mich anno 1977 im fernen Berlin als Insulanerin und FU-Studentin niedergelassen. Auch Nena zog es in die Metropole, stets einen anderen netten jungen Mann im Schlepptau: mal brachte sie einen blonden Argentinier, der ihr als Anhalter in die Arme gelaufen war, nächtens in meinem Zimmer unter, mal war der beste Freund meines Lennon-Doubles ihr Begleiter. Dieser Klaus (Alter Ego: Kinski) hatte gerade aufgehört, sich mit Inga Humpe eine "Zweiraumwohnung" zu teilen. Die Hagen-Berlin-Connection war intensiv und trug nicht wenig zur beiderseitigen Befruchtung einheimischer Musikszenen bei. Schließlich wohnte sie in Neukölln, ganz in meiner Nähe, in ihrer ersten eigenen Wohnung. Die "Pflüger" war der Startpunkt ihrer Berliner Wohnungsodyssee. Die Wände waren tapeziert mit brillanten Schwarzweißportraits von Nena und Band, fotografiert von einem Typen mit dem sonderbaren Namen (Günther) Rakete.
Und dann der Musikladen! Nach diesem Quanten- und Quotensprung in ungeahnte Höhen der bundesrepublikanischen Musiklandschaft fieberten wir jedem TV-Auftritt unserer Hagener Freunde entgegen (immer eine Träne der Rührung und des Stolzes im Augenwinkel) und durften schließlich einen cineastischen Hochgenuß mit Nena und Rolfi persönlich teilen: den Neue Deutsche Welle-Klamauk "Ich will Spaß, ich geb' Gas". Die Filmbühne Wien wurde durch Nenas Lachsalven so stark erschüttert, daß sie kurz darauf für immer ihre Pforten schließen mußte. (Sie wird übrigens noch heute restauriert!) Das Kinopublikum war nicht wenig irritiert von der absoluten Synchronizität des Lachens auf und vor der Leinwand. Am schönsten war und ist in diesem Film das romantische Duett Nenas mit Markus, dem dunkelgelockten Popheros: "Kleine Taschenlampe brenn'". – Was mir damals gar nicht gefiel, war, daß Nena ein sehr deutlich konnotiertes Wort allgemein salonfähig gemacht hat. Der inflationäre Gebrauch, der nun landauf, landab einsetzte, war alles andere als g--l. Hier wurde der Generationenunterschied von zwoeinhalb Jahren offensichtlich. Und grausam enttäuscht war ich von meiner so mutigen wie schönen Heldin, als sie auf dem damaligen Höhepunkt ihrer Karriere – "99 Red Balloons", number one of the American dance charts! – Angebote aus den USA ausschlug. Ich schimpfte sie insgeheim einen Hasenfuß. Mein Gott, wo hätte das hinführen können: beinharter Tanz- und Gesangsunterricht, Konzerte im "Dunes" in Las Vegas, eine Doppelhaushälfte neben Mrs Ciccione! – Aber wer weiß, wozu alles gut war...
... Nenas Gspusi wäre damals sicher nicht dieser spät berufene Käpt'n auf dem Trockendock der Andrea Doria geworden. Die beiden waren entzückend miteinander. Er nannte sie zärtlich seine "Kernbeißerin" ("Kerner" plus ausgeprägtes Vordergebiß seiner Angebeteten), sie tremolierte ein zuckersüßes "Lindi" zurück in seine Richtung. Wir haben uns köstlich amüsiert auf unseren "inkognito"-Trips nach Zürich und London. Alberne Verkleidungsnummern sorgten für eine nicht endenwollende Gaudi: Udo ging an einem 25 Grad heißen Maitag auf der Zürcher Promenade als Superhornisse mit Pelzkappe flanieren. Selbstverständlich erkannte ihn jeder. In Lenins favorisiertem Caféhaus, dem "Odeon", schlüpfte Udo dann als Lindenberg enttarnt aus der "Insektenlarve" in die Rolle des Kommentators. Publikumsbeschimpfung! Er parodierte alles und jeden. Wir klammerten uns prustend vor Lachen an den Tresen – und wohlgemerkt: einzig der Genuß von Johanniskrauttee war gestattet! Über England flogen Nena und ich als "Denver"-Zicken ein – wir schreiben das Jahr 1985 – bis zur Kenntlichkeit verziert mit Kostüm, High Heels und damenhaften Hütchen, der Popstar sogar verschleiert! In Swinging London stand dann Sport auf dem Programm, denn Udo hatte neben seinem Jungbrunnen Nena das Bedürfnis nach körperlicher Ertüchtigung, und auf ging's: zum Schwimmen in alte Hallenbäder und des Nachts zum Rollerskaten auf die menschenleeren Straßen Mayfairs. Als ich in Ronnie Scott's Jazz Club den guten alten Paul Weller erspähte und ihm ein Glas Champagner spendierte, war Udo ziemlich angepiekst. Selbst 'n Käpt'n ist nicht frei von Eitelkeit.
Hier ein bewußter Schnitt. Tatsächlich gäbe es Bücher zu füllen. Es kamen Kinder, und noch mehr Kinder, neue Weggefährten, dramatische Wendungen in Nenas Karriere und in der Geschichte unseres Landes. Wir haben uns seit den 90er Jahren und ihrem Umzug in die Hansestadt ein bißchen aus den Augen, aber vielleicht nicht aus den Gedanken verloren. Zumal ich allmorgendlich mit Nenas Zitruspresse meine Vitamine verflüssige und auf ihre Gesundheit trinke! – Ich glaube sie genau zu kennen, sehe ihr Gesicht in einem Magazin und weiß, sie ist schwanger, nur, welchen Menschen kennt man schon wirklich in all seinen Facetten und Widersprüchlichkeiten. Und ist es erstrebenswert, alles zu wissen? Was ich an meiner Freundin und "meinem Popstar" stets bewundert habe, ist ihre unbekümmert-charmante, oft toughe, manchmal freche Art, Menschen und Situationen zu begegnen. Emotionale Höhenwanderungen wird man bei einer solch' pragmatischen Lebenseinstellung nicht erwarten dürfen. Auch das Schwärmen, dem ein nostalgisches oder gar schwermütiges Sentiment einwohnt, ist Nenas Sache nicht. "Don't look back!" ist ihre wie Bob Dylans Devise. Kraft aus sich selbst zu schöpfen. Meine kleinen Hausaltare waren ihr fremd. Aber ohne robustes Ego würde keiner in einem Metier überleben, in welchem Zimperlichkeiten tabu sind. Dieses Rüstzeug, zum Teil mitgebracht, zum Teil in den letzten Jahrzehnten erworben, läßt unter dem gewinnenden Äußeren des Popstars hier und da etwas von Härte hervorblitzen, wie lächelnd es auch verpackt sein mag: "Kritik find' ich Scheiße." Ihre Dominanz will akzeptiert werden, basta, und sie muß es auch, um als eine sich gleichsam selbstladende Batterie zu fungieren; wird sie es mal nicht, mag sich rasch Gleichgültigkeit ausbreiten. Gesellt sich Schönheit zur Kraft, zur Energie, ja, zum Machtwillen, ist erstere meist mit einem leisen Schrecken behaftet. Der Terror des Schönen.
Und zweifellos: Nena ist schön, und sie ist stark.
Bei aller Unterschiedlichkeit unserer Sicht auf die Welt – beim Lachen und mit einem ähnlichen Sinn für die Komik des Lebens ausgestattet, waren und sind wir noch immer kompatibel.
geschrieben vom 15. bis 17. April 2003
Wir schreiben das Jahr 1965.
Nun wurde aus Nena keine Orthopädin, sondern – Wunder geschehen – Deutschlands einziger Popstar weiblichen Geschlechts. Doch bis dahin dauerte es noch ein Dutzend Jahre. Wir übten einstweilen in den Ripprollis unserer Mütter, die wir als todschicke Superminis trugen, was uns Peggy March, Mary Roos, Lena Valeitis, Vicky u.a. in der deutschen Hitparade vormachten: sich "aufregend" zu bewegen und zum Playback ein Singmündchen zu formen. Wir Lolitas hatten von unserer Wirkung sicher nur eine schwache Vorstellung. Bei Nena wurde aus dieser Ahnung allerdings rasch ein angewandtes Wissen, was bei mir, der reinen Theoretikerin in Sachen Erotik, ungläubiges Staunen hervorrief. Wovon ich nur las, setzte sie lange vor mir in die Tat um. Sie hatte enormen Schlag, und die Jungs standen Spalier. Doch zuerst gab es nur den einen, und der hieß Holger. Irgendwann lieh ich ihm meine heißgeliebten Satiremagazine, "Pardon", mich amüsierten sie heftig, ja, mehr noch, sie schulten Humor wie Bewußtsein. Er fand sie schnöselig und gar nicht komisch. Denn ich wollte immer nur John Lennon, den intellektuellen Clown und meinen persönlichen Großguru – und bekam schließlich sein Hagener Double. Nena trällerte in jenen seligen Zeiten mit Maffay "Du" und mit Christian Anders' "Es geht ein Zug nach nirgendwo", grandiose Schmachtscheiben, die in ihrer elterlichen Musiktruhe auf dem Plattenteller lagen. Doch nur kurze Zeit darauf schoß sie sich auf Mick Jagger und die Rolling Stones ein. Die klassischen Fronten des musikalischen Geschmacks waren nun aufgemacht, was wohl bedeutete, daß wir langsam erwachsen wurden.
Die Wege der pubertierenden Provinzküken sollten sich nur noch sporadisch kreuzen – verschiedene Jahrgangsstufen am Christian-Rohlfs-Gymnasium, andere Freunde. Doch es gab noch gemeinsame Diskothekenbesuche, einen Auftritt des Jazz-Saxophonisten Charlie Mariano im verrucht-verrauchten "Piccadilly", der dabei lässig mit Nena flirtete, und die ersten Joints, die wilde Lachorgien einleiteten. In einem Bus der Hagener Verkehrsbetriebe gab Nena eines ihrer ersten Konzerte: es war ein Lachkonzert. Überhaupt, ihr Lachen! Später mehr darüber. – Die üblichen Kämpfe zwischen Eltern und ihren halbwüchsigen Sprößlingen wurden bei den Kerners sehr temperamentvoll ausgefochten. Ob Nena hier ihrer konventionellen "Vorbildrolle" für die beiden jüngeren Geschwister immer gerecht wurde, vermag ich kaum zu sagen. Gewagte Kletteraktionen über das Vordach des elterlichen Hauses – runter ins Tal und rein ins Hagener Nachtleben – werden bei Vater Alfons, dem Lateiner, Sportsfreund und Gemütsmenschen, keine Begeisterungsstürme entfacht haben. Eine entscheidende Weichenstellung fand bei uns zu Hause statt: weiter zur Penne oder eine Lehre absolvieren, z.B. bei einem Goldschmied. Ich mußte das Zimmer verlassen, als unsere Mütter versuchten, dem "Kinde" ins Gewissen zu reden. (Unsere Väter und Mütter waren allesamt großartige Pädagogen!) Dies ist vermutlich einer der letzten Entschlüsse gewesen, den Nena nicht allein gefaßt hat. Es wurde also fortan geschmiedet – und zwar am eigenen Glück. Kein schlechtes Los, wie sich zeigen sollte.
Sie fand bei ihrem Meister in Schwelm eine neue Liebe, Kontakt zur Berufswelt und noch genügend Zeit für ausgedehnte Hopsereien. Auf einem dieser Discoabende wurde sie von Rainer Kitzmann entdeckt, da sie mittlerweile zur besten Tänzerin im Großraum Sauerland geworden war ... der Rest ist Legende. Während sich in Hagen aus den Stripes die Urformation der Nena-Band entwickelte und Kai Hawaii gemeinsam mit Stefan Kleinkrieg begann, extrabreiten Unsinn auszuhecken wie Schulen anzuzünden, hatte ich mich anno 1977 im fernen Berlin als Insulanerin und FU-Studentin niedergelassen. Auch Nena zog es in die Metropole, stets einen anderen netten jungen Mann im Schlepptau: mal brachte sie einen blonden Argentinier, der ihr als Anhalter in die Arme gelaufen war, nächtens in meinem Zimmer unter, mal war der beste Freund meines Lennon-Doubles ihr Begleiter. Dieser Klaus (Alter Ego: Kinski) hatte gerade aufgehört, sich mit Inga Humpe eine "Zweiraumwohnung" zu teilen. Die Hagen-Berlin-Connection war intensiv und trug nicht wenig zur beiderseitigen Befruchtung einheimischer Musikszenen bei. Schließlich wohnte sie in Neukölln, ganz in meiner Nähe, in ihrer ersten eigenen Wohnung. Die "Pflüger" war der Startpunkt ihrer Berliner Wohnungsodyssee. Die Wände waren tapeziert mit brillanten Schwarzweißportraits von Nena und Band, fotografiert von einem Typen mit dem sonderbaren Namen (Günther) Rakete.
Und dann der Musikladen! Nach diesem Quanten- und Quotensprung in ungeahnte Höhen der bundesrepublikanischen Musiklandschaft fieberten wir jedem TV-Auftritt unserer Hagener Freunde entgegen (immer eine Träne der Rührung und des Stolzes im Augenwinkel) und durften schließlich einen cineastischen Hochgenuß mit Nena und Rolfi persönlich teilen: den Neue Deutsche Welle-Klamauk "Ich will Spaß, ich geb' Gas". Die Filmbühne Wien wurde durch Nenas Lachsalven so stark erschüttert, daß sie kurz darauf für immer ihre Pforten schließen mußte. (Sie wird übrigens noch heute restauriert!) Das Kinopublikum war nicht wenig irritiert von der absoluten Synchronizität des Lachens auf und vor der Leinwand. Am schönsten war und ist in diesem Film das romantische Duett Nenas mit Markus, dem dunkelgelockten Popheros: "Kleine Taschenlampe brenn'". – Was mir damals gar nicht gefiel, war, daß Nena ein sehr deutlich konnotiertes Wort allgemein salonfähig gemacht hat. Der inflationäre Gebrauch, der nun landauf, landab einsetzte, war alles andere als g--l. Hier wurde der Generationenunterschied von zwoeinhalb Jahren offensichtlich. Und grausam enttäuscht war ich von meiner so mutigen wie schönen Heldin, als sie auf dem damaligen Höhepunkt ihrer Karriere – "99 Red Balloons", number one of the American dance charts! – Angebote aus den USA ausschlug. Ich schimpfte sie insgeheim einen Hasenfuß. Mein Gott, wo hätte das hinführen können: beinharter Tanz- und Gesangsunterricht, Konzerte im "Dunes" in Las Vegas, eine Doppelhaushälfte neben Mrs Ciccione! – Aber wer weiß, wozu alles gut war...
... Nenas Gspusi wäre damals sicher nicht dieser spät berufene Käpt'n auf dem Trockendock der Andrea Doria geworden. Die beiden waren entzückend miteinander. Er nannte sie zärtlich seine "Kernbeißerin" ("Kerner" plus ausgeprägtes Vordergebiß seiner Angebeteten), sie tremolierte ein zuckersüßes "Lindi" zurück in seine Richtung. Wir haben uns köstlich amüsiert auf unseren "inkognito"-Trips nach Zürich und London. Alberne Verkleidungsnummern sorgten für eine nicht endenwollende Gaudi: Udo ging an einem 25 Grad heißen Maitag auf der Zürcher Promenade als Superhornisse mit Pelzkappe flanieren. Selbstverständlich erkannte ihn jeder. In Lenins favorisiertem Caféhaus, dem "Odeon", schlüpfte Udo dann als Lindenberg enttarnt aus der "Insektenlarve" in die Rolle des Kommentators. Publikumsbeschimpfung! Er parodierte alles und jeden. Wir klammerten uns prustend vor Lachen an den Tresen – und wohlgemerkt: einzig der Genuß von Johanniskrauttee war gestattet! Über England flogen Nena und ich als "Denver"-Zicken ein – wir schreiben das Jahr 1985 – bis zur Kenntlichkeit verziert mit Kostüm, High Heels und damenhaften Hütchen, der Popstar sogar verschleiert! In Swinging London stand dann Sport auf dem Programm, denn Udo hatte neben seinem Jungbrunnen Nena das Bedürfnis nach körperlicher Ertüchtigung, und auf ging's: zum Schwimmen in alte Hallenbäder und des Nachts zum Rollerskaten auf die menschenleeren Straßen Mayfairs. Als ich in Ronnie Scott's Jazz Club den guten alten Paul Weller erspähte und ihm ein Glas Champagner spendierte, war Udo ziemlich angepiekst. Selbst 'n Käpt'n ist nicht frei von Eitelkeit.
Hier ein bewußter Schnitt. Tatsächlich gäbe es Bücher zu füllen. Es kamen Kinder, und noch mehr Kinder, neue Weggefährten, dramatische Wendungen in Nenas Karriere und in der Geschichte unseres Landes. Wir haben uns seit den 90er Jahren und ihrem Umzug in die Hansestadt ein bißchen aus den Augen, aber vielleicht nicht aus den Gedanken verloren. Zumal ich allmorgendlich mit Nenas Zitruspresse meine Vitamine verflüssige und auf ihre Gesundheit trinke! – Ich glaube sie genau zu kennen, sehe ihr Gesicht in einem Magazin und weiß, sie ist schwanger, nur, welchen Menschen kennt man schon wirklich in all seinen Facetten und Widersprüchlichkeiten. Und ist es erstrebenswert, alles zu wissen? Was ich an meiner Freundin und "meinem Popstar" stets bewundert habe, ist ihre unbekümmert-charmante, oft toughe, manchmal freche Art, Menschen und Situationen zu begegnen. Emotionale Höhenwanderungen wird man bei einer solch' pragmatischen Lebenseinstellung nicht erwarten dürfen. Auch das Schwärmen, dem ein nostalgisches oder gar schwermütiges Sentiment einwohnt, ist Nenas Sache nicht. "Don't look back!" ist ihre wie Bob Dylans Devise. Kraft aus sich selbst zu schöpfen. Meine kleinen Hausaltare waren ihr fremd. Aber ohne robustes Ego würde keiner in einem Metier überleben, in welchem Zimperlichkeiten tabu sind. Dieses Rüstzeug, zum Teil mitgebracht, zum Teil in den letzten Jahrzehnten erworben, läßt unter dem gewinnenden Äußeren des Popstars hier und da etwas von Härte hervorblitzen, wie lächelnd es auch verpackt sein mag: "Kritik find' ich Scheiße." Ihre Dominanz will akzeptiert werden, basta, und sie muß es auch, um als eine sich gleichsam selbstladende Batterie zu fungieren; wird sie es mal nicht, mag sich rasch Gleichgültigkeit ausbreiten. Gesellt sich Schönheit zur Kraft, zur Energie, ja, zum Machtwillen, ist erstere meist mit einem leisen Schrecken behaftet. Der Terror des Schönen.
Und zweifellos: Nena ist schön, und sie ist stark.
Bei aller Unterschiedlichkeit unserer Sicht auf die Welt – beim Lachen und mit einem ähnlichen Sinn für die Komik des Lebens ausgestattet, waren und sind wir noch immer kompatibel.
geschrieben vom 15. bis 17. April 2003
Israel im September 2015. Ein Reisebericht
Ein Begleiter, dessen man sich nicht erwehren kann, rund um die Uhr: die Hitze! Und sie ist ohrenbetäubend.
Zur Hitze gehört der Einsatz von Klimaanlagen. Deren erste Natur, ist für Kühlung zu sorgen, deren zweite: zu lärmen. Bei, sagen wir, 25 Grad ist die Wahl keine. Die Geräte werden abgestellt. Bei 35 bis 40 Grad tagsüber und 29 in der Nacht, beginnt man zu "ventilieren", welches wohl das kleinere Übel sei. Doch selbst bei einer Befriedung des Hotelzimmers dröhnt es weiterhin von draußen herein, bis morgens um sieben Baumaschinen und Kräne zum Einsatz kommen, größte lautmalerische Konkurrenz zum air-conditioning im quadrophonischen Spektakel des Landes. Eisgekühlte Restaurants, Bahnstationen und Flughäfen gehören zum American touch, wo für verzärtelte Mitteleuropäer die Strickjacke immer griffbereit zu sein hat.
Gebaut wird überall, exzessiv, an der Strandpromenade neue Hoteltürme, in downtown Tel Aviv Bürohäuser, Trabantenstädte im Weichbild der City sowie auf unserem Tagesausflug nach Jerusalem – kaum zu übersehen und im Vergleich zur letzten Reise, 1991, von beeindruckender wie auch beängstigender Massivität – hunderte von Wohnanlagen auf der Westbank. Häuser, die sich durch den warmen Farbton ihres Natursteins auf einen Blick von den weiß getünchten Heimen der Palästinenser unterscheiden. Es sind Häuser für ein Volk, das mindestens zwei Kinder hat, in der Regel jedoch vier bis sechs. Unsere 1,2 vor Rechnern, TV-Geräten und an I-Phones kaltgestellten Sprösslinge wären hier nicht denkbar, würden möglicherweise sogar als Betrug an der Nation wahrgenommen.
Denn die braucht eine wehrhafte Jugend – unübersehbar im Stadtbild die Teenager in Tarnanzügen oder im Armeehabit – die ihre Körper von morgens bis in die Nacht hinein am Strande stählt. Dort herrscht emsige, angestrengte, schweißtreibende Bewegung: durch Radfahrer, Jogger, Volleyballspieler und an offen einsehbaren Fitnessarealen, in denen Exhibitionisten den Körperkult Israels publikumswirksam zelebrieren. Das Tacktack des Strandpingpongs mit Brettschlägern und kleinen Pucks setzt erst mittags ein und gehört neben Kinderrufen und Radiomusik zur üblichen Strandbeschallung. Wunderbar die eitlen Gecken, die Frisbee mit sich selber spielen. Hinaus das Scheibchen geworfen aufs bewegte Meer; da kommt es zurück und wird mit einem tänzelnden, Pirouetten drehenden, muskeldehnenden Hopplaho aufgefangen, auf das Teller-Akrobaten im chinesischen Nationalzirkus neidisch werden könnten.
Die Kinder sind reizend. Besonders auffällig ist das innige Engagement der Väter im Umgang mit dem Nachwuchs. Alle kümmern sich. Es gibt eine regelmäßige Ansprache, es wird erklärt, gefragt, gelacht, beruhigt. Es ist deutlich zu erkennen: Die Kinder sind der größte Schatz des Heiligen Landes. Die Interesselosigkeit, die so häufig bei uns zu beobachten ist, schmerzt im Vergleich. Die Kinder sind selbstbewusst, ohne einen Hauch von Arroganz. Und die Kinder sind hübsch. Sie wachsen heran zu schönen jungen Menschen, deren Haarpracht zuweilen atemberaubend ist. Alle Mädchen, auch viele Jungen tragen ihr Haar lang: golden glänzende Löckchen, so dicht, dass kein Kamm sie zu bändigen vermöchte; üppiges, herrlich gewelltes Langhaar von lebhaftem Braun; rabenschwarzes Haar bei sündhaft attraktiven Palästinenserinnen und sephardischen Jüdinnen. Die goldene Locke sollte in Israels Heraldik aufgenommen werden, denn sie bedeutet Lebenszugewandtheit und nicht atavistische, sich metaphysisch verbrämende Selbstfesselung wie bei den Chassidim (mit ihren Schläfenlocken). Deren Frauen müssen das prachtvolle Haar unter Echthaarperücken verstecken. [Ich erinnere mich deutlich an die Szene in "Hester Street" (USA 1975), in der eine unendlich melancholische Carole Kane zum ersten Mal ihr eigenes Haar zeigt und dabei lacht, um sogleich von ihrem Mann für diesen Akt der Hybris bestraft zu werden.] Auch das ist Israel – das Land des üppigsten Haupthaares und der meisten Perücken.
Die Alten, die das Land aufbauten, es bewässerten, die in Kibbutzim rackerten, das junge Israel verteidigten und noch immer bewachen, die vielleicht immigrierten und woanders auf der Welt geboren wurden, sind verbraucht. Die Lebensfreude der Jugend hat sich lang schon verflüchtigt. Viele Blicke sind hart, sogar misstrauisch. Sie haben zu viel gesehen und durchgemacht. Änderungen fundamentaler Art in Politik und im Verhältnis zu den feindseligen Nachbarn sind nicht in Sicht. Hier herrscht ein zäher, die Leute zermürbender Status quo, immer wieder aufgebrochen durch das gewaltsame Aufbegehren der Palästinenser, die ihre ihnen vertraglich zugesicherten und zu oft verletzten Rechte einfordern. Oder durch die legitimen Wünsche der erst in den letzten Jahrzehnten eingewanderten jemenitischen und abessinischen Juden, durch die Forderungen der russischen Immigranten – oft Studierte, die freudlos niedere Arbeiten im Dienstleistungsektor verrichten. Ein Volk, das sich permanenter Bedrängung ausgesetzt sieht, auch durch die Schizophrenien der eigenen unrechtmäßigen Landnahme auf palästinischem Boden, des Mauerbaus, des Wasserdiebstahls und der sozialen Härten der Gesellschaft, die viele ausgrenzt. Auf eigenem Recht zu beharren, selbst wenn man es womöglich besitzt, macht einsam.
Und der deutsche Tourist? Den Holocaust im Nacken, die sechs Millionen gemordeten Juden, die 50 Millionen Toten des Zweiten Weltkriegs – er stürzt von einer Wahrnehmungs- und Bewusstseinskrise in die nächste. Der Hotelfahrstuhl hergestellt von derselben Firma wie die Gleise nach Auschwitz: Thyssen Krupp, die Züge des Landes stammen aus den Fertigungshallen von Siemens, die Busse in Tel Aviv sind von der Marke Mercedes Benz (da möchte man heute sagen, ja aber wenigstens nicht von Volkswagen). Hört das alles niemals auf? Jaja, es gibt keine Gerechtigkeit, doch die schiere Ausweglosigkeit, aus dem Dilemma des Nahen Ostens je herauszufinden, raubt Besuchern wie Einheimischen die Luft zum Atmen. Irgendwie gab es für uns Menschen noch immer eine Lösung. Hier gibt es keine, auch nicht durch Aussitzen.
Der Ausflug nach Jerusalem macht die Augen noch weiter. Die Altstadt ein Jahrmarkt der Religionen durchzogen von Suks, die neben Dingen des täglichen Bedarfs und Nahrungsmitteln vor allem Kitsch aus der "hochgebauten Stadt" Jeruschalajim mit ihren Monotheismen anbieten. Die speziellen Angebote für Eingottgläubige, angeführt von Fatimas Händen und den Augen der Weisheit, von kultischem Gerät wie der Menora oder von Kreuzen – alles in Miniaturausgaben, alles billig und von verblüffender Hässlichkeit, alles Made in China oder Taiwan – lassen bei Muslimen, Juden und Christen keinen "religiösen" Souvenirwunsch offen. Doch entblößt der Basarcharakter der Altstadt eine abstoßende Seite der Weltreligionen: die unheilige Allianz von Kommerz und Glaubensvehikeln, von Ablasshandel und ausgestellter Frömmigkeit. Ja mehr noch, der Hass, der in Jerusalem brütet, lässt sämtliche religiösen Inszenierungen in einem verlogenen Licht aufscheinen. Diese Nachricht erreichte mich heute (4. Oktober 2015) aus dem Auswärtigen Amt:
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Landsleute,
aufgrund der tödlich ausgegangenen, jüngsten Messerattacken in der Altstadt von Jerusalem, den darauf folgenden zahlreichen, heftigen Zusammenstößen und den daraufhin von israelischen Sicherheitsorganen verhängten polizeilichen Maßnahmen, sind in den nächsten Tagen gewalttätige Auseinandersetzungen in Jerusalem, an Checkpoints und in den größeren Städten der Westbank nicht auszuschließen. Bitte beschränken Sie daher in den nächsten Tagen Ihre Bewegungen insbesondere in und um die Jerusalemer Altstadt auf nicht verschiebbare Erledigungen. Menschenansammlungen bitte wie üblich meiden. Wir empfehlen aktuell dringend, öffentliche Verkehrsmittel in Jerusalem nur soweit wie unerläßlich zu benutzen, insbesondere an Haltestellen um die Jerusalemer Altstadt äußerste Vorsicht walten lassen. Von der Benutzung der Straßenbahn zwischen den Tramabschnitten Shuafat und French Hill (Ammunition Hill)sowie zwischen Kiryat Moshe und Mount Herzl wird zur Zeit eindringlich abgeraten.
Mit freundlichen Grüßen
Ihre Botschaft Tel Aviv
Die demokratisch verordnete Privatheit des praktizierten Glaubens, an die wir uns in den Nordländern gewöhnt haben, existiert hier nicht und verleiht Glaubensräuschen eine kirmeshafte Anmutung: Schaut meine Inbrunst an der Westmauer, lauscht den Gesängen der siebzigjährigen Bibelkinder, die schwer keuchend die Via Dolorosa ersteigen, bestaunt El-Aqsa, die schönste aller Moscheen ... ein Ort der Superlative, der gegenseitigen Überbietungen im Glauben ¬– keiner indes von Ruhe und stiller Einkehr. Wolfgang Büscher hat es in seiner großartigen Stadtstudie "Ein Frühling in Jerusalem" beschrieben – es mit eigenen Augen zu sehen, ist verstörend: Frauen und Männer, die seltsam autistisch und wie in Trance ihre Rosenkränze und andere Devotionalien auf dem Salbungsstein Jesu reiben, ihn küssen und, ja, ablecken. Uli war eigentümlich erpicht auf den Besuch der Grabeskirche; zur Besinnung kam er erst, als er sich trotz liebevoller Warnung durch die Gattin den Kopf am niedrigen Eingang zum Heiligen Grab aufschlug. (Ein zwergenhafter Wuchs birgt nicht nur Nachteile, erkannte sie in dieser Sekunde.) Selbstverständlich ließe sich dieser Vorgang in viele Richtungen hinein interpretieren, was wir hier nicht versuchen wollen.
Ich erinnerte mich an literarische Schilderungen von Straßencafés des Sderot (Boulevard) Ben Yehuda im neuen Jerusalem, als sich in den 1930ern und 1940ern Geistesgrößen wie Gershom Sholem einfanden, um mit anderen Immigranten aus Mitteleuropa Gespräche über Metaphysik, die Kabbala oder Kafka zu führen. Die Wanderung von der Altstadt ins neue Jerusalem geriet für uns erneut zum Wechsel in eine andere Welt. Sukkoth, das jüdische Erntedankfest, wurde in unserer Israelwoche begangen, und wir erlebten für eine kurze Zeit, wie sich die Neustadt und ihre Hauptgeschäftsstraßen in ein Volksfestareal verwandelten – aufmerksam bewacht von Polizei und Soldaten. Der Verkehr von Autos, Straßenbahnen sowie Bussen war eingestellt. Das Laubhüttenfest Sukkoth wurde unter den Chassidim der Neustadt frenetisch gefeiert. Jung und Alt labten sich an Limonadenständen, lauschten den Darbietungen der kleinen Musikbühnen, und in mit Blumen und Palmwedeln geschmückten Hütten wurde Naschwerk angeboten. Zehnköpfige Familien verzehrten hier ihr Eis oder andere Süßigkeiten wie die besonders begehrte Zuckerwatte.
Die chassidischen Juden siedeln außerhalb der Altstadt im Stadtteil Me'a She'arim, da für sie bis zur Ankunft des Messias weder Jerusalem, noch der Staat Israel und schon gar nicht die Verteidigung des Landes Glaubens- oder Herzenssachen wären. Ultraorthodoxe Gruppen wie die Lubawitscher, die wir auf der Rückreise am benachbarten Flugsteig nach New York mit Palmwedeln und riesigen schwarzen Schachteln für ihre Pelzhüte hantieren sahen, leben vorwiegend in den USA oder – einige Schritte von uns entfernt in der Münsterschen Straße in Wilmersdorf. Wir schauten auf eine Glaubensmonade, auf ein geschlossenes System, das uns nicht wahrnahm. Die Marsmännchen, das waren wir. Reisen bildet, doch das erstaunlichste Phänomen bleibt, die eigene Fremdheit in der Fremdheit der anderen zu erkennen.
Aber alle arbeiten wir fleißig daran, dass wir Fremdlinge recht bald wieder die Erde verlassen werden, auch wenn Israel die Energie, wie uns versichert wurde, nicht aus Atommeilern, sondern aus Gasfeldern im Mittelmeer gewinnt und die Meereswasseraufbereitung in Trinkwasser vervollkommnet hat.
Das Essen ist eine großartige Mischung sämtlicher Landesküchen, die die Immigranten im Gepäck hatten. Die Levante trifft auf Osteuropa und die traditionellen Speisen des Schtetl, modernes Fusionkochen verbindet sich mit den nordafrikanischen Spezialitäten sephardisch-arabischer Feuerstellen. Was die Kaltmamsell an Pasten, Cremes, Püriertem und Salaten zum Beispiel in Form von Humus, Tahiniauberginenmus oder Tabuleh mit Petersilie und Gurken schon zum Frühstück serviert, ist erstaunlich. Der Variantenreichtum an Brot und Backwaren ist außerhalb Mitteleuropas gewiss einmalig. Einzig Früchte und Gemüse sind eine kleine Enttäuschung. Vielleicht reicht die von den Israelis für das Wüstenklima erfundene Tröpfchenbewässerung doch nicht aus? Warum sind die sonnenverwöhnten Tomaten nicht doppelt so schmackhaft wie unser Hollandgemüse? Fragen einer degustierenden Konsumentin oder einer konsumierenden Degustationsfachfrau.
Eine weitere Veränderung nach einem Vierteljahrhundert (seit 1991) stellt die beunruhigende Zahl an Haustieren dar. Die Attraktivität von Hunderassen mit dem dichtesten und längsten Fellkleid in einem Klima, das selten unter 20 Grad liegt, meist aber über 35, ist mysteriös. Sind Angeberei, gar Tierquälerei im Spiel? – Sicher nicht. Ist dies ein Generalfall für Freuds Couch? Möchten sich die Tel Aviver in schockgekühlten Wohnungen unter ihren Malamuds, Chow-Chows und Wolfsspitzen die Füße wärmen? Fest steht, es gibt außerhalb des Strandes, an dem Hunde selbstverständlich erlaubt sind, keine Auslaufmöglichkeiten für die dauerhechelnden und gestressten Vierbeiner, die überdies die Bürgersteige zukoten. Auch in Tel Aviv kann dies Hundehalter teuer zu stehen kommen. Auch in Tel Aviv gibt es zu wenige Beamte, dies zu kontrollieren, was in manchen Seitenstraßen in ein Spießrutenlaufen mündet: Geht man lieber dem Haufen aus dem Weg oder dem überall ausgeschütteten Katzenfutter? Katzen sollten eine Zeitlang aus dem Verkehr gezogen werden. Ihre Dezimierung hatte indes die rasche Maximierung der Rattenpopulation zur Folge. Die Stadtverwaltung entschied sich für eine Wiedereinführung der Rattenjäger. Es ist so: Die Straßen und Bürgersteige sind nicht sauber.
Auffällig auch, dass sich im vergangenen Vierteljahrhundert scheinbar das Englisch verflüchtigt hat, dessen früher erheblich mehr Israelis mächtig waren als heute. Man sollte glauben, Englisch sei Pflichtfach an jeder Schule des Landes, zumal es sich inzwischen stolz als zweitbester Hightech-Erfinder und -Produzent nach dem Silikon Valley präsentiert und die Vereinigten Staaten ohnehin die engsten Verbündeten sind. Dennoch können viele Junge Menschen – selbst in der Uniform vom Polizisten und Soldaten – keine Auskunft mehr in englischer Sprache geben. Vielleicht hängt dies ursächlich damit zusammen, dass die Sephardim die aschkenasischen Juden in der gesellschaftlichen Hierarchie Israels eingeholt haben. Die erste Sprache der Sephardim in Marokko oder Algerien war traditionell die französische, der kulturelle Bezugsort allein in Frankreich zu finden. Die Aschkenasim hatten durch Emigration und weit verzweigte Verwandtschaft immer schon stärkere Bindungen in die USA. Hier ein Jahr zu verbringen oder sogar ein Studium zu absolvieren, galt für den Nachwuchs als Pflichtprogramm. Vermutlich ist die Erklärung für das sich verflüchtigende Englisch aber deutlich vielschichtiger.
Gegen die Hitze, die sämtliche Ausflüsse, Absonderungen und Müll zu einem klebrigen Schleim auf Asphalt und Steinen verbäckt – wie übrigens in allen sommerlich heißen Großstädten der Welt – hilft keine rasche Schlauchdusche, zumal Wasser für Wichtigeres verwendet werden muss. Eine gewisse Nachlässigkeit ist auch auf privaten Grundstücken zu konstatieren, die in ihrer Massierung das Stadtbild vielerorts nicht schöner macht. Vielleicht eine Begleiterscheinung der Wohngenossenschaften, die es im jungen Staat Israel gab und noch immer gibt, in denen sich alle zur gemeinsamen Verantwortung bekennen müssen, sich jedoch meist niemand persönlich verantwortlich fühlt. Auch das eine hinlänglich bekannte menschliche Verhaltensweise. Natürlich gibt es sie, die gepflegten Boulevards und Plätze, Aushängeschilder einer jeden Kulturstadt. Beherrschend für Tel Avivs Stadtbild sind aber jene vielgepriesenen, UNESCO-geschützten Wohnhäuser aus den 1930er Jahren, deren Fassaden mit Bauhaus oder Art Déco spielen, doch insgesamt dem damals weltweit grassierenden International Style zugeordnet werden müssen. Es soll annähernd 4.000 Exemplare geben. Eine verschwindend kleine Anzahl ist inzwischen saniert und mit Weltkulturerbe-Plaketten versehen worden. Die Mehrzahl sieht – teilweise entwohnt hinter Baugerüsten – nach jahrzehntelangen individuellen Umbauten, mit bröckelndem Putz, verwitterndem Beton und Kabelagen, die sie wie Spinnennetze überziehen, ähnlich hässlich und unzugänglich aus wie die Favelas südamerikanischer Megalopolen. Sie zu modernisieren, ist ein gewaltiges Projekt für die Stadt, insbesondere für ihre Besitzer, die die Sanierungsmaßnahmen selbst finanzieren müssen.
Dies zu beschreiben, bleibt meinem Referat in Marseille (November 2015) vorbehalten.
Zur Hitze gehört der Einsatz von Klimaanlagen. Deren erste Natur, ist für Kühlung zu sorgen, deren zweite: zu lärmen. Bei, sagen wir, 25 Grad ist die Wahl keine. Die Geräte werden abgestellt. Bei 35 bis 40 Grad tagsüber und 29 in der Nacht, beginnt man zu "ventilieren", welches wohl das kleinere Übel sei. Doch selbst bei einer Befriedung des Hotelzimmers dröhnt es weiterhin von draußen herein, bis morgens um sieben Baumaschinen und Kräne zum Einsatz kommen, größte lautmalerische Konkurrenz zum air-conditioning im quadrophonischen Spektakel des Landes. Eisgekühlte Restaurants, Bahnstationen und Flughäfen gehören zum American touch, wo für verzärtelte Mitteleuropäer die Strickjacke immer griffbereit zu sein hat.
Gebaut wird überall, exzessiv, an der Strandpromenade neue Hoteltürme, in downtown Tel Aviv Bürohäuser, Trabantenstädte im Weichbild der City sowie auf unserem Tagesausflug nach Jerusalem – kaum zu übersehen und im Vergleich zur letzten Reise, 1991, von beeindruckender wie auch beängstigender Massivität – hunderte von Wohnanlagen auf der Westbank. Häuser, die sich durch den warmen Farbton ihres Natursteins auf einen Blick von den weiß getünchten Heimen der Palästinenser unterscheiden. Es sind Häuser für ein Volk, das mindestens zwei Kinder hat, in der Regel jedoch vier bis sechs. Unsere 1,2 vor Rechnern, TV-Geräten und an I-Phones kaltgestellten Sprösslinge wären hier nicht denkbar, würden möglicherweise sogar als Betrug an der Nation wahrgenommen.
Denn die braucht eine wehrhafte Jugend – unübersehbar im Stadtbild die Teenager in Tarnanzügen oder im Armeehabit – die ihre Körper von morgens bis in die Nacht hinein am Strande stählt. Dort herrscht emsige, angestrengte, schweißtreibende Bewegung: durch Radfahrer, Jogger, Volleyballspieler und an offen einsehbaren Fitnessarealen, in denen Exhibitionisten den Körperkult Israels publikumswirksam zelebrieren. Das Tacktack des Strandpingpongs mit Brettschlägern und kleinen Pucks setzt erst mittags ein und gehört neben Kinderrufen und Radiomusik zur üblichen Strandbeschallung. Wunderbar die eitlen Gecken, die Frisbee mit sich selber spielen. Hinaus das Scheibchen geworfen aufs bewegte Meer; da kommt es zurück und wird mit einem tänzelnden, Pirouetten drehenden, muskeldehnenden Hopplaho aufgefangen, auf das Teller-Akrobaten im chinesischen Nationalzirkus neidisch werden könnten.
Die Kinder sind reizend. Besonders auffällig ist das innige Engagement der Väter im Umgang mit dem Nachwuchs. Alle kümmern sich. Es gibt eine regelmäßige Ansprache, es wird erklärt, gefragt, gelacht, beruhigt. Es ist deutlich zu erkennen: Die Kinder sind der größte Schatz des Heiligen Landes. Die Interesselosigkeit, die so häufig bei uns zu beobachten ist, schmerzt im Vergleich. Die Kinder sind selbstbewusst, ohne einen Hauch von Arroganz. Und die Kinder sind hübsch. Sie wachsen heran zu schönen jungen Menschen, deren Haarpracht zuweilen atemberaubend ist. Alle Mädchen, auch viele Jungen tragen ihr Haar lang: golden glänzende Löckchen, so dicht, dass kein Kamm sie zu bändigen vermöchte; üppiges, herrlich gewelltes Langhaar von lebhaftem Braun; rabenschwarzes Haar bei sündhaft attraktiven Palästinenserinnen und sephardischen Jüdinnen. Die goldene Locke sollte in Israels Heraldik aufgenommen werden, denn sie bedeutet Lebenszugewandtheit und nicht atavistische, sich metaphysisch verbrämende Selbstfesselung wie bei den Chassidim (mit ihren Schläfenlocken). Deren Frauen müssen das prachtvolle Haar unter Echthaarperücken verstecken. [Ich erinnere mich deutlich an die Szene in "Hester Street" (USA 1975), in der eine unendlich melancholische Carole Kane zum ersten Mal ihr eigenes Haar zeigt und dabei lacht, um sogleich von ihrem Mann für diesen Akt der Hybris bestraft zu werden.] Auch das ist Israel – das Land des üppigsten Haupthaares und der meisten Perücken.
Die Alten, die das Land aufbauten, es bewässerten, die in Kibbutzim rackerten, das junge Israel verteidigten und noch immer bewachen, die vielleicht immigrierten und woanders auf der Welt geboren wurden, sind verbraucht. Die Lebensfreude der Jugend hat sich lang schon verflüchtigt. Viele Blicke sind hart, sogar misstrauisch. Sie haben zu viel gesehen und durchgemacht. Änderungen fundamentaler Art in Politik und im Verhältnis zu den feindseligen Nachbarn sind nicht in Sicht. Hier herrscht ein zäher, die Leute zermürbender Status quo, immer wieder aufgebrochen durch das gewaltsame Aufbegehren der Palästinenser, die ihre ihnen vertraglich zugesicherten und zu oft verletzten Rechte einfordern. Oder durch die legitimen Wünsche der erst in den letzten Jahrzehnten eingewanderten jemenitischen und abessinischen Juden, durch die Forderungen der russischen Immigranten – oft Studierte, die freudlos niedere Arbeiten im Dienstleistungsektor verrichten. Ein Volk, das sich permanenter Bedrängung ausgesetzt sieht, auch durch die Schizophrenien der eigenen unrechtmäßigen Landnahme auf palästinischem Boden, des Mauerbaus, des Wasserdiebstahls und der sozialen Härten der Gesellschaft, die viele ausgrenzt. Auf eigenem Recht zu beharren, selbst wenn man es womöglich besitzt, macht einsam.
Und der deutsche Tourist? Den Holocaust im Nacken, die sechs Millionen gemordeten Juden, die 50 Millionen Toten des Zweiten Weltkriegs – er stürzt von einer Wahrnehmungs- und Bewusstseinskrise in die nächste. Der Hotelfahrstuhl hergestellt von derselben Firma wie die Gleise nach Auschwitz: Thyssen Krupp, die Züge des Landes stammen aus den Fertigungshallen von Siemens, die Busse in Tel Aviv sind von der Marke Mercedes Benz (da möchte man heute sagen, ja aber wenigstens nicht von Volkswagen). Hört das alles niemals auf? Jaja, es gibt keine Gerechtigkeit, doch die schiere Ausweglosigkeit, aus dem Dilemma des Nahen Ostens je herauszufinden, raubt Besuchern wie Einheimischen die Luft zum Atmen. Irgendwie gab es für uns Menschen noch immer eine Lösung. Hier gibt es keine, auch nicht durch Aussitzen.
Der Ausflug nach Jerusalem macht die Augen noch weiter. Die Altstadt ein Jahrmarkt der Religionen durchzogen von Suks, die neben Dingen des täglichen Bedarfs und Nahrungsmitteln vor allem Kitsch aus der "hochgebauten Stadt" Jeruschalajim mit ihren Monotheismen anbieten. Die speziellen Angebote für Eingottgläubige, angeführt von Fatimas Händen und den Augen der Weisheit, von kultischem Gerät wie der Menora oder von Kreuzen – alles in Miniaturausgaben, alles billig und von verblüffender Hässlichkeit, alles Made in China oder Taiwan – lassen bei Muslimen, Juden und Christen keinen "religiösen" Souvenirwunsch offen. Doch entblößt der Basarcharakter der Altstadt eine abstoßende Seite der Weltreligionen: die unheilige Allianz von Kommerz und Glaubensvehikeln, von Ablasshandel und ausgestellter Frömmigkeit. Ja mehr noch, der Hass, der in Jerusalem brütet, lässt sämtliche religiösen Inszenierungen in einem verlogenen Licht aufscheinen. Diese Nachricht erreichte mich heute (4. Oktober 2015) aus dem Auswärtigen Amt:
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Landsleute,
aufgrund der tödlich ausgegangenen, jüngsten Messerattacken in der Altstadt von Jerusalem, den darauf folgenden zahlreichen, heftigen Zusammenstößen und den daraufhin von israelischen Sicherheitsorganen verhängten polizeilichen Maßnahmen, sind in den nächsten Tagen gewalttätige Auseinandersetzungen in Jerusalem, an Checkpoints und in den größeren Städten der Westbank nicht auszuschließen. Bitte beschränken Sie daher in den nächsten Tagen Ihre Bewegungen insbesondere in und um die Jerusalemer Altstadt auf nicht verschiebbare Erledigungen. Menschenansammlungen bitte wie üblich meiden. Wir empfehlen aktuell dringend, öffentliche Verkehrsmittel in Jerusalem nur soweit wie unerläßlich zu benutzen, insbesondere an Haltestellen um die Jerusalemer Altstadt äußerste Vorsicht walten lassen. Von der Benutzung der Straßenbahn zwischen den Tramabschnitten Shuafat und French Hill (Ammunition Hill)sowie zwischen Kiryat Moshe und Mount Herzl wird zur Zeit eindringlich abgeraten.
Mit freundlichen Grüßen
Ihre Botschaft Tel Aviv
Die demokratisch verordnete Privatheit des praktizierten Glaubens, an die wir uns in den Nordländern gewöhnt haben, existiert hier nicht und verleiht Glaubensräuschen eine kirmeshafte Anmutung: Schaut meine Inbrunst an der Westmauer, lauscht den Gesängen der siebzigjährigen Bibelkinder, die schwer keuchend die Via Dolorosa ersteigen, bestaunt El-Aqsa, die schönste aller Moscheen ... ein Ort der Superlative, der gegenseitigen Überbietungen im Glauben ¬– keiner indes von Ruhe und stiller Einkehr. Wolfgang Büscher hat es in seiner großartigen Stadtstudie "Ein Frühling in Jerusalem" beschrieben – es mit eigenen Augen zu sehen, ist verstörend: Frauen und Männer, die seltsam autistisch und wie in Trance ihre Rosenkränze und andere Devotionalien auf dem Salbungsstein Jesu reiben, ihn küssen und, ja, ablecken. Uli war eigentümlich erpicht auf den Besuch der Grabeskirche; zur Besinnung kam er erst, als er sich trotz liebevoller Warnung durch die Gattin den Kopf am niedrigen Eingang zum Heiligen Grab aufschlug. (Ein zwergenhafter Wuchs birgt nicht nur Nachteile, erkannte sie in dieser Sekunde.) Selbstverständlich ließe sich dieser Vorgang in viele Richtungen hinein interpretieren, was wir hier nicht versuchen wollen.
Ich erinnerte mich an literarische Schilderungen von Straßencafés des Sderot (Boulevard) Ben Yehuda im neuen Jerusalem, als sich in den 1930ern und 1940ern Geistesgrößen wie Gershom Sholem einfanden, um mit anderen Immigranten aus Mitteleuropa Gespräche über Metaphysik, die Kabbala oder Kafka zu führen. Die Wanderung von der Altstadt ins neue Jerusalem geriet für uns erneut zum Wechsel in eine andere Welt. Sukkoth, das jüdische Erntedankfest, wurde in unserer Israelwoche begangen, und wir erlebten für eine kurze Zeit, wie sich die Neustadt und ihre Hauptgeschäftsstraßen in ein Volksfestareal verwandelten – aufmerksam bewacht von Polizei und Soldaten. Der Verkehr von Autos, Straßenbahnen sowie Bussen war eingestellt. Das Laubhüttenfest Sukkoth wurde unter den Chassidim der Neustadt frenetisch gefeiert. Jung und Alt labten sich an Limonadenständen, lauschten den Darbietungen der kleinen Musikbühnen, und in mit Blumen und Palmwedeln geschmückten Hütten wurde Naschwerk angeboten. Zehnköpfige Familien verzehrten hier ihr Eis oder andere Süßigkeiten wie die besonders begehrte Zuckerwatte.
Die chassidischen Juden siedeln außerhalb der Altstadt im Stadtteil Me'a She'arim, da für sie bis zur Ankunft des Messias weder Jerusalem, noch der Staat Israel und schon gar nicht die Verteidigung des Landes Glaubens- oder Herzenssachen wären. Ultraorthodoxe Gruppen wie die Lubawitscher, die wir auf der Rückreise am benachbarten Flugsteig nach New York mit Palmwedeln und riesigen schwarzen Schachteln für ihre Pelzhüte hantieren sahen, leben vorwiegend in den USA oder – einige Schritte von uns entfernt in der Münsterschen Straße in Wilmersdorf. Wir schauten auf eine Glaubensmonade, auf ein geschlossenes System, das uns nicht wahrnahm. Die Marsmännchen, das waren wir. Reisen bildet, doch das erstaunlichste Phänomen bleibt, die eigene Fremdheit in der Fremdheit der anderen zu erkennen.
Aber alle arbeiten wir fleißig daran, dass wir Fremdlinge recht bald wieder die Erde verlassen werden, auch wenn Israel die Energie, wie uns versichert wurde, nicht aus Atommeilern, sondern aus Gasfeldern im Mittelmeer gewinnt und die Meereswasseraufbereitung in Trinkwasser vervollkommnet hat.
Das Essen ist eine großartige Mischung sämtlicher Landesküchen, die die Immigranten im Gepäck hatten. Die Levante trifft auf Osteuropa und die traditionellen Speisen des Schtetl, modernes Fusionkochen verbindet sich mit den nordafrikanischen Spezialitäten sephardisch-arabischer Feuerstellen. Was die Kaltmamsell an Pasten, Cremes, Püriertem und Salaten zum Beispiel in Form von Humus, Tahiniauberginenmus oder Tabuleh mit Petersilie und Gurken schon zum Frühstück serviert, ist erstaunlich. Der Variantenreichtum an Brot und Backwaren ist außerhalb Mitteleuropas gewiss einmalig. Einzig Früchte und Gemüse sind eine kleine Enttäuschung. Vielleicht reicht die von den Israelis für das Wüstenklima erfundene Tröpfchenbewässerung doch nicht aus? Warum sind die sonnenverwöhnten Tomaten nicht doppelt so schmackhaft wie unser Hollandgemüse? Fragen einer degustierenden Konsumentin oder einer konsumierenden Degustationsfachfrau.
Eine weitere Veränderung nach einem Vierteljahrhundert (seit 1991) stellt die beunruhigende Zahl an Haustieren dar. Die Attraktivität von Hunderassen mit dem dichtesten und längsten Fellkleid in einem Klima, das selten unter 20 Grad liegt, meist aber über 35, ist mysteriös. Sind Angeberei, gar Tierquälerei im Spiel? – Sicher nicht. Ist dies ein Generalfall für Freuds Couch? Möchten sich die Tel Aviver in schockgekühlten Wohnungen unter ihren Malamuds, Chow-Chows und Wolfsspitzen die Füße wärmen? Fest steht, es gibt außerhalb des Strandes, an dem Hunde selbstverständlich erlaubt sind, keine Auslaufmöglichkeiten für die dauerhechelnden und gestressten Vierbeiner, die überdies die Bürgersteige zukoten. Auch in Tel Aviv kann dies Hundehalter teuer zu stehen kommen. Auch in Tel Aviv gibt es zu wenige Beamte, dies zu kontrollieren, was in manchen Seitenstraßen in ein Spießrutenlaufen mündet: Geht man lieber dem Haufen aus dem Weg oder dem überall ausgeschütteten Katzenfutter? Katzen sollten eine Zeitlang aus dem Verkehr gezogen werden. Ihre Dezimierung hatte indes die rasche Maximierung der Rattenpopulation zur Folge. Die Stadtverwaltung entschied sich für eine Wiedereinführung der Rattenjäger. Es ist so: Die Straßen und Bürgersteige sind nicht sauber.
Auffällig auch, dass sich im vergangenen Vierteljahrhundert scheinbar das Englisch verflüchtigt hat, dessen früher erheblich mehr Israelis mächtig waren als heute. Man sollte glauben, Englisch sei Pflichtfach an jeder Schule des Landes, zumal es sich inzwischen stolz als zweitbester Hightech-Erfinder und -Produzent nach dem Silikon Valley präsentiert und die Vereinigten Staaten ohnehin die engsten Verbündeten sind. Dennoch können viele Junge Menschen – selbst in der Uniform vom Polizisten und Soldaten – keine Auskunft mehr in englischer Sprache geben. Vielleicht hängt dies ursächlich damit zusammen, dass die Sephardim die aschkenasischen Juden in der gesellschaftlichen Hierarchie Israels eingeholt haben. Die erste Sprache der Sephardim in Marokko oder Algerien war traditionell die französische, der kulturelle Bezugsort allein in Frankreich zu finden. Die Aschkenasim hatten durch Emigration und weit verzweigte Verwandtschaft immer schon stärkere Bindungen in die USA. Hier ein Jahr zu verbringen oder sogar ein Studium zu absolvieren, galt für den Nachwuchs als Pflichtprogramm. Vermutlich ist die Erklärung für das sich verflüchtigende Englisch aber deutlich vielschichtiger.
Gegen die Hitze, die sämtliche Ausflüsse, Absonderungen und Müll zu einem klebrigen Schleim auf Asphalt und Steinen verbäckt – wie übrigens in allen sommerlich heißen Großstädten der Welt – hilft keine rasche Schlauchdusche, zumal Wasser für Wichtigeres verwendet werden muss. Eine gewisse Nachlässigkeit ist auch auf privaten Grundstücken zu konstatieren, die in ihrer Massierung das Stadtbild vielerorts nicht schöner macht. Vielleicht eine Begleiterscheinung der Wohngenossenschaften, die es im jungen Staat Israel gab und noch immer gibt, in denen sich alle zur gemeinsamen Verantwortung bekennen müssen, sich jedoch meist niemand persönlich verantwortlich fühlt. Auch das eine hinlänglich bekannte menschliche Verhaltensweise. Natürlich gibt es sie, die gepflegten Boulevards und Plätze, Aushängeschilder einer jeden Kulturstadt. Beherrschend für Tel Avivs Stadtbild sind aber jene vielgepriesenen, UNESCO-geschützten Wohnhäuser aus den 1930er Jahren, deren Fassaden mit Bauhaus oder Art Déco spielen, doch insgesamt dem damals weltweit grassierenden International Style zugeordnet werden müssen. Es soll annähernd 4.000 Exemplare geben. Eine verschwindend kleine Anzahl ist inzwischen saniert und mit Weltkulturerbe-Plaketten versehen worden. Die Mehrzahl sieht – teilweise entwohnt hinter Baugerüsten – nach jahrzehntelangen individuellen Umbauten, mit bröckelndem Putz, verwitterndem Beton und Kabelagen, die sie wie Spinnennetze überziehen, ähnlich hässlich und unzugänglich aus wie die Favelas südamerikanischer Megalopolen. Sie zu modernisieren, ist ein gewaltiges Projekt für die Stadt, insbesondere für ihre Besitzer, die die Sanierungsmaßnahmen selbst finanzieren müssen.
Dies zu beschreiben, bleibt meinem Referat in Marseille (November 2015) vorbehalten.
China im Oktober 2015. Ein Reisebericht
Der Flieger nach Peking hatte Rückenwind. In der Luft können tausend km/h auf 15.000 Distanzmeter zur Erdoberfläche sich wie Stillstand ausnehmen. Bei Bodenhaftung reicht ein Zehntel dieser Geschwindigkeit, um bei Fahrgästen einen unangenehmen Leidensdruck zu erzeugen. Zumal in der Stadt –,
dabei wurden wir Bauhaus-Frauen, die sich zufällig in derselben Maschine befanden, aber erst beim Umsteigen in Peking begrüßten, so großartig empfangen. Drei Studenten der China Art Academy erwarteten uns mit überdimensionierten Namensschildern lachend und winkend am Flughafen von Hangzhou. Dass sie unsere persönlichen scouts, guides and translators sein würden, machten sie nicht in Form von Ansprachen deutlich, sondern durch unaufdringliche Anhänglichkeit. Diese wollte man bald nicht mehr missen, denn der Mann auf der Straße ist wie überall des Englischen kaum mächtig. Schon die mündliche Erläuterung unseres Fahrtzieles wäre nicht verstanden worden. Die bestellten Taxis wurden aufgeteilt. Ich nahm neben der 19-jährigen Xue Tong im Schlitten eines Droschkenunternehmers Platz. Die nächtliche Höllenfahrt vom Flughafen zum Campus konnte beginnen.
Natürlich gibt es sie auch auf Chinas prächtig ausgebauten, gepflegt begrünten, meist achtspurigen Großstadtmagistralen: weiße Zeichen im Asphalt, die die Fahrtrichtung vorgeben. Doch keiner hält sich daran. Die Spuren werden allseitig nach Lust und Lücke gewechselt. "Fahrvergnügen" gepaart mit Geschwindigkeitsrausch stehen in direkter Relation zum Einsatz der Hupe. Je mehr Vehikel durch beherzten Dauerton weichen, desto schneller geht's voran im wilden Spurenslalom.
Wir kennen sie aus dem Kino: weiträumige Kamerakranfahrten über ein Chaos aus Autos, Kleinlastern, Rikschas, Fahrrädern, Mopeds und Passanten – aus der Aufsicht auf asiatisch wimmelnde Main Streets hinein in den Innenraum einer Limousine auf die sich ihr Näschen pudernde asiatische Schönheit. Sich leibhaftig inmitten dieses Chaos' zu befinden, ist weniger gemütlich.
Für den Droschkenboss war all dies kein Problem. Während neben mir die Radnaben von Riesenlastern wie in einer Folterkammer bedrohlich näher rückten, bellte er unverdrossen Befehle an seine Fahrerclique ins Handy, hupte wie ein Wahnsinniger und lauschte mit seinem Sonderempfänger unserem Gespräch auf der Rückbank, um lachend Vokabeln auf Englisch oder gar auf Deutsch zu wiederholen. Ich hoffte auf ein baldiges Ende dieses Purgatoriums, doch würde ich bald lernen müssen, dass in der 8,8 Millionenstadt Hangzhou keine Fahrt unter einer Stunde dauerte.
Zu nächtlicher Stunde erreichten wir den spärlich ausgeleuchteten Campus. Eine Gruppe aufgeregter Studenten empfing uns. Statt nach eurasischem Höhenflug mein Zimmer okkupieren zu können, nahm mich die kleine Miye Gao in Beschlag. Sie hatte in Marburg Kunstgeschichte studiert und sollte Übersetzerin meines zweiten auf Deutsch zu haltenden Vortrages sein. Mein Text war zu lang. Eine Stunde Redezeit hatten Morsezeichen aus China zehn Tage zuvor nach Deutschland durchgegeben. Dass hier die Übersetzungszeit inkludiert sei, wurde in der Botschaft ausgespart. Es sind am Ende anderthalb für den Vortrag und fast zwei für die sich anschließende Diskussion geworden. Der Audimax gut gefüllt und ich in meinem Element als Sprössling von Lehrern.
Mit Geschenken und ersten Honoraren überhäuft, sank ich irgendwann ins Bett.
Unendlich viele Bilder hat der medienkonditionierte Westmensch im Laufe des letzten Jahrhunderts über China gespeichert: Kolonialkitsch; die winzigen verkrüppelten Füße kaiserlicher Hofdamen; Prinzessinnen, deren Hoffart mit Folter und öffentlicher Zurschaustellung ihres langsamen Todes durch abgeschnittene Brüste bestraft wurde (in: Georges Bataille, The Tears of Eros); die Peking-Oper oder der Nationalzirkus mit seinen weltbesten Akrobaten, die von Kindesbeinen an zu Höchstleistungen trainiert werden; Chinesen, die sich vor Wandzeitungen drängen, um sie aufmerksam zu studieren; wüste Beschimpfungen in den Kadern. Mao Zedong schwimmt im Jangtse. Auf dem Tian'anmen, Platz des Himmlischen Friedens, marschieren junge Aktivistinnen im Stechschritt, dem großen Führer ihre strahlenden Gesichter zugewandt (– zwanzig Jahre später werden am selben Ort über tausend Studenten füsiliert). Gigantische Konglomerate von Kohlekraftwerken und Fabrikanlagen, am gegenüberliegenden Ufer Reisbauern, die hinter gehörntem Vieh ihr archaisches Feldgerät bedienen. Maos schrille Witwe Jiang Qing als Kopf der Viererbande ...
Ein weiteres Erinnerungsbild zeigt Lastwagenkolonnen, in denen chinesische Arbeitsameisen mit ausdruckslosen Mienen zum Einsatz an der friedlichen Front gekarrt werden – buchstäblich die Berge abzutragen, die als Imperialismus und Feudalismus auf ihnen lasteten. Der alte Bauer Yu Gong wollte zwei Berge entfernen, die ihm den Weg versperrten. Er nahm sich Zeit, und wenn es viele Generationen seiner Familie beschäftigen würde. Dies rührte die Engel, die ihm schließlich bei seiner Aufgabe halfen ... Mao hatte die chinesische "Yu Gong"-Parabel für seine Zwecke umformuliert.
Ein neues China sollte entstehen. Ein China für das Volk, das die verhasste Fremdherrschaft der britischen und französischen Kolonialherren abgeschüttelt hatte. Engel standen dem Volk, soweit bekannt, nicht zur Seite. Die Chinesen stemmen bis heute mit ihrem riesigen Schatz an Menschen alles aus eigener Kraft.
"Den großen Sprung nach vorn" nannten sie in den späten 1950ern das Programm zur Ernährung, industriellen Aufrüstung und mentalen Erneuerung. Es kostete Abermillionen von Chinesen das Leben – durch Hunger, Krankheit und Verhehrungen des Bürgerkrieges zwischen Maoisten und Anhängern der Kuomintang. Historiker streiten noch immer über die Verlustzahlen. Die Kulturrevolution, mit der Mao das Volk in den zehn Jahren vor seinem Tod, 1976, drangsalierte, spaltete die Gesellschaft, zerriss auf Jahrzehnte Familien, zerstörte in weiten Teilen des Landes Kulturschätze und Denkmäler. Was heute übrigens als historisches Faktum anerkannt und ausgesprochen wird. Mao wird dennoch für seine Visionen eines vereinten Chinas verehrt und ziert mit undurchdringlichem Mona Lisa-Lächeln jeden Yuan-Schein – so wie George Washington als Gründervater der Vereinigten Staaten die Dollarnoten.
Ungewollt bereitete die Kulturrevolution den Boden für Chinas tatsächlichen Sprung nach vorn, mit dem das Land in atemraubendem Tempo in die vorderste Reihe von Industriestaaten aufschloss. Nie wieder Bürgerkrieg, nie wieder Hunger, Wohlstand für alle. Deng Xiaoping, Maos Nachfolger, wusste Ängste und erlittenen Mangel geschickt für seine Politik der Öffnung zu instrumentalisieren. Wieder waren alle dabei, nun mit vermehrter Kraft. Das chinesische Wirtschaftswunder gelang, wie bei uns, nur rasanter, größer, anhaltender. Dabei wurde es durch keinen Sozialstaat ausgebremst. Das paradoxe Ergebnis, getragen und gefördert von allen Deng nachfolgenden Vorsitzenden der Kommunistischen Partei ist womöglich der Chinesen größter Clou: die Vermählung ihres neokommunistischen Systems mit einem Turbokapitalismus amerikanischer Bauart. Letzterer passend geklopft fürs Reich der Mitte. Eheleute, deren Wesen unterschiedlicher kaum sein könnte, die sich aber gleichwohl vertragen. Vermutlich muss man hier sogar von Vernunftehe sprechen, denn der Chinese ist Handwerker und Bauer, aber vor allem ein geborener Kaufmann.
Angesichts der vermeintlich unschlagbaren Effizienz von Demokratie und freier Wirtschaft ein für die Arroganz der Langnasen undenkbares Konstrukt. Wir werden hier Mores gelehrt. Es gibt offensichtlich mehr Wege zum Glück, als unsere Schulweisheit sich träumen lässt. Das Schachmatt der DDR werden wir in China nicht erleben. Jener brillante Schachzug, den die DDR-Bonzen verpassten, als sie bei Skat und Wuhlheidenjagd ihre Männlichkeitsrituale aufführten, lautet: R e i s e f r e i h e i t. Jeder unbescholtene Chinese mit einem Reisepass darf reisen, wohin es sein Geldbeutel erlaubt. Und sollte es ihm in der Fremde doch besser gefallen – das Reich der Mitte mit seinen 1,38 Milliarden Einwohnern würde durch seine Abwesenheit kaum ausbluten.
Die Chinesen dürfen und können fast alles. Was sie nicht dürfen, interessiert sie nicht. Die Redensart "Silence is money" bringt den Mentalitätenwandel auf den Punkt. Reichtum, eine Wohnung, die Limousine ... oh, sie mögen geräumige PKWs! Eine beliebte Familienkutsche der Marke Volkswagen hört hier auf den spanisch-spritzigen Namen "Lavida". Es geht um nicht weniger als "das Leben" beim Erwerb eines Fahrzeugs, das noch vor zwanzig Jahren für die meisten Chinesen ein Phantasma darstellte. Wie wir jetzt wissen, tragen deutsche Spitzenprodukte nicht unerheblich zur Luftverschmutzung der chinesischen Umwelt bei.
Die unnahbar stolze Kaiserin; die intrigante, auf Vorteil bedachte Konkubine; die auf Risiko spielende Kokotte – ungezählte Konterfeis der schönen alten Dame China trägt der Westmensch in seinem Bildergedächtnis. Keines davon ist wahr. Sie sind Vergangenheit. Und doch sind sie alle wahr, da sie Gegenwart und Zukunft abbilden. Weil wir alles zu verstehen suchen, zwanghaft analysieren müssen, geraten wir Westmenschen in China rasch an die Grenzen des für uns Begreifbaren. In China ist alles möglich. Tausend Widersprüche – hier muss man nicht tiefstapeln – stoßen sich, treiben einander voran, stehen nebeneinander auf der großen Welle, die da Fortschritt heißt. Ein so gigantisches wie zuversichtliches Summen erfüllt das Land: weiter weiter, in die Zukunft des 21. Jahrhunderts hinein. Abermillionen summen gemeinsam, vielleicht nicht immer in derselben Tonart. Das ist ihre Stärke. Während unsereins sich in basisdemokratischen Hinterbänkel-Gesängen aufreibt, wird hier – nach besonnenem Abwägen – zum Wohle aller autokratisch bestimmt, wie dieses wohl beschaffen sein könnte.
WIR schaffen das! Merkels Motto besitzt in China den angenehmen Beigeschmack eines sichtbaren Erfolges. Da stehen wir mit unserer Kanzlerin staunend vis-à-vis: Bis 2020 wollen die Chinesen erreichen, die letzte Armut auszurotten, mit Stumpf und Stiel, denn noch immer leben 20 bis 30 Millionen unter der Armutsgrenze. So verlautbarte es dieser Tage The People's Republic of China's leading man, Präsident Xi Jinping. Wer möchte daran zweifeln, angesichts der Tatsache, dass China bereits heute auf fast sämtlichen Förder-, Produktions- und Exporträngen auf Platz 1 steht? Und wahrscheinlich werden SIE es sein, die die ersten Formeln zu einem rigiden Umweltschutz in Maßnahmen umsetzen, an denen wiederum alle mitarbeiten. Die Zeit drängt, wie überall auf der Welt.
Selbstverständlich darf nicht vergessen werden, dass die China-Reisende nur mit einem winzigen Ausschnitt des begüterten Ostens konfrontiert war. Von rückständigen und vernachlässigten Landschaften an der westlichen Peripherie des Riesenreiches sah sie nichts, hörte sie nichts. Nichts von smogerstickten Großstädten im Landesinneren, erfuhr nichts von elenden Arbeitsverhältnissen in zum größten Teil für den Export produzierenden Industrien. Die Zahlen sind geheim: drei- bis fünftausend vollstreckte Todesurteile – jährlich? Das Reich der Mitte gibt sich nach außen weltoffen; nach innen ist es in vielen Bereichen hochneurotisch bis hin zur Schizophrenie. Die Leute in den freien Westen reisen zu lassen, um sie daheim zu bespitzeln, in Polizeigewahrsam zu nehmen oder mit Hausarrest zu belegen? Das muss irgendwie verkraftet werden. Die meisten tun es, indem sie schweigen.
Auf eine zaghafte Anfrage hin, wie der Chinese all diese Widersprüche aushielte, wurde mir von Miye Gao, der "Marburgerin", streng beschieden, dass auch in Deutschland nicht alles zum Besten bestellt sei. Als Beispiel wurde erwähnt, dass Musliminnen in öffentlichen Ämtern keine Kopftücher tragen dürften, aber überall Kreuze rumhängen würden. Das wird bei uns natürlich gerade wieder diskutiert ...
Es ist bei diesem ersten Versuch geblieben, etwas über das politische Wesen im chinesischen Bürger zu erfahren. Es ziemt sich nicht, als Gast direkte Fragen zu stellen. (Ist mir ähnlich in the land of the free, in den USA, ergangen.) So ist das mit Vorurteilen oder Klischees: Kaum spricht man sie aus, wird man selber als urdeutscher Kritikaster und Bedenkenträger entlarvt. Damit zu parieren, dass auch der Andere Klischees aufsäße, wäre ebenso typisch deutsche Klugscheißerei. Zu recht.
Das Wunderbare am Reisen ist die praktizierte Völkerfreundschaft. FRÄNDSCHIPP! Ist nicht eine der hohen Tugenden des Homo sapiens der Wunsch und die Fähigkeit zur wohlwollenden Begegnung mit seinesgleichen? Das Gespräch zu suchen, ein Bad in gegenseitiger sympathischer Neugier zu nehmen, um ein wenig befreiter vom Ballast der Selbstfesselungen wieder aufzutauchen? Das braucht nur Minuten zu dauern. Man bleibt stehen, um eines der niedlichen Kinder mit schwarz lackierten Pagenköpfchen zu bewundern, und es wird von der ganzen Sippe freudigst zurückgestaunt: "Hello and bye-bye". Das ist selig machend.
Die neugierige Deutsche wohnte für eine Woche in der wohlhabenden Provinz Zhejiang, genauer: in deren Hauptstadt Hangzhou – von einem Abstecher nach Shanghai abgesehen. Bewegte sich in der relativ liberalen und Missstände durchaus beim Namen nennenden Exklave der Bauhaus-Fakultät. Wurde verwöhnt als Teilnehmerin der Konferenz "Bauhaus and Creativity" ... auf dem Campus der Akademie war sie umgeben von Lehrern und von Studierenden aus Chinas aufstrebender Mittelschicht, die ihren Kindern die teure Ausbildung allerdings komplett selbst finanzieren muss. Ausgerichtet vom Staat wird die Schulbildung bis zum Abschluss der Highschool, also bis zu unserer Hochschulreife. Danach wird es nach amerikanischem Modell privat: Gebühren für die Hochschulen, Unterbringung in Studentenheimen, die tägliche Kost, Material zum Studieren, Kleidung, die Heimreisen in entlegene Orte – chinesische Eltern legen sich krumm für ihren Nachwuchs, der nach Parteidoktrin, wie bekannt, seit den 1980ern aus nur einem Sprössling bestehen durfte. Doch wie der große Führer Mao lange zuvor beschied: "Das Dogma ist weniger wert als ein Kuhfladen."
Viele Chinesen verhielten sich dem Zitat gemäß und verweigerten Deng in ihrer Familienplanung die Gefolgschaft – mit dem Resultat, dass ihre Zweit- oder gar Drittkinder als "Schattenkinder" ausgegrenzt werden. Sie nehmen als Identitätslose weder an Ausbildung noch am Arbeitsleben teil. Ohne Pass dürfen sie nicht heiraten und selber keine Kinder haben. Diese Auslöschung von Existenzen ist drakonisch, und wie immer in China reden wir hier nicht von wenigen hundert Ausnahmen, sondern von vielen Millionen, die schuldlos "im Schatten" ihr Leben fristen.
Chinas Bevölkerungsstatistiker haben indes längst erkannt, dass das Einkind-Dogma ein inzwischen zu enger, aber vor allem ausgedienter Schuh ist. Auch in China erreichen die Menschen inzwischen ein hohes Alter. Lag das Lebensdurchschnittsalter in den 1950ern noch bei 35 Jahren (!), so bewegt es gegenwärtig zwischen 70 und 77. Die Jungen werden schon in Kürze die Gleichung "1 – 2 – 4" nicht mehr erfüllen können. Mit ihr wird verlangt, dass ein Kind für die Versorgung von Eltern und beiden Großelternpaaren aufzukommen hat! Wie gesagt, den kuscheligen Sozialstaat gibt es nicht. Die betrieblichen Pensionen, die, um für den Nachwuchs Platz zu schaffen, oft schon mit 50 bis 55 Jahren angetreten werden, sind schmal; die Ökonomie ist am amerikanischen Vorbild ausgerichtet. – Seit 2013 sind wieder zwei Kinder erwünscht; mit ausdrücklicher Erlaubnis und als Belohnung für Menschen aus der Einkind-Ära. Ab heute (29.10.2015) gilt die staatlich sanktionierte Regelung für das gesamte Volk.
Doch wohin mit all den Menschen? Sie müssen ernährt, behaust und transportiert werden. Und sie sollen arbeiten, auch wenn sie in unserer Jahrhundertmitte wie in allen Industrienationen älter und deutlich weniger werden. Das Land schwappt über vor Chinesinnen und Chinesen; die Aufgaben sind gewaltig. Einzelkinder, mit denen ich auf dem Campus sprach – und alle waren sie Einzelkinder – sind selber vehemente Verteidiger der Doktrin, der sie ihr Einzelgängertum verdanken. Es steht zu vermuten, dass die Saturiertheit, die der Kapitalismus über kurz oder lang bei all seinen Kostgängern erzeugt, auch vielen Chinesen die Zumutungen des Kinderreichtums nicht mehr wird abnötigen können. Dogmen sind weniger wert als Kuhfladen!
Umbrüche auf allen Ebenen gesellschaftlicher Belange. Der wohl radikalste für das chinesischen Sozialgefüge ist die Auflösung eherner Familienstrukturen, welche allen Mitgliedern Pflichten zuweist, die vor allem die Jugend heute nicht mehr zu erfüllen bereit ist. Heirat, Nachwuchs, Familienalltag – alles wird streng reglementiert und überwacht, Abweichungen werden nicht geduldet.
Dennoch traf ich auf dem Campus schwule Studenten, die keinen unglücklichen Eindruck auf mich machten. Einer plante gar, mit seinem Gefährten in die USA auszuwandern. Meine Assistentin Miye Gao möchte sich dem Stress durch die Verwandten eines noch unbekannten Gatten erst gar nicht aussetzen. Sie erwägt persönliche Nachkommenschaft über eine Samenbank! Die Studierenden scheinen selbstbestimmt und zielorientiert, nur was bedeutet all das, wenn die Familie doch noch "rufen" sollte?
Im Vergleich zum öffentlichen Leben wirkten sie sogar wie die Wahrer eines britisch angehauchten Konservativismus, und ihre Academy präsentiert sich als ein Hort der Tradition. Dies mag ein ästhetischer Rest der zuvor getragenen Schuluniformen sein. –
Im Nahverkehr erschrickt man häufiger vor lebenden Totenköpfchen: Junge Frauen legen sich öffentlich und umstandslos Feuchtigkeitsmasken auf ihre Gesichter. Der Minirock feiert fröhliche Urständ, was bei den Phänotypen unter den Chinesinnen – die gertenschlanke, teils hochgewachsene Städterin von der Ostküste und die gedrungene bäuerliche Frau aus dem Landesinneren – nur einem der beiden steht. Jeansbündchen mit fünf Zentimeter langem Reißverschluss sinken wie bei uns unter die Scham(haar)grenze. Auch in China nackte Mädchenbäuche, die gleichen Moden hier wie dort. Eher tragisch schien mir der Hang zum Ondulieren des prächtigen seidenglatten Haupthaars. Aber eine jede nach ihrer Façon.
Nagelstudios können sich, so steht zu hoffen, auf lange Sicht wohl nicht etablieren. Das wäre auch unsinnig, denn Chinesinnen sind aus dem globalen Genpool mit zarten schlanken Händen und allerfeinsten mandelförmigen Fingernägeln bedacht worden.
Den Manga-Irrsinn der Cousinen und Cousins im Reich der aufgehenden Sonne, die sich wie ihre Lieblingsheroen und –heroinen verkleiden und schminken, machen sie (noch) nicht mit.
Die Erdung ist hier eine andere; die Dekadenz der japanischen Verwandtschaft wird vermutlich belächelt.
Die Sauberkeit der Städte ist vorbildlich. Es mag auch Schlendrian geben; der ist wahrscheinlich eher privater Natur. Doch außer bei sehr Alten, die unermüdlich ihre Reisigbesen schwingen und Straßen, Gehwege oder Plätze "nicht sauber, sondern rein" halten (auch Graffitis habe ich keine entdeckt), gibt es in China das Gerhard Schröder-Phänomen – kein Mensch trägt weißes Haupthaar! Ein Gemälde von René Magritte: Alle zehn Tage werden die höchsten Chargen des ZK der Kommunistischen Partei abkommandiert und sitzen nebeneinander in einem riesigen Frisiersalon, um sich den schlohweißen Haaransatz sowie die Augenbrauen schwarz nachfärben zu lassen!
Was die Chinesen vor allem anderen auszeichnet, ist ihre Fähigkeit zur Adaptation. Sie passen sich in enormer Schnelligkeit neuen Mustern und Bezugssystemen an. Zweifellos wird es ihnen zumindest in den urbanen Gebieten gelingen, archaische Strukturen in die Gegenwart moderner Sozialgefüge zu übersetzen – auch wenn dies mit erheblichen Reibungsverlusten einhergehen sollte. Und hatte nicht ohnehin die Partei selbst mit ihrer Einkind-Doktrin die moderne Kleinstfamilie aus Vater, Mutter und Kind in China eingeführt? Alle reden über Kopierschutz, Industriespionage und das dreiste Abkupfern technischer Neuerungen. Im Zuge der Implementierung kapitalistischer Strukturen gaben die Chinesen einen Großteil ihrer Kultur und ihrer traditionellen Lebensformen auf, um ihren Alltag gemäß eines freien Handels- und Wirtschaftssystems zu amerikanisieren. Die fatale Mechanik aus Angebot und Nachfrage haben sie dabei selbstverständlich mit übernommen. Omnipräsente Werbung im Fernsehen, an Plakatwänden oder an Verkehrsknotenpunkten macht eines in aller Drastik deutlich:
Die dauerlächelnden, pausenlos konsumierenden, gnadenlos ignoranten Kleinfamilien wecken keine Freude. Sollten diese das Maß aller Dinge bleiben, ist es um unsere Welt nicht gut bestellt.
Bei ihrer ökonomischen Erfolgsstory dürfte die Abwesenheit jeder öffentlich oder sonstwie praktizierten Religiösität eine erhebliche Rolle spielen. Ich weiß über diese Zusammenhänge zu wenig, aber eines scheint auch bei nur oberflächlicher Betrachtung evident zu sein: Die Säkularisierung von Gesellschaften, die die Ausübung des Glaubens zur reinen Privatsache erklären, trägt erheblich zu ihrer Wirtschaftskraft bei. Offensichtlich können mehr oder andere Energien frei gesetzt werden, die in streng gläubigen oder gar orthodoxen Staatsverbünden in religiöse Prinzipien kanalisiert werden, die Prosperität binden, wenn nicht unmöglich machen.
Die eingangs erwähnten Lastwagenkolonnen sind auf Chinas Highways noch immer unterwegs. Vorwiegend nachts und nicht mehr auf unbefestigten Schotterwegen, sondern auf sämtlichen Hauptstraßen und Autobahnen. Heute befördern sie keine Arbeitsameisen in Mao-Anzügen mehr, sondern Baumaterial – unzählige Megatonnen an Sand zur Betonfabrikation. Der Berliner beschwert sich über Baustellen, die ihn behindern und sein "jeliebtes" Stadtbild verschandeln. Den Kern der Klage macht jedoch das Unbehagen an Veränderung aus. Alles möchte bleiben, wie es ist. Sollte es ein Stadtschloss sein, das da gebaut wird, ist es gut, denn noch besser ist es, wenn es wird, wie es war. Für einen Chinesen sind dies unzeitgemäße Gemütsschablonen, der Gegenwart zu begegnen. Zwar hat er lange schon den Wert kultureller Sachgüter erkannt und trauert ehrlich aus Gründen der Tradition über die Verwüstungen, die die Kulturrevolution in Städten, Klöstern oder Palastanlagen hinterließ. Aber aufgepasst: Traditionen und deren Pflege lassen sich heute in klingende Münze umwandeln. Der Tourismus wächst, trotz aller bürokratischer Widrigkeiten, mit denen Ausländer konfrontiert werden – angefangen bei der Beantragung des teuren Visums und aufgehört bei der Unmöglichkeit, mir nichts dir nichts von A nach B in einen Zug steigen zu können.
Wenigstens ein Tagestrip nach Shanghai!, lautete meine Parole, der sich zwei weitere Konferenzteilnehmer anschlossen. Xue Tong war unser so unverzichtbarer wie charmanter guide. Wer Feinheiten und Kniffe des Alltags nicht kennt, ist aufgeschmissen. Bahntickets müssen aufwendig und rechtzeitig per Internet geordert werden, und das geht nur auf Chinesisch. Selbst dann steht man dreißig Minuten und länger in der Schlange, um sie abzuholen. Ohne Vorbestellung gibt es am Wochenende zwischen Hangzhou und Shanghai in keinem Zug mehr Sitzplätze. Abermillionen wollen reisen – zwei Drittel des Passagieraufkommens bewältigt Chinas Eisenbahn – und das am liebsten im Hochgeschwindigkeitszug, der in unserem Fall eine Spitzengeschwindigkeit von 300 km/h erreichte, doch über 400 schafft, wenn er will. Der "CRH380A", Xue Tong, Tochter einer Eisenbahner-Familie, bestätigte es mir auf Anhieb, als ich im Zug nach kleinen Siemens- oder Bombardier-Plaketten suchte (sic !), ist eine chinesische Eigenentwicklung und der schnellste Serienzug der Welt. Stehplätze sind nicht vorgesehen. Das Volk hat sich ein Anrecht auf einen bequemen Bahnsessel erarbeitet, von denen in der ersten Klasse pro Wagon gerade zehn futuristisch-eiförmige des Kalibers "Weltraumschiff" montiert sind. Die begehrte Beinfreiheit? Meine Beine hätten getrost zwei Meter lang sein können; man darf auf der 190 Kilometer-Strecke im Liegen schlafen und wird von Hostessen bedient. Der Zug ist eine Stunde unterwegs.
Stolz, aber ohne Prahlerei wird gezeigt, was man seit Dengs Öffnung geschaffen hat. Zentrale Bahnhöfe oder Flughäfen sind auf Vervielfältigungseffekte aus der Trickkiste Hollywoods nicht angewiesen. Das Ende der Bahnhofshalle von Shanghai New Railway Station in Zhabei ist durch die Erdkrümmung auch mit Fernglas nicht zu erkennen. Ich übertreibe. Aber nur ein wenig. – Kaum ein Haus ist älter als zwanzig Jahre. Die meisten sind jünger als zehn. Gebaut wird überall, ob in den Städten Turmhäuser bereits durch neue und höhere ersetzt werden oder in den dicht besiedelten, eher ländlichen Weichgebieten, die einen großstädtischen Ballungsraum mit dem nächsten verbinden. Endlose Reihen von kleinen Mehrfamilienhäusern mit eigenen Gärten. Eine tadellos manikürte Welt von Schlafstädten. Hier wird den Holländern ernsthaft Konkurrenz gemacht, denn Häuserzeilen, Grünanlagen, Kanäle erinnern in ihrer geometrischen Ausrichtung an das öffentlich demonstrierte Ordnungsbedürfnis unserer Nachbarn.
Wären da nicht die Pagoden entlehnten Giebel und Türmchen, die bunten Fassaden, die unterschiedlichen Materialien, die Vielfalt vortäuschen möchten, aber aus den Katalogen chinesischer Bauunternehmer stammen. Ein wenig schmeckt es nach DisneyWorld auf der Bahnfahrt von Hangzhou in die Megalopole Shanghai, die durch die fruchtbare Ebene südlich des Jangtsekiang-Deltas führt. In Meeresnähe und dank der schwül-heißen Sommermonsune des gemäßigten Klimas gedeihen sogar Trauben!
Da ich mich den Herausforderungen der Konferenzwoche nüchtern stellen wollte, konnte ich vom chinesischen Wein nicht kosten. Es heißt, hier würde noch an einer Qualitätsverbesserung gearbeitet – damit der Chinese seinen Wein nicht mehr mit CocaCola mischen muss? Dieser Kelch ging buchstäblich an mir vorüber.
Und Shanghai? Wir brachen morgens um neun auf, kehrten abends um 22:00 Uhr zurück. Von der Stadt erlebten wir drei Stunden lang den touristischen Kern. Die restlichen zehn Stunden verbrachten wir in Taxis, in Zügen, auf Anschlüsse in Bahnhofshallen wartend oder wie die Sardinen in der überfüllten Shanghai Metro. Es war der anstrengendste Ausflug meines Lebens! Unser russischer Konferenzkollege Konstantin, der noch in derselben Nacht von Shanghai nach Moskau zurückflog, äußerte überdies den frommen und durchaus verständlichen Wunsch, die eingenommenen Yuans in Euros umtauschen zu wollen. Eine Bank zu finden, die nachmittags um vier noch offen stand und über einen ausreichenden Vorrat an Euros verfügte, stellte für Xue Tong und ihr I-Phone eine beachtliche Herausforderung dar und kostete uns alle inklusive eines enormen Verwaltungsaufwands durch die Bankangestellten anderthalb Stunden. Wir besichtigten nicht viel mehr als "The Bund", was Hafenanlegestelle bedeutet – die berühmte Uferpromenade am Fluss Huangpu mit ihren neoklassizistischen Gebäuden der Jahrhundertwende. Von hier wird ein weiter Panorama-Schwenk auf die Skyline des neuen Viertels Pudong gewährt. Die Skyline wirkte indes so kirmeshaft, eher noch: wie aus Spielzeughäusern zusammengesteckt, dass eine Besichtigung per Fernblick ausreichend schien. Am Bund war uns dann noch ein Tässchen Kaffee im Peace Hotel vergönnt. Das großartige Art Déco seiner Innengestaltung erinnerte an Vorkriegszeiten und auch daran, dass es früher als "Cathay Hotel" berühmt war. Viele Emigranten Hitler-Deutschlands, die es in den Fernen Osten nach Shanghai geschafft hatten, fanden hier ihre erste Anlaufstelle und Herberge. Ein paar Straßenzüge in die Altstadt hinein, wobei wir noch nicht mal das Französische Viertel erreichten, ein Dinner à la Szechuan, auch um unsere 19-jährige "Führungskraft" zu verköstigen, das war es leider schon. –
Xue Tong war perfekt in vieler Hinsicht. Ihr Name bedeutet "Schnee-Kind": empfangen bei Schnee, geboren am Tag des Kindes Anfang Juni. Immer gut gelaunt, lachend, für jedes noch so blöde Wortspiel im Englischen zu haben. Zudem war sie unglaublich versiert im Umgang mit ihrem I-Phone, das sie einsetzte wie ein Zaubergerät. Es schien ihr alles damit zu gelingen. Mit fliegenden Fingern bediente sie sein Display, nutzte Programme, von denen ich noch nie gehört hatte, fand blitzschnell Bankhäuser und Restaurants.
Der Zugang zu Google und anderen westlichen Internetforen ist Chinesen verwehrt. Sie bezeichnen als "firewall", was die Partei da vor ihnen aufgebaut hat. Die Jungen schaffen es dennoch, diese Mauer durch allerhand Tricks und Schliche zu überwinden, was sie konsequenterweise als "jump over the wall" bezeichnen. Das Verblüffendste an Xue Tong, die auf Wunsch des Vaters, eines einfachen Eisenbahnangestellten, seit ihrem sechsten Lebensjahr Englisch lernt und es nahezu akzentfrei spricht: Nach hunderten von TV-Stunden, offenbar exklusiv amerikanischen Serien gewidmet, die mit wenigen zensurbereinigten Auslassungen auch in China laufen, hat sie sich sogar die Mimik und den altklugen Duktus amerikanischer Teenager angeeignet. Ein Fall von mimetischer Anverwandlung, der mir fast unheimlich war. Das Wunderkind hatte als Studentin der Filmtechnik ein Semester übersprungen und war deutlich weiter als ihre Kommilitonen, die voller Bewunderung vom "Schnee-Kind" sprachen. Als Xue Tong ("Schüetong") erzählte, auch sie habe sich wie viele Chinesinnen die Augen vergrößern lassen, wusste ich nicht so recht, ob sie mich veralbern wollte. Einem child prodigy traut man alles zu, aber zumindest die Autonomie, sich von Modeerscheinungen entfernt zu halten. Sie war mir in vieler Hinsicht ein Rätsel. Ich hätte ihre Großmutter sein können und hätte sie doch gern als Tochter gehabt.
Ein zweiter großer Wunsch wurde mir am letzten konferenzfreien Tag erfüllt, als mich die Familie der Studentin Shiying zum Lunch einlud. Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Ich hatte mich selbst eingeladen. Denn ich war unglaublich neugierig darauf, wie "normale" Familien in China leben und wohnen. Shiyings Mutter holte uns am Campus ab. Ihre beiden für Westmenschen unaussprechlichen Vornamen kürzte sie ab, indem sie erklärte: "Nenn' mich einfach Christina." Viele Chinesen besitzen diesen europäischen Zweitnamen, ihr nom de guerre in der Begegnung mit westlichen Kulturen. (Jack Ma, Begründer des Internetversands Alibaba, der asiatischen Konkurrenz von Amazon, ist nur ein Beispiel.)
Im Jeep-SUV des Familienoberhauptes fuhren wir durch das Naherholungsgebiet Hangzhous und dessen in malerische Hügellandschaften eingebettete Teeplantagen in ein wohlhabendes Viertel, unweit von downtown Hangzhou. Zwischen sechs- bis zwölfstöckigen Wohnhäusern, Grünanlagen und Geschäften, die alles für den täglichen Bedarf feilboten, entdeckte ich auf den Straßen einen regen "Kiez"-Alltag. Unter Friseuren, Geflügel- und Fischhändlern, Nudel- und Teigtaschenbuden sowie Spezialschneidereien für Vorhänge und Gardinen fanden sich grüne Märkte für regionale Produkte und im "Casa Miel" (!) sogar ein französischer Bäcker ¬– laut Shiying allerdings maßlos überteuert und nicht wirklich gut.
Ihre Eltern wohnten in einem Mehrfamilienkomplex, dessen Treppenhaus nach sozialem Wohnungsbau ausschaute, nicht so jedoch das "house" selber, wie das geräumige Apartment von seinen Bewohnern genannt wurde: offene Wohn-, Speise- und Küchenlandschaft, daneben Zimmer für Eltern, Kind (für die studierende Shiying nur noch an den Wochenenden) und eines, das als Büro genutzt wurde; dazu ein Bad und zwei geräumige Balkons, auf denen sich an jenem Samstag die Zugehfrau zu schaffen machte. Der Wohnbereich wie überall in unserer schönen neuen Welt dominiert von einem leinwandgroßen Flachbildschirm, alles schien bestens ausgestattet.
Was hatte ich mir vorgestellt? Vermutlich nicht viel mehr als den DDR-Standard zum Fall der Mauer. Die deutsche Arroganz, da reckte sie wieder ihr hässlich' Haupt. Auf meiner Reise sollte ich mich von vielen Stereotypen verabschieden. Ich war zu Gast in einem Mittelklassehaushalt wie es ihn inzwischen nicht nur im Westen, sondern auch in China gibt; zu dem neben dem Jeep auch der obligatorische Volkswagen für die Dame gehört. Die Eltern Shiyings sind als Brücken-Ingenieur und als Dozentin für Textiltechnologie tätig. Christina reist im Dezember zu einer Konferenz nach Mailand.
In nur dreißig Jahren gelang es den Chinesen, zumindest im affluenten Osten ihres Landes sämtliche ökonomischen Differenzen im direkten Westvergleich auszuradieren. Natürlich sind sie noch vorhanden, die Überbleibsel des Sozialismus: Familienbücher, in die man Standorte eingetragen lässt. Umzüge in andere Distrikte erfordern eine Genehmigung, genau wie die Haltung von Tieren, mit denen sich die gesamte Hausgemeinschaft einverstanden erklären muss. Aber auch in China wächst die Gemeinde von Hundeliebhabern, denn es kläffte von vielen Balkons.
Das Mittagsmahl war launig, auch weil der Vater pausenlos wiederholte, wie gut das Bier gewesen sei, das er in Deutschland probieren durfte – in der Stadt mit dem für Chinesen unaussprechlichen Namen "München". Dabei strich er sich genüsslich über seinen Bauch. Irgendwann wurde er von der genervten Tochter aufgefordert, keinen Alkohol mehr zu erwähnen. Sein Englisch war dürftig, Shiying musste übersetzen. Christina hingegen hatte ein Jahr bei Verwandten in den USA gelebt. Wir redeten über Gott und die Welt, das Lebensgefühl der jungen Leute, den Konsum, die Energieerzeugung in China, die Umweltverschmutzung, die Zukunftsperspektiven für sämtliche Weltbürger. Mit drei unterschiedlichen I-Phones wurden schließlich Fotos unserer Mittagsrunde angefertigt.
Das Essen hier daheim so köstlich und bekömmlich wie bei den Konferenzgelagen auf dem Campus oder bei unseren wenigen Restaurantbesuchen. Es gibt kein Brot, das den Namen verdiente. Brot und Kuchen sind Neuigkeiten aus den USA, und leider schmecken sie auch so. Milch ist natürlich bekannt, doch Derivate wie Joghurt oder Quark erst seit wenigen Jahren. Und wieviel gesünder ist das! Den Kulturschock erlitt ich bei meiner Rückkehr, da sich mein Verdauungsapparat dem schweren deutschen Essen verweigerte.
Shiying war sichtlich erleichtert, als sich ihr Erzeuger zu einer Konferenz verabschiedete. Das Nachmittagsprogramm führte uns Frauen durch die verstopfte City zum Messegelände am Stadtrand. Unterwegs wurde mir die an anderem Ort neu errichtete Altstadt Hangzhous gezeigt: Holzhäuser, umgeben von einer Stadtmauer, auf einer circa zwei Fußballfelder großen Fläche – etwa ein Fünftel des Gebietes "überdacht" von einem Autobahnzubringer! Irgendwo in Hangzhou musste auch das bei Westmenschen berühmt-berüchtigte Neu-Paris samt Eiffelturm liegen. – Welche Chuzpe! Welche Perfidie bei aller Perfektion. Was nehmen sie sich heraus die Chinesen! – Ich konnte es, wie vieles andere auch, nicht besichtigen. Wir passierten den malerischen West Lake, samt der Pagoden, Tempel und Museen an seinen Ufern Erholungsgebiet und Wahrzeichen der Stadt. Ein kurzer Ausflug zu Ehren der Konferenzteilnehmer beinhaltete drei Tage zuvor eine Bootstour und einen Uferspaziergang. Bei den an mir vorbeigleitenden Sehenswürdigkeiten kam mir etwas wehmütig in den Sinn, dass ich bei dieser Reise den üblichen touristischen Schnickschnack aus Zeitmangel hatte auslassen müssen. Doch wieviele schöne Begegnungen waren mir stattdessen beschert worden!
In Hangzhou, dem früheren Zentrum chinesischer Seidenproduktion, erwerben die Damen üblicherweise ein Seidentuch, um oft genug daheim zu erkennen, dass sie mit täuschend echter Kunstseide reingelegt worden waren. Das obligatorische Döschen Grüntees hatte mir Christina bereits im "house" feierlich als Geschenk überreicht. Ich war von den vielen Gaben "gift" bereits ein wenig benommen. Die Freundlichkeit und die Großzügigkeit der Chinesen beschämt jeden Reisenden!
Das Ziel in einem der vielen für mich unbekannten Stadtteile Hangzhous war endlich erreicht. Anderthalb Stunden blieben uns für einen Schnelldurchgang durch die Messe. Auf mehreren Ebenen fand ein Programm zur aktuellen Designproduktion in der Provinz Zhejiang statt. Das Motto lautete "Dekor und Verzierungen". Für Shiying, Christina und mich von besonderem Interesse waren Wettbewerb und Ausstellungskojen, an denen die China Academy of Art beteiligt war. Die Qualität der hier von den Studierenden gefertigten Design-Objekte ist hoch – manche Entwürfe wirkten auf mich exotisch (wie sonst?), einige wenige leicht kitschig. Wäre es anders gewesen auf studentischen Ausstellungen bei uns zu Hause – bei erkennbar niedrigerem handwerklichen Niveau? Die Tendenz geht in China seltener in eine "künstlerisch gewollte" Ecke; viel eher stehen die Schönheit der Form und maximale Praktikabilität im Vordergrund. Da haben wir es, "form follows function", ein weltweites und den Menschen offenbar seit Jahrtausenden eingeschriebenes Prinzip der Kreativität!
Der letzte Tag nahm für mich mit dem Gang zum Parkplatz zwischen fast verblühten Osmanthus-Sträuchern, dem olfaktorischen Wahrzeichen Hangzhous, sein Ende. Samt der Anfahrt zur Messe hatten wir erneut dreieinhalb Stunden auf Hangzhous Straßen zugebracht. Chinesische Distanzen und deren Überwindung sind dem Berliner fremd, da er sich eines meist gut funktionierenden Verkehrsverbundssystems erfreut und dennoch klagt. Ein Besuch in China sei ihm zum Erlernen von Demut und Geduld empfohlen.
Selbstverständlich war das nicht alles. Ein Bericht über die Bauhaus-Konferenz aber wäre ein anderer als die hier präsentierten Reiseerlebnisse und Impressionen von einem fremden, nie zuvor besuchten Land, seinen Menschen und seiner Kultur. Was in den sechs Tagen nur ein leichtes Schaben an der Oberfläche von Phänomenen sein konnte.
Zu ersterem gehörte unweigerlich auch das Päckchen aus Missmut, Konkurrenzdenken und Kritiklust, das die Deutschen noch auf einer Reise zum Mond oder auf den Mars dabei hätten, um sich über indigene Marsvölker zu erheben. Ja, auch ich gehöre zu dieser Truppe. Kollegen aus Russland, Indien oder Japan fand ich sympathischerweise bar solcher Sentiments, übrigens auch bar jener Selbstherrlichkeit, mit der sich einige Landsleute glaubten, spreizen zu müssen.
Nichts habe ich erzählt über die Anstrengungen des Bauhaus-Instituts der China Academy of Arts, eine eigenständige Design-Sammlung von Rang aufzubauen. Auch hier bei einer gemeinsamen Ausstellungsbesichtigung auf deutscher Seite viele lange Gesichter, Naserümpfen und leise gemurmelte Kritik: Oho, hier wird einer zum Bauhäusler gemacht, obwohl er die Schule nur zwei Monate lang besucht hat! Ein Skandal. – Wir können immer und überall alles besser. Dabei räumte Prof. Hang, Leiter von Bauhaus-Institut und Sammlung, der mit Unterstützung seiner Assistentin Zoe die Konferenz auf's Trefflichste organisiert hatte, ein, dass sie auch minderwertige Stücke besäßen und durchaus nicht alles hochkarätig sei.
Es soll keiner unreflektierten Lobhudelei das Wort geredet werden, aber dass sie in Hangzhou den unbedingten Willen haben, den Fleiß aufbringen, viel Arbeit und noch mehr Geld investieren, um mit ihrer noch jungen (modernen) Designgeschichte am Weltkulturerbe Bauhaus partizipieren zu können, verlangt höchsten Respekt. Ansonsten sollten wir Westmenschen uns immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass uns die Chinesen in den letzten 8.000 Jahren in vielen Kulturleistungen um Lichtjahre voraus waren.
Für ihren Museumsneubau, in dem ab 2017 die Sammlung präsentiert werden soll, konnten sie den portugiesischen Architekten Álvaro Siza gewinnen; für unser labyrinthisches Hotel, dessen Beschreibung allein einige Seiten in Anspruch nehmen würde, den chinesischen Pritzker-Preisträger Wang Shu! In das Campus-Gelände integriert, liegt zwischen Audimax und anderen Akademie-Gebäuden zudem ein Museum für Kunst und Gewerbe mit einer erstklassigen Sammlung traditioneller chinesischer Gebrauchsgüter und Möbel.
Alte Formen der Gestaltung werden also bald auf neue im Design-Museum treffen und sich studieren lassen. Ein Saal in diesem Haus ist der chinesischen Kunst des Schattenspiels gewidmet, wo eigens für uns Konferenzteilnehmer eine Sonderaufführung organisiert wurde.
Aber dies wäre, wie gesagt, ein anderer Text. Und wer an dieser Stelle bedient ist, möge nun aufhören zu lesen.
Was folgt, ist der Epilog meines China-Abenteuers, denn eine Überraschung erwartete mich während meines Aufbruchs zur Rückreise doch noch: Angesichts der frühen Stunde meines für 4:20 Uhr morgens geplanten Aufbruchs hatte ich Xue Tong gebeten, einfach die Nacht vom Samstag auf den Sonntag durchzuschlafen und mich nicht persönlich im Hotel zu verabschieden, denn das Taxi zum Flughafen sei ja bestellt und alles sei klar. Was sich als fataler Irrtum erweisen sollte ...
... um 4:15 Uhr schleppte ich mein Gepäck in einem stockdunklen Hotel hinunter zur Rezeption. Wenige Notlichter im Erdgeschoss waren in Betrieb; die Treppe von meinem Zimmer in die Empfangshalle indes war in ein undurchdringliches Schwarz getaucht und praktisch unsichtbar. In der Sitzecke zwischen Rezeption und Frühstücksbereich nahm ich Platz und lauschte dem Schnarchen des Portiers. Da ich mich im Dunkeln kaum orientieren konnte, vermutete ich ihn irgendwo im Hotelbereich hinter mir.
Kein Taxi erschien auf der Hotelzufahrt. Bestellt worden war es von Xue Tong für 4:20. Um 4:40 Uhr weckte ich den Portier und ein Empfangsmädchen, von dessen Anwesenheit ich nichts wusste. Beide schliefen tatsächlich im schmalen Gang hinterm Rezeptionstresen auf Miniliegen, wie sie, natürlich kleiner, in Kinderbuggies eingehängt werden können. Aus ihren Träumen gerissen und vielleicht schockiert über die nächtliche Störung, legten sie für mein Anliegen eine gemächliche Gleichgültigkeit an den frühen Morgen, an der meine Panik indes proportional wuchs. Licht wurde keines angeschaltet, weil es angeblich nicht funktionierte. Gemeinsam standen wir in jeder Hinsicht im Dunkeln. Meine auf Englisch vorgetragenen Fragen wurden natürlich nicht begriffen. Umständlich und in aufreizender Langsamkeit aktivierte das Mädchen das chinesisch-englische Übersetzungsprogramm in seinem I-Phone. Ausgiebiges Gähnen und Strecken. Nachdem ich ungefähr das zehnte Mal aufgesagt hatte, dass ich ein Taxi zum Airport erwartete, welches noch nicht eingetroffen sei und nun dringend Ersatz bräuchte, wurde ich gefragt, ob ich in den Süden der Stadt wolle? –
Ungläubiges Staunen auf meiner Seite. Vielleicht orientieren sich ähnliche Gespräche in China an Himmelsrichtungen, statt an konkreten Ortsbezeichnungen, wer weiß? Doch selbst wenn man als Hotelangestellte über keine Fremdsprachenkenntnisse verfügt, sollten sich Begriffe wie "Taxi" oder "Airport" irgendwann einmal in die Festplatte eingebrannt haben, ganz egal, wo auf unserem Erdenrund wir uns befinden. Ich starrte verzweifelt auf meine Schuhspitzen und entdeckte, dass ich zwei kleine schwarze Mäuslein in ihrem nächtlichen Treiben aufgestört hatte. Sie spielten nun Fangen um meinen Koffer herum.
Durch Zeichensprache wurde mir bedeutet, dass das Taxi womöglich auf der Hauptstraße vor dem Campus wartete. Das leuchtete mir sogar im Dunkeln ein. Der Portier brachte mich im Elektro-Caddy zum Campus-Eingang. Doch weit und breit kein Taxi in Sicht. Das jähe Entsetzen über die Erkenntnis, dass das Wärterhäuschen zum Campus noch gar nicht besetzt war, ein pünktlicher Taxifahrer also von vornherein keine Chance gehabt hätte, zum Hotelportal durchzudringen, wich der Hysterie über die immer rascher ansteigende Wahrscheinlichkeit, den Flieger zu verpassen. Der Portier zündete sich in aller Ruhe eine Zigarette an. Versuche, mit ihm über I-Phone zu parlieren, wurden schließlich durch seine unzweideutige Gestik beendet, dass das Übersetzungsprogramm im I-Phone zusammengebrochen sei. Er gähnte ein wenig. Schändliche Störung der Nachtruhe! Ich war kurz davor, in einen Heulkrampf auszubrechen. Derweil begann der Campus-Wärter seine Frühschicht und beleuchtete das Häuschen neben dem Haupttor. Ich bat den Portier, sofort zum Hotel zurück zu fahren. Wieder fuhren wir im offenen Wägelchen durch die kühle Nachtluft, Gänseformationen schnatterten hoch über uns. Im Gebüsch jammerte eine Katze wie ein kleines Kind.
Zurück in der Rezeption knipste der Portier mit schöner Selbstverständlichkeit das Licht an. Es funktionierte natürlich, nur nicht auf meine Bitte. Die beiden mussten sich im Halbdunkel erst langsam vom Schlaf in einen Wachzustand hineinfinden. Grelle Beleuchtung hätte ihnen dabei nicht gut getan. Das Rezeptionsfräulein gähnte, streckte, schüttelte sich. Hätte es dabei gejammert, so hätte ich es für das Kätzchen aus dem Park halten können. Dass irgendwo auf dem Tresen für Notfälle zwei Telefonnummern von Studenten bereit lägen, und ein solcher sei lange eingetreten, schien trotz meines nunmehr beschwörenden Englischs keinen Impuls in ihr auszulösen. Sie schaute traumverloren auf die Papiere und ich das ich weiß nicht wievielte Mal auf die Weltuhranzeigen im Hintergrund des Tresens. Über eine Stunde war sinnlos verstrichen, die Pariser Zeit – für mich die Berliner, an der ich gern wieder teilhaben wollte – rückte in weite Ferne. Ich war außer mir. Die Fahrt zum Flughafen dauerte mindestens eine Stunde, je nach Verkehr. Die Minuten schnurrten zusammen. Und ich traute meinen Augen nicht, als plötzlich auf der Galerie eine Hausdame – mit Taschenlampe bewaffnet – sich Einlass in mein Hotelzimmer verschaffte, um, ja natürlich, um zu kontrollieren, was ich aus der Hausbar und an weiteren Angeboten konsumiert haben könnte. Ich hatte die ganze Woche über nichts konsumiert ...
Unvermittelt reichte mir die junge Frau das Telefon über den Tresen, und ich vernahm eine Stimme, die glasklares Englisch sprach. Ich erkannte sie nicht und war leicht verwirrt, denn ein Name wurde nicht genannt. War es eine Dame vom Konsulat? Nein, es war Xue Tong, unendlich müde, unendlich weit weg. Ich erklärte, wurde lauter, und sie fragte, ob sie kommen solle, "to console me". I do not need consolation, I need a taxi. Ich war überreizt. Sie versprach, ein neues Taxi zu bestellen.
Nach ewig währenden zwölf Minuten tauchte es vor dem Hoteleingang auf, wendete umständlich, und ich saß schließlich in einem Wagen, der mich zum Flughafen bringen würde. Die Situation war inzwischen so surreal geworden, dass es mich wenig wunderte, den jungen Fahrer mitten auf der Hochautobahn anhalten zu sehen, um sein I-Phone zu bearbeiten. Die Straßen waren noch leer, nur die Ruhe! Ich bläffte nach vorn, ob dies nicht Zeit hätte, bis er seinen Fahrgast am Flughafen abgeliefert haben würde. Den Ton verstand er, den Inhalt sicher nicht.
Im Flughafen wurde mir von offiziellen Mitarbeitern der Weg zum Einchecken falsch gewiesen. Nach vielen Minuten des Herumirrens stand ich schweißgebadet vor dem last minute-Schalter und hätte tatsächlich um ein Haar den Flug verpasst.
Wusste niemand, dass das Tor zum Campus sonntags erst gegen 5:45 am geöffnet wird? Musste ich anderthalb Stunden warten, weil vor allem anderen die Zimmerkontrolle zu erfolgen hatte? Wollte man mir, wie zwischen Chinesen und Touristen häufiger praktiziert, einen Streich spielen, mich konditionieren, mir eine Lektion in Demut erteilen? Nur warum? Ich bin zu allen Hotelangestellten freundlich und verbindlich gewesen; keine einzige Beschwerde von meiner Seite.
Darum ging es aber gar nicht, erneut eine falsche Lesart des Westmenschen. Es gibt in China eine Haltung, die allen, die einen Fehler begangen, keine Lust auf etwas haben oder eine Sache schlicht vergaßen, erlaubt, das Gesicht zu wahren. Sie äußert sich in der Bemerkung: "You shi", "Ich hatte etwas zu erledigen." Man konnte eben nicht, da man anderweitig involviert war und sollten es Tagträumereien gewesen sein. Keiner fragt nach, niemand insistiert.
Ich war einer speziellen Umgangsform unter Chinesen aufgesessen, die viel mit dem "detachment" des Taoismus und wenig mit dem deutschen Pochen auf eigene Belange zu tun hat – auch wenn man sich noch so sehr im Recht fühlt oder es im Zweifel sogar besitzt. Taoistische Abgeklärtheit zu praktizieren, wenn man vor dem inneren Auge seinen Flieger davondüsen sieht, ist keine einfache Aufgabe für den Westmenschen. In vage vergleichbaren Situationen – wenige an der Zahl – bin ich auch bei Japanern, die deutlich reservierter sind als die umgänglichen Chinesen, auf granitene Härte gestoßen. Sie haben ihr eigenes Tempo, ihre asiatische Gelassenheit, mit den Dingen umzugehen. Man darf nichts erzwingen wollen. Und man muss den Stolz der Anderen respektieren
Es bleibt die alte und doch immer wieder neue Erkenntnis, dass der Mensch sich auch auf Reisen begibt, um etwas über sich selbst zu erfahren.
Eine meiner Marotten ist, wildfremde Menschen anzusprechen. Weshalb mich beim Umsteigen in Peking ein netter Trost erwartete: Ich traf Ai Weiwei, der am Montag nach unserem Rückflug sein erstes Semester an der UdK in Berlin beginnen sollte. Wir hielten ein kleines Schwätzchen, und Uli bekam zur Begrüßung in Berlin-Tegel Weiweis Autogramm ausgehändigt.
All is well, that ends well!
dabei wurden wir Bauhaus-Frauen, die sich zufällig in derselben Maschine befanden, aber erst beim Umsteigen in Peking begrüßten, so großartig empfangen. Drei Studenten der China Art Academy erwarteten uns mit überdimensionierten Namensschildern lachend und winkend am Flughafen von Hangzhou. Dass sie unsere persönlichen scouts, guides and translators sein würden, machten sie nicht in Form von Ansprachen deutlich, sondern durch unaufdringliche Anhänglichkeit. Diese wollte man bald nicht mehr missen, denn der Mann auf der Straße ist wie überall des Englischen kaum mächtig. Schon die mündliche Erläuterung unseres Fahrtzieles wäre nicht verstanden worden. Die bestellten Taxis wurden aufgeteilt. Ich nahm neben der 19-jährigen Xue Tong im Schlitten eines Droschkenunternehmers Platz. Die nächtliche Höllenfahrt vom Flughafen zum Campus konnte beginnen.
Natürlich gibt es sie auch auf Chinas prächtig ausgebauten, gepflegt begrünten, meist achtspurigen Großstadtmagistralen: weiße Zeichen im Asphalt, die die Fahrtrichtung vorgeben. Doch keiner hält sich daran. Die Spuren werden allseitig nach Lust und Lücke gewechselt. "Fahrvergnügen" gepaart mit Geschwindigkeitsrausch stehen in direkter Relation zum Einsatz der Hupe. Je mehr Vehikel durch beherzten Dauerton weichen, desto schneller geht's voran im wilden Spurenslalom.
Wir kennen sie aus dem Kino: weiträumige Kamerakranfahrten über ein Chaos aus Autos, Kleinlastern, Rikschas, Fahrrädern, Mopeds und Passanten – aus der Aufsicht auf asiatisch wimmelnde Main Streets hinein in den Innenraum einer Limousine auf die sich ihr Näschen pudernde asiatische Schönheit. Sich leibhaftig inmitten dieses Chaos' zu befinden, ist weniger gemütlich.
Für den Droschkenboss war all dies kein Problem. Während neben mir die Radnaben von Riesenlastern wie in einer Folterkammer bedrohlich näher rückten, bellte er unverdrossen Befehle an seine Fahrerclique ins Handy, hupte wie ein Wahnsinniger und lauschte mit seinem Sonderempfänger unserem Gespräch auf der Rückbank, um lachend Vokabeln auf Englisch oder gar auf Deutsch zu wiederholen. Ich hoffte auf ein baldiges Ende dieses Purgatoriums, doch würde ich bald lernen müssen, dass in der 8,8 Millionenstadt Hangzhou keine Fahrt unter einer Stunde dauerte.
Zu nächtlicher Stunde erreichten wir den spärlich ausgeleuchteten Campus. Eine Gruppe aufgeregter Studenten empfing uns. Statt nach eurasischem Höhenflug mein Zimmer okkupieren zu können, nahm mich die kleine Miye Gao in Beschlag. Sie hatte in Marburg Kunstgeschichte studiert und sollte Übersetzerin meines zweiten auf Deutsch zu haltenden Vortrages sein. Mein Text war zu lang. Eine Stunde Redezeit hatten Morsezeichen aus China zehn Tage zuvor nach Deutschland durchgegeben. Dass hier die Übersetzungszeit inkludiert sei, wurde in der Botschaft ausgespart. Es sind am Ende anderthalb für den Vortrag und fast zwei für die sich anschließende Diskussion geworden. Der Audimax gut gefüllt und ich in meinem Element als Sprössling von Lehrern.
Mit Geschenken und ersten Honoraren überhäuft, sank ich irgendwann ins Bett.
Unendlich viele Bilder hat der medienkonditionierte Westmensch im Laufe des letzten Jahrhunderts über China gespeichert: Kolonialkitsch; die winzigen verkrüppelten Füße kaiserlicher Hofdamen; Prinzessinnen, deren Hoffart mit Folter und öffentlicher Zurschaustellung ihres langsamen Todes durch abgeschnittene Brüste bestraft wurde (in: Georges Bataille, The Tears of Eros); die Peking-Oper oder der Nationalzirkus mit seinen weltbesten Akrobaten, die von Kindesbeinen an zu Höchstleistungen trainiert werden; Chinesen, die sich vor Wandzeitungen drängen, um sie aufmerksam zu studieren; wüste Beschimpfungen in den Kadern. Mao Zedong schwimmt im Jangtse. Auf dem Tian'anmen, Platz des Himmlischen Friedens, marschieren junge Aktivistinnen im Stechschritt, dem großen Führer ihre strahlenden Gesichter zugewandt (– zwanzig Jahre später werden am selben Ort über tausend Studenten füsiliert). Gigantische Konglomerate von Kohlekraftwerken und Fabrikanlagen, am gegenüberliegenden Ufer Reisbauern, die hinter gehörntem Vieh ihr archaisches Feldgerät bedienen. Maos schrille Witwe Jiang Qing als Kopf der Viererbande ...
Ein weiteres Erinnerungsbild zeigt Lastwagenkolonnen, in denen chinesische Arbeitsameisen mit ausdruckslosen Mienen zum Einsatz an der friedlichen Front gekarrt werden – buchstäblich die Berge abzutragen, die als Imperialismus und Feudalismus auf ihnen lasteten. Der alte Bauer Yu Gong wollte zwei Berge entfernen, die ihm den Weg versperrten. Er nahm sich Zeit, und wenn es viele Generationen seiner Familie beschäftigen würde. Dies rührte die Engel, die ihm schließlich bei seiner Aufgabe halfen ... Mao hatte die chinesische "Yu Gong"-Parabel für seine Zwecke umformuliert.
Ein neues China sollte entstehen. Ein China für das Volk, das die verhasste Fremdherrschaft der britischen und französischen Kolonialherren abgeschüttelt hatte. Engel standen dem Volk, soweit bekannt, nicht zur Seite. Die Chinesen stemmen bis heute mit ihrem riesigen Schatz an Menschen alles aus eigener Kraft.
"Den großen Sprung nach vorn" nannten sie in den späten 1950ern das Programm zur Ernährung, industriellen Aufrüstung und mentalen Erneuerung. Es kostete Abermillionen von Chinesen das Leben – durch Hunger, Krankheit und Verhehrungen des Bürgerkrieges zwischen Maoisten und Anhängern der Kuomintang. Historiker streiten noch immer über die Verlustzahlen. Die Kulturrevolution, mit der Mao das Volk in den zehn Jahren vor seinem Tod, 1976, drangsalierte, spaltete die Gesellschaft, zerriss auf Jahrzehnte Familien, zerstörte in weiten Teilen des Landes Kulturschätze und Denkmäler. Was heute übrigens als historisches Faktum anerkannt und ausgesprochen wird. Mao wird dennoch für seine Visionen eines vereinten Chinas verehrt und ziert mit undurchdringlichem Mona Lisa-Lächeln jeden Yuan-Schein – so wie George Washington als Gründervater der Vereinigten Staaten die Dollarnoten.
Ungewollt bereitete die Kulturrevolution den Boden für Chinas tatsächlichen Sprung nach vorn, mit dem das Land in atemraubendem Tempo in die vorderste Reihe von Industriestaaten aufschloss. Nie wieder Bürgerkrieg, nie wieder Hunger, Wohlstand für alle. Deng Xiaoping, Maos Nachfolger, wusste Ängste und erlittenen Mangel geschickt für seine Politik der Öffnung zu instrumentalisieren. Wieder waren alle dabei, nun mit vermehrter Kraft. Das chinesische Wirtschaftswunder gelang, wie bei uns, nur rasanter, größer, anhaltender. Dabei wurde es durch keinen Sozialstaat ausgebremst. Das paradoxe Ergebnis, getragen und gefördert von allen Deng nachfolgenden Vorsitzenden der Kommunistischen Partei ist womöglich der Chinesen größter Clou: die Vermählung ihres neokommunistischen Systems mit einem Turbokapitalismus amerikanischer Bauart. Letzterer passend geklopft fürs Reich der Mitte. Eheleute, deren Wesen unterschiedlicher kaum sein könnte, die sich aber gleichwohl vertragen. Vermutlich muss man hier sogar von Vernunftehe sprechen, denn der Chinese ist Handwerker und Bauer, aber vor allem ein geborener Kaufmann.
Angesichts der vermeintlich unschlagbaren Effizienz von Demokratie und freier Wirtschaft ein für die Arroganz der Langnasen undenkbares Konstrukt. Wir werden hier Mores gelehrt. Es gibt offensichtlich mehr Wege zum Glück, als unsere Schulweisheit sich träumen lässt. Das Schachmatt der DDR werden wir in China nicht erleben. Jener brillante Schachzug, den die DDR-Bonzen verpassten, als sie bei Skat und Wuhlheidenjagd ihre Männlichkeitsrituale aufführten, lautet: R e i s e f r e i h e i t. Jeder unbescholtene Chinese mit einem Reisepass darf reisen, wohin es sein Geldbeutel erlaubt. Und sollte es ihm in der Fremde doch besser gefallen – das Reich der Mitte mit seinen 1,38 Milliarden Einwohnern würde durch seine Abwesenheit kaum ausbluten.
Die Chinesen dürfen und können fast alles. Was sie nicht dürfen, interessiert sie nicht. Die Redensart "Silence is money" bringt den Mentalitätenwandel auf den Punkt. Reichtum, eine Wohnung, die Limousine ... oh, sie mögen geräumige PKWs! Eine beliebte Familienkutsche der Marke Volkswagen hört hier auf den spanisch-spritzigen Namen "Lavida". Es geht um nicht weniger als "das Leben" beim Erwerb eines Fahrzeugs, das noch vor zwanzig Jahren für die meisten Chinesen ein Phantasma darstellte. Wie wir jetzt wissen, tragen deutsche Spitzenprodukte nicht unerheblich zur Luftverschmutzung der chinesischen Umwelt bei.
Die unnahbar stolze Kaiserin; die intrigante, auf Vorteil bedachte Konkubine; die auf Risiko spielende Kokotte – ungezählte Konterfeis der schönen alten Dame China trägt der Westmensch in seinem Bildergedächtnis. Keines davon ist wahr. Sie sind Vergangenheit. Und doch sind sie alle wahr, da sie Gegenwart und Zukunft abbilden. Weil wir alles zu verstehen suchen, zwanghaft analysieren müssen, geraten wir Westmenschen in China rasch an die Grenzen des für uns Begreifbaren. In China ist alles möglich. Tausend Widersprüche – hier muss man nicht tiefstapeln – stoßen sich, treiben einander voran, stehen nebeneinander auf der großen Welle, die da Fortschritt heißt. Ein so gigantisches wie zuversichtliches Summen erfüllt das Land: weiter weiter, in die Zukunft des 21. Jahrhunderts hinein. Abermillionen summen gemeinsam, vielleicht nicht immer in derselben Tonart. Das ist ihre Stärke. Während unsereins sich in basisdemokratischen Hinterbänkel-Gesängen aufreibt, wird hier – nach besonnenem Abwägen – zum Wohle aller autokratisch bestimmt, wie dieses wohl beschaffen sein könnte.
WIR schaffen das! Merkels Motto besitzt in China den angenehmen Beigeschmack eines sichtbaren Erfolges. Da stehen wir mit unserer Kanzlerin staunend vis-à-vis: Bis 2020 wollen die Chinesen erreichen, die letzte Armut auszurotten, mit Stumpf und Stiel, denn noch immer leben 20 bis 30 Millionen unter der Armutsgrenze. So verlautbarte es dieser Tage The People's Republic of China's leading man, Präsident Xi Jinping. Wer möchte daran zweifeln, angesichts der Tatsache, dass China bereits heute auf fast sämtlichen Förder-, Produktions- und Exporträngen auf Platz 1 steht? Und wahrscheinlich werden SIE es sein, die die ersten Formeln zu einem rigiden Umweltschutz in Maßnahmen umsetzen, an denen wiederum alle mitarbeiten. Die Zeit drängt, wie überall auf der Welt.
Selbstverständlich darf nicht vergessen werden, dass die China-Reisende nur mit einem winzigen Ausschnitt des begüterten Ostens konfrontiert war. Von rückständigen und vernachlässigten Landschaften an der westlichen Peripherie des Riesenreiches sah sie nichts, hörte sie nichts. Nichts von smogerstickten Großstädten im Landesinneren, erfuhr nichts von elenden Arbeitsverhältnissen in zum größten Teil für den Export produzierenden Industrien. Die Zahlen sind geheim: drei- bis fünftausend vollstreckte Todesurteile – jährlich? Das Reich der Mitte gibt sich nach außen weltoffen; nach innen ist es in vielen Bereichen hochneurotisch bis hin zur Schizophrenie. Die Leute in den freien Westen reisen zu lassen, um sie daheim zu bespitzeln, in Polizeigewahrsam zu nehmen oder mit Hausarrest zu belegen? Das muss irgendwie verkraftet werden. Die meisten tun es, indem sie schweigen.
Auf eine zaghafte Anfrage hin, wie der Chinese all diese Widersprüche aushielte, wurde mir von Miye Gao, der "Marburgerin", streng beschieden, dass auch in Deutschland nicht alles zum Besten bestellt sei. Als Beispiel wurde erwähnt, dass Musliminnen in öffentlichen Ämtern keine Kopftücher tragen dürften, aber überall Kreuze rumhängen würden. Das wird bei uns natürlich gerade wieder diskutiert ...
Es ist bei diesem ersten Versuch geblieben, etwas über das politische Wesen im chinesischen Bürger zu erfahren. Es ziemt sich nicht, als Gast direkte Fragen zu stellen. (Ist mir ähnlich in the land of the free, in den USA, ergangen.) So ist das mit Vorurteilen oder Klischees: Kaum spricht man sie aus, wird man selber als urdeutscher Kritikaster und Bedenkenträger entlarvt. Damit zu parieren, dass auch der Andere Klischees aufsäße, wäre ebenso typisch deutsche Klugscheißerei. Zu recht.
Das Wunderbare am Reisen ist die praktizierte Völkerfreundschaft. FRÄNDSCHIPP! Ist nicht eine der hohen Tugenden des Homo sapiens der Wunsch und die Fähigkeit zur wohlwollenden Begegnung mit seinesgleichen? Das Gespräch zu suchen, ein Bad in gegenseitiger sympathischer Neugier zu nehmen, um ein wenig befreiter vom Ballast der Selbstfesselungen wieder aufzutauchen? Das braucht nur Minuten zu dauern. Man bleibt stehen, um eines der niedlichen Kinder mit schwarz lackierten Pagenköpfchen zu bewundern, und es wird von der ganzen Sippe freudigst zurückgestaunt: "Hello and bye-bye". Das ist selig machend.
Die neugierige Deutsche wohnte für eine Woche in der wohlhabenden Provinz Zhejiang, genauer: in deren Hauptstadt Hangzhou – von einem Abstecher nach Shanghai abgesehen. Bewegte sich in der relativ liberalen und Missstände durchaus beim Namen nennenden Exklave der Bauhaus-Fakultät. Wurde verwöhnt als Teilnehmerin der Konferenz "Bauhaus and Creativity" ... auf dem Campus der Akademie war sie umgeben von Lehrern und von Studierenden aus Chinas aufstrebender Mittelschicht, die ihren Kindern die teure Ausbildung allerdings komplett selbst finanzieren muss. Ausgerichtet vom Staat wird die Schulbildung bis zum Abschluss der Highschool, also bis zu unserer Hochschulreife. Danach wird es nach amerikanischem Modell privat: Gebühren für die Hochschulen, Unterbringung in Studentenheimen, die tägliche Kost, Material zum Studieren, Kleidung, die Heimreisen in entlegene Orte – chinesische Eltern legen sich krumm für ihren Nachwuchs, der nach Parteidoktrin, wie bekannt, seit den 1980ern aus nur einem Sprössling bestehen durfte. Doch wie der große Führer Mao lange zuvor beschied: "Das Dogma ist weniger wert als ein Kuhfladen."
Viele Chinesen verhielten sich dem Zitat gemäß und verweigerten Deng in ihrer Familienplanung die Gefolgschaft – mit dem Resultat, dass ihre Zweit- oder gar Drittkinder als "Schattenkinder" ausgegrenzt werden. Sie nehmen als Identitätslose weder an Ausbildung noch am Arbeitsleben teil. Ohne Pass dürfen sie nicht heiraten und selber keine Kinder haben. Diese Auslöschung von Existenzen ist drakonisch, und wie immer in China reden wir hier nicht von wenigen hundert Ausnahmen, sondern von vielen Millionen, die schuldlos "im Schatten" ihr Leben fristen.
Chinas Bevölkerungsstatistiker haben indes längst erkannt, dass das Einkind-Dogma ein inzwischen zu enger, aber vor allem ausgedienter Schuh ist. Auch in China erreichen die Menschen inzwischen ein hohes Alter. Lag das Lebensdurchschnittsalter in den 1950ern noch bei 35 Jahren (!), so bewegt es gegenwärtig zwischen 70 und 77. Die Jungen werden schon in Kürze die Gleichung "1 – 2 – 4" nicht mehr erfüllen können. Mit ihr wird verlangt, dass ein Kind für die Versorgung von Eltern und beiden Großelternpaaren aufzukommen hat! Wie gesagt, den kuscheligen Sozialstaat gibt es nicht. Die betrieblichen Pensionen, die, um für den Nachwuchs Platz zu schaffen, oft schon mit 50 bis 55 Jahren angetreten werden, sind schmal; die Ökonomie ist am amerikanischen Vorbild ausgerichtet. – Seit 2013 sind wieder zwei Kinder erwünscht; mit ausdrücklicher Erlaubnis und als Belohnung für Menschen aus der Einkind-Ära. Ab heute (29.10.2015) gilt die staatlich sanktionierte Regelung für das gesamte Volk.
Doch wohin mit all den Menschen? Sie müssen ernährt, behaust und transportiert werden. Und sie sollen arbeiten, auch wenn sie in unserer Jahrhundertmitte wie in allen Industrienationen älter und deutlich weniger werden. Das Land schwappt über vor Chinesinnen und Chinesen; die Aufgaben sind gewaltig. Einzelkinder, mit denen ich auf dem Campus sprach – und alle waren sie Einzelkinder – sind selber vehemente Verteidiger der Doktrin, der sie ihr Einzelgängertum verdanken. Es steht zu vermuten, dass die Saturiertheit, die der Kapitalismus über kurz oder lang bei all seinen Kostgängern erzeugt, auch vielen Chinesen die Zumutungen des Kinderreichtums nicht mehr wird abnötigen können. Dogmen sind weniger wert als Kuhfladen!
Umbrüche auf allen Ebenen gesellschaftlicher Belange. Der wohl radikalste für das chinesischen Sozialgefüge ist die Auflösung eherner Familienstrukturen, welche allen Mitgliedern Pflichten zuweist, die vor allem die Jugend heute nicht mehr zu erfüllen bereit ist. Heirat, Nachwuchs, Familienalltag – alles wird streng reglementiert und überwacht, Abweichungen werden nicht geduldet.
Dennoch traf ich auf dem Campus schwule Studenten, die keinen unglücklichen Eindruck auf mich machten. Einer plante gar, mit seinem Gefährten in die USA auszuwandern. Meine Assistentin Miye Gao möchte sich dem Stress durch die Verwandten eines noch unbekannten Gatten erst gar nicht aussetzen. Sie erwägt persönliche Nachkommenschaft über eine Samenbank! Die Studierenden scheinen selbstbestimmt und zielorientiert, nur was bedeutet all das, wenn die Familie doch noch "rufen" sollte?
Im Vergleich zum öffentlichen Leben wirkten sie sogar wie die Wahrer eines britisch angehauchten Konservativismus, und ihre Academy präsentiert sich als ein Hort der Tradition. Dies mag ein ästhetischer Rest der zuvor getragenen Schuluniformen sein. –
Im Nahverkehr erschrickt man häufiger vor lebenden Totenköpfchen: Junge Frauen legen sich öffentlich und umstandslos Feuchtigkeitsmasken auf ihre Gesichter. Der Minirock feiert fröhliche Urständ, was bei den Phänotypen unter den Chinesinnen – die gertenschlanke, teils hochgewachsene Städterin von der Ostküste und die gedrungene bäuerliche Frau aus dem Landesinneren – nur einem der beiden steht. Jeansbündchen mit fünf Zentimeter langem Reißverschluss sinken wie bei uns unter die Scham(haar)grenze. Auch in China nackte Mädchenbäuche, die gleichen Moden hier wie dort. Eher tragisch schien mir der Hang zum Ondulieren des prächtigen seidenglatten Haupthaars. Aber eine jede nach ihrer Façon.
Nagelstudios können sich, so steht zu hoffen, auf lange Sicht wohl nicht etablieren. Das wäre auch unsinnig, denn Chinesinnen sind aus dem globalen Genpool mit zarten schlanken Händen und allerfeinsten mandelförmigen Fingernägeln bedacht worden.
Den Manga-Irrsinn der Cousinen und Cousins im Reich der aufgehenden Sonne, die sich wie ihre Lieblingsheroen und –heroinen verkleiden und schminken, machen sie (noch) nicht mit.
Die Erdung ist hier eine andere; die Dekadenz der japanischen Verwandtschaft wird vermutlich belächelt.
Die Sauberkeit der Städte ist vorbildlich. Es mag auch Schlendrian geben; der ist wahrscheinlich eher privater Natur. Doch außer bei sehr Alten, die unermüdlich ihre Reisigbesen schwingen und Straßen, Gehwege oder Plätze "nicht sauber, sondern rein" halten (auch Graffitis habe ich keine entdeckt), gibt es in China das Gerhard Schröder-Phänomen – kein Mensch trägt weißes Haupthaar! Ein Gemälde von René Magritte: Alle zehn Tage werden die höchsten Chargen des ZK der Kommunistischen Partei abkommandiert und sitzen nebeneinander in einem riesigen Frisiersalon, um sich den schlohweißen Haaransatz sowie die Augenbrauen schwarz nachfärben zu lassen!
Was die Chinesen vor allem anderen auszeichnet, ist ihre Fähigkeit zur Adaptation. Sie passen sich in enormer Schnelligkeit neuen Mustern und Bezugssystemen an. Zweifellos wird es ihnen zumindest in den urbanen Gebieten gelingen, archaische Strukturen in die Gegenwart moderner Sozialgefüge zu übersetzen – auch wenn dies mit erheblichen Reibungsverlusten einhergehen sollte. Und hatte nicht ohnehin die Partei selbst mit ihrer Einkind-Doktrin die moderne Kleinstfamilie aus Vater, Mutter und Kind in China eingeführt? Alle reden über Kopierschutz, Industriespionage und das dreiste Abkupfern technischer Neuerungen. Im Zuge der Implementierung kapitalistischer Strukturen gaben die Chinesen einen Großteil ihrer Kultur und ihrer traditionellen Lebensformen auf, um ihren Alltag gemäß eines freien Handels- und Wirtschaftssystems zu amerikanisieren. Die fatale Mechanik aus Angebot und Nachfrage haben sie dabei selbstverständlich mit übernommen. Omnipräsente Werbung im Fernsehen, an Plakatwänden oder an Verkehrsknotenpunkten macht eines in aller Drastik deutlich:
Die dauerlächelnden, pausenlos konsumierenden, gnadenlos ignoranten Kleinfamilien wecken keine Freude. Sollten diese das Maß aller Dinge bleiben, ist es um unsere Welt nicht gut bestellt.
Bei ihrer ökonomischen Erfolgsstory dürfte die Abwesenheit jeder öffentlich oder sonstwie praktizierten Religiösität eine erhebliche Rolle spielen. Ich weiß über diese Zusammenhänge zu wenig, aber eines scheint auch bei nur oberflächlicher Betrachtung evident zu sein: Die Säkularisierung von Gesellschaften, die die Ausübung des Glaubens zur reinen Privatsache erklären, trägt erheblich zu ihrer Wirtschaftskraft bei. Offensichtlich können mehr oder andere Energien frei gesetzt werden, die in streng gläubigen oder gar orthodoxen Staatsverbünden in religiöse Prinzipien kanalisiert werden, die Prosperität binden, wenn nicht unmöglich machen.
Die eingangs erwähnten Lastwagenkolonnen sind auf Chinas Highways noch immer unterwegs. Vorwiegend nachts und nicht mehr auf unbefestigten Schotterwegen, sondern auf sämtlichen Hauptstraßen und Autobahnen. Heute befördern sie keine Arbeitsameisen in Mao-Anzügen mehr, sondern Baumaterial – unzählige Megatonnen an Sand zur Betonfabrikation. Der Berliner beschwert sich über Baustellen, die ihn behindern und sein "jeliebtes" Stadtbild verschandeln. Den Kern der Klage macht jedoch das Unbehagen an Veränderung aus. Alles möchte bleiben, wie es ist. Sollte es ein Stadtschloss sein, das da gebaut wird, ist es gut, denn noch besser ist es, wenn es wird, wie es war. Für einen Chinesen sind dies unzeitgemäße Gemütsschablonen, der Gegenwart zu begegnen. Zwar hat er lange schon den Wert kultureller Sachgüter erkannt und trauert ehrlich aus Gründen der Tradition über die Verwüstungen, die die Kulturrevolution in Städten, Klöstern oder Palastanlagen hinterließ. Aber aufgepasst: Traditionen und deren Pflege lassen sich heute in klingende Münze umwandeln. Der Tourismus wächst, trotz aller bürokratischer Widrigkeiten, mit denen Ausländer konfrontiert werden – angefangen bei der Beantragung des teuren Visums und aufgehört bei der Unmöglichkeit, mir nichts dir nichts von A nach B in einen Zug steigen zu können.
Wenigstens ein Tagestrip nach Shanghai!, lautete meine Parole, der sich zwei weitere Konferenzteilnehmer anschlossen. Xue Tong war unser so unverzichtbarer wie charmanter guide. Wer Feinheiten und Kniffe des Alltags nicht kennt, ist aufgeschmissen. Bahntickets müssen aufwendig und rechtzeitig per Internet geordert werden, und das geht nur auf Chinesisch. Selbst dann steht man dreißig Minuten und länger in der Schlange, um sie abzuholen. Ohne Vorbestellung gibt es am Wochenende zwischen Hangzhou und Shanghai in keinem Zug mehr Sitzplätze. Abermillionen wollen reisen – zwei Drittel des Passagieraufkommens bewältigt Chinas Eisenbahn – und das am liebsten im Hochgeschwindigkeitszug, der in unserem Fall eine Spitzengeschwindigkeit von 300 km/h erreichte, doch über 400 schafft, wenn er will. Der "CRH380A", Xue Tong, Tochter einer Eisenbahner-Familie, bestätigte es mir auf Anhieb, als ich im Zug nach kleinen Siemens- oder Bombardier-Plaketten suchte (sic !), ist eine chinesische Eigenentwicklung und der schnellste Serienzug der Welt. Stehplätze sind nicht vorgesehen. Das Volk hat sich ein Anrecht auf einen bequemen Bahnsessel erarbeitet, von denen in der ersten Klasse pro Wagon gerade zehn futuristisch-eiförmige des Kalibers "Weltraumschiff" montiert sind. Die begehrte Beinfreiheit? Meine Beine hätten getrost zwei Meter lang sein können; man darf auf der 190 Kilometer-Strecke im Liegen schlafen und wird von Hostessen bedient. Der Zug ist eine Stunde unterwegs.
Stolz, aber ohne Prahlerei wird gezeigt, was man seit Dengs Öffnung geschaffen hat. Zentrale Bahnhöfe oder Flughäfen sind auf Vervielfältigungseffekte aus der Trickkiste Hollywoods nicht angewiesen. Das Ende der Bahnhofshalle von Shanghai New Railway Station in Zhabei ist durch die Erdkrümmung auch mit Fernglas nicht zu erkennen. Ich übertreibe. Aber nur ein wenig. – Kaum ein Haus ist älter als zwanzig Jahre. Die meisten sind jünger als zehn. Gebaut wird überall, ob in den Städten Turmhäuser bereits durch neue und höhere ersetzt werden oder in den dicht besiedelten, eher ländlichen Weichgebieten, die einen großstädtischen Ballungsraum mit dem nächsten verbinden. Endlose Reihen von kleinen Mehrfamilienhäusern mit eigenen Gärten. Eine tadellos manikürte Welt von Schlafstädten. Hier wird den Holländern ernsthaft Konkurrenz gemacht, denn Häuserzeilen, Grünanlagen, Kanäle erinnern in ihrer geometrischen Ausrichtung an das öffentlich demonstrierte Ordnungsbedürfnis unserer Nachbarn.
Wären da nicht die Pagoden entlehnten Giebel und Türmchen, die bunten Fassaden, die unterschiedlichen Materialien, die Vielfalt vortäuschen möchten, aber aus den Katalogen chinesischer Bauunternehmer stammen. Ein wenig schmeckt es nach DisneyWorld auf der Bahnfahrt von Hangzhou in die Megalopole Shanghai, die durch die fruchtbare Ebene südlich des Jangtsekiang-Deltas führt. In Meeresnähe und dank der schwül-heißen Sommermonsune des gemäßigten Klimas gedeihen sogar Trauben!
Da ich mich den Herausforderungen der Konferenzwoche nüchtern stellen wollte, konnte ich vom chinesischen Wein nicht kosten. Es heißt, hier würde noch an einer Qualitätsverbesserung gearbeitet – damit der Chinese seinen Wein nicht mehr mit CocaCola mischen muss? Dieser Kelch ging buchstäblich an mir vorüber.
Und Shanghai? Wir brachen morgens um neun auf, kehrten abends um 22:00 Uhr zurück. Von der Stadt erlebten wir drei Stunden lang den touristischen Kern. Die restlichen zehn Stunden verbrachten wir in Taxis, in Zügen, auf Anschlüsse in Bahnhofshallen wartend oder wie die Sardinen in der überfüllten Shanghai Metro. Es war der anstrengendste Ausflug meines Lebens! Unser russischer Konferenzkollege Konstantin, der noch in derselben Nacht von Shanghai nach Moskau zurückflog, äußerte überdies den frommen und durchaus verständlichen Wunsch, die eingenommenen Yuans in Euros umtauschen zu wollen. Eine Bank zu finden, die nachmittags um vier noch offen stand und über einen ausreichenden Vorrat an Euros verfügte, stellte für Xue Tong und ihr I-Phone eine beachtliche Herausforderung dar und kostete uns alle inklusive eines enormen Verwaltungsaufwands durch die Bankangestellten anderthalb Stunden. Wir besichtigten nicht viel mehr als "The Bund", was Hafenanlegestelle bedeutet – die berühmte Uferpromenade am Fluss Huangpu mit ihren neoklassizistischen Gebäuden der Jahrhundertwende. Von hier wird ein weiter Panorama-Schwenk auf die Skyline des neuen Viertels Pudong gewährt. Die Skyline wirkte indes so kirmeshaft, eher noch: wie aus Spielzeughäusern zusammengesteckt, dass eine Besichtigung per Fernblick ausreichend schien. Am Bund war uns dann noch ein Tässchen Kaffee im Peace Hotel vergönnt. Das großartige Art Déco seiner Innengestaltung erinnerte an Vorkriegszeiten und auch daran, dass es früher als "Cathay Hotel" berühmt war. Viele Emigranten Hitler-Deutschlands, die es in den Fernen Osten nach Shanghai geschafft hatten, fanden hier ihre erste Anlaufstelle und Herberge. Ein paar Straßenzüge in die Altstadt hinein, wobei wir noch nicht mal das Französische Viertel erreichten, ein Dinner à la Szechuan, auch um unsere 19-jährige "Führungskraft" zu verköstigen, das war es leider schon. –
Xue Tong war perfekt in vieler Hinsicht. Ihr Name bedeutet "Schnee-Kind": empfangen bei Schnee, geboren am Tag des Kindes Anfang Juni. Immer gut gelaunt, lachend, für jedes noch so blöde Wortspiel im Englischen zu haben. Zudem war sie unglaublich versiert im Umgang mit ihrem I-Phone, das sie einsetzte wie ein Zaubergerät. Es schien ihr alles damit zu gelingen. Mit fliegenden Fingern bediente sie sein Display, nutzte Programme, von denen ich noch nie gehört hatte, fand blitzschnell Bankhäuser und Restaurants.
Der Zugang zu Google und anderen westlichen Internetforen ist Chinesen verwehrt. Sie bezeichnen als "firewall", was die Partei da vor ihnen aufgebaut hat. Die Jungen schaffen es dennoch, diese Mauer durch allerhand Tricks und Schliche zu überwinden, was sie konsequenterweise als "jump over the wall" bezeichnen. Das Verblüffendste an Xue Tong, die auf Wunsch des Vaters, eines einfachen Eisenbahnangestellten, seit ihrem sechsten Lebensjahr Englisch lernt und es nahezu akzentfrei spricht: Nach hunderten von TV-Stunden, offenbar exklusiv amerikanischen Serien gewidmet, die mit wenigen zensurbereinigten Auslassungen auch in China laufen, hat sie sich sogar die Mimik und den altklugen Duktus amerikanischer Teenager angeeignet. Ein Fall von mimetischer Anverwandlung, der mir fast unheimlich war. Das Wunderkind hatte als Studentin der Filmtechnik ein Semester übersprungen und war deutlich weiter als ihre Kommilitonen, die voller Bewunderung vom "Schnee-Kind" sprachen. Als Xue Tong ("Schüetong") erzählte, auch sie habe sich wie viele Chinesinnen die Augen vergrößern lassen, wusste ich nicht so recht, ob sie mich veralbern wollte. Einem child prodigy traut man alles zu, aber zumindest die Autonomie, sich von Modeerscheinungen entfernt zu halten. Sie war mir in vieler Hinsicht ein Rätsel. Ich hätte ihre Großmutter sein können und hätte sie doch gern als Tochter gehabt.
Ein zweiter großer Wunsch wurde mir am letzten konferenzfreien Tag erfüllt, als mich die Familie der Studentin Shiying zum Lunch einlud. Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Ich hatte mich selbst eingeladen. Denn ich war unglaublich neugierig darauf, wie "normale" Familien in China leben und wohnen. Shiyings Mutter holte uns am Campus ab. Ihre beiden für Westmenschen unaussprechlichen Vornamen kürzte sie ab, indem sie erklärte: "Nenn' mich einfach Christina." Viele Chinesen besitzen diesen europäischen Zweitnamen, ihr nom de guerre in der Begegnung mit westlichen Kulturen. (Jack Ma, Begründer des Internetversands Alibaba, der asiatischen Konkurrenz von Amazon, ist nur ein Beispiel.)
Im Jeep-SUV des Familienoberhauptes fuhren wir durch das Naherholungsgebiet Hangzhous und dessen in malerische Hügellandschaften eingebettete Teeplantagen in ein wohlhabendes Viertel, unweit von downtown Hangzhou. Zwischen sechs- bis zwölfstöckigen Wohnhäusern, Grünanlagen und Geschäften, die alles für den täglichen Bedarf feilboten, entdeckte ich auf den Straßen einen regen "Kiez"-Alltag. Unter Friseuren, Geflügel- und Fischhändlern, Nudel- und Teigtaschenbuden sowie Spezialschneidereien für Vorhänge und Gardinen fanden sich grüne Märkte für regionale Produkte und im "Casa Miel" (!) sogar ein französischer Bäcker ¬– laut Shiying allerdings maßlos überteuert und nicht wirklich gut.
Ihre Eltern wohnten in einem Mehrfamilienkomplex, dessen Treppenhaus nach sozialem Wohnungsbau ausschaute, nicht so jedoch das "house" selber, wie das geräumige Apartment von seinen Bewohnern genannt wurde: offene Wohn-, Speise- und Küchenlandschaft, daneben Zimmer für Eltern, Kind (für die studierende Shiying nur noch an den Wochenenden) und eines, das als Büro genutzt wurde; dazu ein Bad und zwei geräumige Balkons, auf denen sich an jenem Samstag die Zugehfrau zu schaffen machte. Der Wohnbereich wie überall in unserer schönen neuen Welt dominiert von einem leinwandgroßen Flachbildschirm, alles schien bestens ausgestattet.
Was hatte ich mir vorgestellt? Vermutlich nicht viel mehr als den DDR-Standard zum Fall der Mauer. Die deutsche Arroganz, da reckte sie wieder ihr hässlich' Haupt. Auf meiner Reise sollte ich mich von vielen Stereotypen verabschieden. Ich war zu Gast in einem Mittelklassehaushalt wie es ihn inzwischen nicht nur im Westen, sondern auch in China gibt; zu dem neben dem Jeep auch der obligatorische Volkswagen für die Dame gehört. Die Eltern Shiyings sind als Brücken-Ingenieur und als Dozentin für Textiltechnologie tätig. Christina reist im Dezember zu einer Konferenz nach Mailand.
In nur dreißig Jahren gelang es den Chinesen, zumindest im affluenten Osten ihres Landes sämtliche ökonomischen Differenzen im direkten Westvergleich auszuradieren. Natürlich sind sie noch vorhanden, die Überbleibsel des Sozialismus: Familienbücher, in die man Standorte eingetragen lässt. Umzüge in andere Distrikte erfordern eine Genehmigung, genau wie die Haltung von Tieren, mit denen sich die gesamte Hausgemeinschaft einverstanden erklären muss. Aber auch in China wächst die Gemeinde von Hundeliebhabern, denn es kläffte von vielen Balkons.
Das Mittagsmahl war launig, auch weil der Vater pausenlos wiederholte, wie gut das Bier gewesen sei, das er in Deutschland probieren durfte – in der Stadt mit dem für Chinesen unaussprechlichen Namen "München". Dabei strich er sich genüsslich über seinen Bauch. Irgendwann wurde er von der genervten Tochter aufgefordert, keinen Alkohol mehr zu erwähnen. Sein Englisch war dürftig, Shiying musste übersetzen. Christina hingegen hatte ein Jahr bei Verwandten in den USA gelebt. Wir redeten über Gott und die Welt, das Lebensgefühl der jungen Leute, den Konsum, die Energieerzeugung in China, die Umweltverschmutzung, die Zukunftsperspektiven für sämtliche Weltbürger. Mit drei unterschiedlichen I-Phones wurden schließlich Fotos unserer Mittagsrunde angefertigt.
Das Essen hier daheim so köstlich und bekömmlich wie bei den Konferenzgelagen auf dem Campus oder bei unseren wenigen Restaurantbesuchen. Es gibt kein Brot, das den Namen verdiente. Brot und Kuchen sind Neuigkeiten aus den USA, und leider schmecken sie auch so. Milch ist natürlich bekannt, doch Derivate wie Joghurt oder Quark erst seit wenigen Jahren. Und wieviel gesünder ist das! Den Kulturschock erlitt ich bei meiner Rückkehr, da sich mein Verdauungsapparat dem schweren deutschen Essen verweigerte.
Shiying war sichtlich erleichtert, als sich ihr Erzeuger zu einer Konferenz verabschiedete. Das Nachmittagsprogramm führte uns Frauen durch die verstopfte City zum Messegelände am Stadtrand. Unterwegs wurde mir die an anderem Ort neu errichtete Altstadt Hangzhous gezeigt: Holzhäuser, umgeben von einer Stadtmauer, auf einer circa zwei Fußballfelder großen Fläche – etwa ein Fünftel des Gebietes "überdacht" von einem Autobahnzubringer! Irgendwo in Hangzhou musste auch das bei Westmenschen berühmt-berüchtigte Neu-Paris samt Eiffelturm liegen. – Welche Chuzpe! Welche Perfidie bei aller Perfektion. Was nehmen sie sich heraus die Chinesen! – Ich konnte es, wie vieles andere auch, nicht besichtigen. Wir passierten den malerischen West Lake, samt der Pagoden, Tempel und Museen an seinen Ufern Erholungsgebiet und Wahrzeichen der Stadt. Ein kurzer Ausflug zu Ehren der Konferenzteilnehmer beinhaltete drei Tage zuvor eine Bootstour und einen Uferspaziergang. Bei den an mir vorbeigleitenden Sehenswürdigkeiten kam mir etwas wehmütig in den Sinn, dass ich bei dieser Reise den üblichen touristischen Schnickschnack aus Zeitmangel hatte auslassen müssen. Doch wieviele schöne Begegnungen waren mir stattdessen beschert worden!
In Hangzhou, dem früheren Zentrum chinesischer Seidenproduktion, erwerben die Damen üblicherweise ein Seidentuch, um oft genug daheim zu erkennen, dass sie mit täuschend echter Kunstseide reingelegt worden waren. Das obligatorische Döschen Grüntees hatte mir Christina bereits im "house" feierlich als Geschenk überreicht. Ich war von den vielen Gaben "gift" bereits ein wenig benommen. Die Freundlichkeit und die Großzügigkeit der Chinesen beschämt jeden Reisenden!
Das Ziel in einem der vielen für mich unbekannten Stadtteile Hangzhous war endlich erreicht. Anderthalb Stunden blieben uns für einen Schnelldurchgang durch die Messe. Auf mehreren Ebenen fand ein Programm zur aktuellen Designproduktion in der Provinz Zhejiang statt. Das Motto lautete "Dekor und Verzierungen". Für Shiying, Christina und mich von besonderem Interesse waren Wettbewerb und Ausstellungskojen, an denen die China Academy of Art beteiligt war. Die Qualität der hier von den Studierenden gefertigten Design-Objekte ist hoch – manche Entwürfe wirkten auf mich exotisch (wie sonst?), einige wenige leicht kitschig. Wäre es anders gewesen auf studentischen Ausstellungen bei uns zu Hause – bei erkennbar niedrigerem handwerklichen Niveau? Die Tendenz geht in China seltener in eine "künstlerisch gewollte" Ecke; viel eher stehen die Schönheit der Form und maximale Praktikabilität im Vordergrund. Da haben wir es, "form follows function", ein weltweites und den Menschen offenbar seit Jahrtausenden eingeschriebenes Prinzip der Kreativität!
Der letzte Tag nahm für mich mit dem Gang zum Parkplatz zwischen fast verblühten Osmanthus-Sträuchern, dem olfaktorischen Wahrzeichen Hangzhous, sein Ende. Samt der Anfahrt zur Messe hatten wir erneut dreieinhalb Stunden auf Hangzhous Straßen zugebracht. Chinesische Distanzen und deren Überwindung sind dem Berliner fremd, da er sich eines meist gut funktionierenden Verkehrsverbundssystems erfreut und dennoch klagt. Ein Besuch in China sei ihm zum Erlernen von Demut und Geduld empfohlen.
Selbstverständlich war das nicht alles. Ein Bericht über die Bauhaus-Konferenz aber wäre ein anderer als die hier präsentierten Reiseerlebnisse und Impressionen von einem fremden, nie zuvor besuchten Land, seinen Menschen und seiner Kultur. Was in den sechs Tagen nur ein leichtes Schaben an der Oberfläche von Phänomenen sein konnte.
Zu ersterem gehörte unweigerlich auch das Päckchen aus Missmut, Konkurrenzdenken und Kritiklust, das die Deutschen noch auf einer Reise zum Mond oder auf den Mars dabei hätten, um sich über indigene Marsvölker zu erheben. Ja, auch ich gehöre zu dieser Truppe. Kollegen aus Russland, Indien oder Japan fand ich sympathischerweise bar solcher Sentiments, übrigens auch bar jener Selbstherrlichkeit, mit der sich einige Landsleute glaubten, spreizen zu müssen.
Nichts habe ich erzählt über die Anstrengungen des Bauhaus-Instituts der China Academy of Arts, eine eigenständige Design-Sammlung von Rang aufzubauen. Auch hier bei einer gemeinsamen Ausstellungsbesichtigung auf deutscher Seite viele lange Gesichter, Naserümpfen und leise gemurmelte Kritik: Oho, hier wird einer zum Bauhäusler gemacht, obwohl er die Schule nur zwei Monate lang besucht hat! Ein Skandal. – Wir können immer und überall alles besser. Dabei räumte Prof. Hang, Leiter von Bauhaus-Institut und Sammlung, der mit Unterstützung seiner Assistentin Zoe die Konferenz auf's Trefflichste organisiert hatte, ein, dass sie auch minderwertige Stücke besäßen und durchaus nicht alles hochkarätig sei.
Es soll keiner unreflektierten Lobhudelei das Wort geredet werden, aber dass sie in Hangzhou den unbedingten Willen haben, den Fleiß aufbringen, viel Arbeit und noch mehr Geld investieren, um mit ihrer noch jungen (modernen) Designgeschichte am Weltkulturerbe Bauhaus partizipieren zu können, verlangt höchsten Respekt. Ansonsten sollten wir Westmenschen uns immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass uns die Chinesen in den letzten 8.000 Jahren in vielen Kulturleistungen um Lichtjahre voraus waren.
Für ihren Museumsneubau, in dem ab 2017 die Sammlung präsentiert werden soll, konnten sie den portugiesischen Architekten Álvaro Siza gewinnen; für unser labyrinthisches Hotel, dessen Beschreibung allein einige Seiten in Anspruch nehmen würde, den chinesischen Pritzker-Preisträger Wang Shu! In das Campus-Gelände integriert, liegt zwischen Audimax und anderen Akademie-Gebäuden zudem ein Museum für Kunst und Gewerbe mit einer erstklassigen Sammlung traditioneller chinesischer Gebrauchsgüter und Möbel.
Alte Formen der Gestaltung werden also bald auf neue im Design-Museum treffen und sich studieren lassen. Ein Saal in diesem Haus ist der chinesischen Kunst des Schattenspiels gewidmet, wo eigens für uns Konferenzteilnehmer eine Sonderaufführung organisiert wurde.
Aber dies wäre, wie gesagt, ein anderer Text. Und wer an dieser Stelle bedient ist, möge nun aufhören zu lesen.
Was folgt, ist der Epilog meines China-Abenteuers, denn eine Überraschung erwartete mich während meines Aufbruchs zur Rückreise doch noch: Angesichts der frühen Stunde meines für 4:20 Uhr morgens geplanten Aufbruchs hatte ich Xue Tong gebeten, einfach die Nacht vom Samstag auf den Sonntag durchzuschlafen und mich nicht persönlich im Hotel zu verabschieden, denn das Taxi zum Flughafen sei ja bestellt und alles sei klar. Was sich als fataler Irrtum erweisen sollte ...
... um 4:15 Uhr schleppte ich mein Gepäck in einem stockdunklen Hotel hinunter zur Rezeption. Wenige Notlichter im Erdgeschoss waren in Betrieb; die Treppe von meinem Zimmer in die Empfangshalle indes war in ein undurchdringliches Schwarz getaucht und praktisch unsichtbar. In der Sitzecke zwischen Rezeption und Frühstücksbereich nahm ich Platz und lauschte dem Schnarchen des Portiers. Da ich mich im Dunkeln kaum orientieren konnte, vermutete ich ihn irgendwo im Hotelbereich hinter mir.
Kein Taxi erschien auf der Hotelzufahrt. Bestellt worden war es von Xue Tong für 4:20. Um 4:40 Uhr weckte ich den Portier und ein Empfangsmädchen, von dessen Anwesenheit ich nichts wusste. Beide schliefen tatsächlich im schmalen Gang hinterm Rezeptionstresen auf Miniliegen, wie sie, natürlich kleiner, in Kinderbuggies eingehängt werden können. Aus ihren Träumen gerissen und vielleicht schockiert über die nächtliche Störung, legten sie für mein Anliegen eine gemächliche Gleichgültigkeit an den frühen Morgen, an der meine Panik indes proportional wuchs. Licht wurde keines angeschaltet, weil es angeblich nicht funktionierte. Gemeinsam standen wir in jeder Hinsicht im Dunkeln. Meine auf Englisch vorgetragenen Fragen wurden natürlich nicht begriffen. Umständlich und in aufreizender Langsamkeit aktivierte das Mädchen das chinesisch-englische Übersetzungsprogramm in seinem I-Phone. Ausgiebiges Gähnen und Strecken. Nachdem ich ungefähr das zehnte Mal aufgesagt hatte, dass ich ein Taxi zum Airport erwartete, welches noch nicht eingetroffen sei und nun dringend Ersatz bräuchte, wurde ich gefragt, ob ich in den Süden der Stadt wolle? –
Ungläubiges Staunen auf meiner Seite. Vielleicht orientieren sich ähnliche Gespräche in China an Himmelsrichtungen, statt an konkreten Ortsbezeichnungen, wer weiß? Doch selbst wenn man als Hotelangestellte über keine Fremdsprachenkenntnisse verfügt, sollten sich Begriffe wie "Taxi" oder "Airport" irgendwann einmal in die Festplatte eingebrannt haben, ganz egal, wo auf unserem Erdenrund wir uns befinden. Ich starrte verzweifelt auf meine Schuhspitzen und entdeckte, dass ich zwei kleine schwarze Mäuslein in ihrem nächtlichen Treiben aufgestört hatte. Sie spielten nun Fangen um meinen Koffer herum.
Durch Zeichensprache wurde mir bedeutet, dass das Taxi womöglich auf der Hauptstraße vor dem Campus wartete. Das leuchtete mir sogar im Dunkeln ein. Der Portier brachte mich im Elektro-Caddy zum Campus-Eingang. Doch weit und breit kein Taxi in Sicht. Das jähe Entsetzen über die Erkenntnis, dass das Wärterhäuschen zum Campus noch gar nicht besetzt war, ein pünktlicher Taxifahrer also von vornherein keine Chance gehabt hätte, zum Hotelportal durchzudringen, wich der Hysterie über die immer rascher ansteigende Wahrscheinlichkeit, den Flieger zu verpassen. Der Portier zündete sich in aller Ruhe eine Zigarette an. Versuche, mit ihm über I-Phone zu parlieren, wurden schließlich durch seine unzweideutige Gestik beendet, dass das Übersetzungsprogramm im I-Phone zusammengebrochen sei. Er gähnte ein wenig. Schändliche Störung der Nachtruhe! Ich war kurz davor, in einen Heulkrampf auszubrechen. Derweil begann der Campus-Wärter seine Frühschicht und beleuchtete das Häuschen neben dem Haupttor. Ich bat den Portier, sofort zum Hotel zurück zu fahren. Wieder fuhren wir im offenen Wägelchen durch die kühle Nachtluft, Gänseformationen schnatterten hoch über uns. Im Gebüsch jammerte eine Katze wie ein kleines Kind.
Zurück in der Rezeption knipste der Portier mit schöner Selbstverständlichkeit das Licht an. Es funktionierte natürlich, nur nicht auf meine Bitte. Die beiden mussten sich im Halbdunkel erst langsam vom Schlaf in einen Wachzustand hineinfinden. Grelle Beleuchtung hätte ihnen dabei nicht gut getan. Das Rezeptionsfräulein gähnte, streckte, schüttelte sich. Hätte es dabei gejammert, so hätte ich es für das Kätzchen aus dem Park halten können. Dass irgendwo auf dem Tresen für Notfälle zwei Telefonnummern von Studenten bereit lägen, und ein solcher sei lange eingetreten, schien trotz meines nunmehr beschwörenden Englischs keinen Impuls in ihr auszulösen. Sie schaute traumverloren auf die Papiere und ich das ich weiß nicht wievielte Mal auf die Weltuhranzeigen im Hintergrund des Tresens. Über eine Stunde war sinnlos verstrichen, die Pariser Zeit – für mich die Berliner, an der ich gern wieder teilhaben wollte – rückte in weite Ferne. Ich war außer mir. Die Fahrt zum Flughafen dauerte mindestens eine Stunde, je nach Verkehr. Die Minuten schnurrten zusammen. Und ich traute meinen Augen nicht, als plötzlich auf der Galerie eine Hausdame – mit Taschenlampe bewaffnet – sich Einlass in mein Hotelzimmer verschaffte, um, ja natürlich, um zu kontrollieren, was ich aus der Hausbar und an weiteren Angeboten konsumiert haben könnte. Ich hatte die ganze Woche über nichts konsumiert ...
Unvermittelt reichte mir die junge Frau das Telefon über den Tresen, und ich vernahm eine Stimme, die glasklares Englisch sprach. Ich erkannte sie nicht und war leicht verwirrt, denn ein Name wurde nicht genannt. War es eine Dame vom Konsulat? Nein, es war Xue Tong, unendlich müde, unendlich weit weg. Ich erklärte, wurde lauter, und sie fragte, ob sie kommen solle, "to console me". I do not need consolation, I need a taxi. Ich war überreizt. Sie versprach, ein neues Taxi zu bestellen.
Nach ewig währenden zwölf Minuten tauchte es vor dem Hoteleingang auf, wendete umständlich, und ich saß schließlich in einem Wagen, der mich zum Flughafen bringen würde. Die Situation war inzwischen so surreal geworden, dass es mich wenig wunderte, den jungen Fahrer mitten auf der Hochautobahn anhalten zu sehen, um sein I-Phone zu bearbeiten. Die Straßen waren noch leer, nur die Ruhe! Ich bläffte nach vorn, ob dies nicht Zeit hätte, bis er seinen Fahrgast am Flughafen abgeliefert haben würde. Den Ton verstand er, den Inhalt sicher nicht.
Im Flughafen wurde mir von offiziellen Mitarbeitern der Weg zum Einchecken falsch gewiesen. Nach vielen Minuten des Herumirrens stand ich schweißgebadet vor dem last minute-Schalter und hätte tatsächlich um ein Haar den Flug verpasst.
Wusste niemand, dass das Tor zum Campus sonntags erst gegen 5:45 am geöffnet wird? Musste ich anderthalb Stunden warten, weil vor allem anderen die Zimmerkontrolle zu erfolgen hatte? Wollte man mir, wie zwischen Chinesen und Touristen häufiger praktiziert, einen Streich spielen, mich konditionieren, mir eine Lektion in Demut erteilen? Nur warum? Ich bin zu allen Hotelangestellten freundlich und verbindlich gewesen; keine einzige Beschwerde von meiner Seite.
Darum ging es aber gar nicht, erneut eine falsche Lesart des Westmenschen. Es gibt in China eine Haltung, die allen, die einen Fehler begangen, keine Lust auf etwas haben oder eine Sache schlicht vergaßen, erlaubt, das Gesicht zu wahren. Sie äußert sich in der Bemerkung: "You shi", "Ich hatte etwas zu erledigen." Man konnte eben nicht, da man anderweitig involviert war und sollten es Tagträumereien gewesen sein. Keiner fragt nach, niemand insistiert.
Ich war einer speziellen Umgangsform unter Chinesen aufgesessen, die viel mit dem "detachment" des Taoismus und wenig mit dem deutschen Pochen auf eigene Belange zu tun hat – auch wenn man sich noch so sehr im Recht fühlt oder es im Zweifel sogar besitzt. Taoistische Abgeklärtheit zu praktizieren, wenn man vor dem inneren Auge seinen Flieger davondüsen sieht, ist keine einfache Aufgabe für den Westmenschen. In vage vergleichbaren Situationen – wenige an der Zahl – bin ich auch bei Japanern, die deutlich reservierter sind als die umgänglichen Chinesen, auf granitene Härte gestoßen. Sie haben ihr eigenes Tempo, ihre asiatische Gelassenheit, mit den Dingen umzugehen. Man darf nichts erzwingen wollen. Und man muss den Stolz der Anderen respektieren
Es bleibt die alte und doch immer wieder neue Erkenntnis, dass der Mensch sich auch auf Reisen begibt, um etwas über sich selbst zu erfahren.
Eine meiner Marotten ist, wildfremde Menschen anzusprechen. Weshalb mich beim Umsteigen in Peking ein netter Trost erwartete: Ich traf Ai Weiwei, der am Montag nach unserem Rückflug sein erstes Semester an der UdK in Berlin beginnen sollte. Wir hielten ein kleines Schwätzchen, und Uli bekam zur Begrüßung in Berlin-Tegel Weiweis Autogramm ausgehändigt.
All is well, that ends well!
Montag, 23. Januar 2012
Von fliegenden Teppichen und Sitten im freien Fall
Von fliegenden Teppichen und Sitten im freien Fall
Eine Farce aus Wilmersdorf
In einem vergangenen Jahrhundert dienten Läufer auf den hölzernen Stiegen gründerzeitlicher Mietshäuser dem weichen Auftreten der Bewohner und damit einhergehender Trittschalldämmung. Üblicherweise gab und gibt es diese Läufer in den Farben Beige bis Braun, die der natürlichen Farbpalette des verarbeiteten Sisal- oder Kokosmaterials entsprechen, bzw. in zwischen Rubin und Bordeaux changierenden Rottönen. Die Webart dieser Läufer lässt in der Regel die Kette schwarz durchscheinen, gleichgültig, ob Naturfasern verarbeitet wurden (gröbere Textur) oder aber bei Mischgeweben der Anteil an Kunstfasern höher ist (feinere Textur). Die dichtere Webart aus Kunstfasern ist undurchlässiger für Straßenschmutz, während die lockerer gewebten Naturfasern Schmutz- und Staubpartikel gleichsam "verschlucken". Benutzungsspuren jedweder Art sind der Logik der unterschiedlichen Gewebe gemäß bei Kunstfasern besser absaugbar, aber hinterlassen auch rascher schwarze Trittkanten, welche die Naturfaser schlicht absorbiert. Beim Austausch letzterer sind folglich Legionen von Staubwissenschaftlern aka Atmosphärenphysikern zur optimierten Feldforschung angetreten. Statt komplizierter Versuchsreihen in der Retorte boten sich ihnen Destillate reinsten Drecks – hereingeschleppt von den Trottoirs der Großstadt, hinausgetragen vom Homo sapiens aus seinen Wohnungen in den gemeinschaftlich genutzten Bereich des Treppenhauses.
Nach hinreichender Erläuterung von Strukturen und Tiefenwirkungen, die eine Wahl des Läufermaterials beeinflussen sollten, gilt es, das Augenmerk erneut auf eingangs erwähnte Farbpaletten zu richten. Ästhetisch geschulte Hauseigentümer und Verwaltungen beweisen entweder selbst umfängliches Geschick in der harmonischen Farbkombination von Lacken, Dispersionsfarben für die Wand, Naturholztönen von Türen, Geländern, Handläufen, Stiegen und darauf abgestimmter Läuferfarbe- und qualität oder beauftragen die entsprechenden Gewerke. Seltener engagiert sich eine Mietergemeinschaft bei derlei Fragestellungen, denn nur in den allerseltensten Fällen, die aufgrund ihrer Rarheit exkludiert werden könnten, übernimmt diese auch die Kosten für derlei Verschönerungen ihrer häuslichen Umgebung. Die Dinge werden registiriert, nolens volens hingenommen und irgendwann als Bestandteil der großen Alltagstapete vergessen.
Seltsam sind allerdings Fälle – womit wir die allgemeine Produktbeschreibungsebene endlich verlassen, um konkret zu werden –, in denen weder die lautmalerischen noch die ästhetischen Komponenten eines fehlenden Treppenhausläufers stark genug gewesen wären, um eine Mietergemeinschaft zu veranlassen, Schritte zur Behebung des Missstandes zu unternehmen. Ein einzelnes Mitglied dieser Gemeinschaft, beherzt sich aufmachend, die ein Jahr nach Abschluss einer Grundsanierung noch ausstehenden Reparaturen im Mietshaus anzumahnen, schaffte es hingegen mit der schlichten Äußerung der Läuferfarbe "Beige" – als wohlgemerkt unabgesicherte Vermutung einer Farbwahl durch die Hausverwaltung – aus der indifferenten Gruppe von Mitmietern unverhofft eine Solidargemeinschaft gegen sich aufzustellen, die generell Entscheidungshoheit in ästhetischen Belangen und im besonderen bei der Frage nach der Läuferfarbe für sich zu reklamieren können glaubte. Ein Szunami aus am (unbekannten) Produkt unbewiesenen Einwänden (Rot sei unempfindlicher als ein Naturton) und "natürlichen" Mieterrechten (Wir hatten immer Rot und wollen immer Rot!) schwappte über die eilends errichteten Barrikaden nur noch Rot sehender Mikro-Avangardisten, und bekanntermaßen helfen gegen Naturgewalten keine Vernunftsgründe, zumal sie wegen des starken Grundrauschens gar nicht erhört werden. Der casus belli, besser: das existentielle Axiom: Beige oder rot sein, das ist die Frage!, es muss kaum erwähnt werden, wurde ausgefochten unter, leider, ausschließlich weiblichen Hausinsassen. Eine Phalanx von Majordominas hat in geordneten Reihen und einig wie nie zuvor zum Christkindlfest und im außerordentlichen Farbklang zum rot geschmückten Baume im Hochparterre einen roten Treppenläufer als Siegestrophäe aus demokratischem Kampfe errungen. Vivat! Das Haus ziert nunmehr ein Sisalteppich von vulgärem Rot – welches indes unter zunehmender Sonneneinstrahlung von Etage zu Etage schneller seine Intensität verlieren wird, als die Mieter eine Flasche Rotkäppchen Rosé miteinander teilen könnten. Jedes Hundehaarwölkchen, jeder Papierschnipsel hat nunmehr einen rubinroten Fond; der Schmutz aber, er fällt durch, wie oben für grobgewebtes Sisal erläutert.
So weit, so ruhig – für Trittschalldämmung ist nach Klärung der Farbfrage auf Leben und Tod immerhin gesorgt. Dennoch ist dies bislang nur die Schilderung einer durch Hysterie dynamisierten und letztlich mehrheitlich durchgesetzten Maßnahme. Die Farce wäre aber keine, gäbe es nicht wie endlos durch den Fleischwolf gedrehte Exzesse um weitere zur Schmutzabwehr unentbehrliche Utensilien, gemeinhin Fußabtreter genannt. Diese wechseln in wöchentlichem Turnus, sind mal naturfarben, dann wieder gestreift, werden hinausgelegt oder hereingeholt, landen im Mülleimer oder werden auch gern sonntagnachmittags, zu bester Ruhezeit vor der Wohnungstür gestohlen.
Spätestens ab hier wird aus der Farce sogar ein Dramolett: Stand nicht auf dem Diebesgut der aus dem Monty Python-Epos "Das Leben des Brian" bekannte Refrain "Always look at the bright side of life"? Möge der Dieb / die Diebin viel Freude an dem lustigen, sage und schreibe € 49,00 teuren Utensil haben, das namentlich gekennzeichnet und deshalb nicht zur weiteren öffentlichen Zurschaustellung geeignet ist.
Wir freuen uns, dass IRRE viel los ist in diesem Haus, aus dem wir hier eine wahre erfundene Geschichte erzählt haben.
Eine Farce aus Wilmersdorf
In einem vergangenen Jahrhundert dienten Läufer auf den hölzernen Stiegen gründerzeitlicher Mietshäuser dem weichen Auftreten der Bewohner und damit einhergehender Trittschalldämmung. Üblicherweise gab und gibt es diese Läufer in den Farben Beige bis Braun, die der natürlichen Farbpalette des verarbeiteten Sisal- oder Kokosmaterials entsprechen, bzw. in zwischen Rubin und Bordeaux changierenden Rottönen. Die Webart dieser Läufer lässt in der Regel die Kette schwarz durchscheinen, gleichgültig, ob Naturfasern verarbeitet wurden (gröbere Textur) oder aber bei Mischgeweben der Anteil an Kunstfasern höher ist (feinere Textur). Die dichtere Webart aus Kunstfasern ist undurchlässiger für Straßenschmutz, während die lockerer gewebten Naturfasern Schmutz- und Staubpartikel gleichsam "verschlucken". Benutzungsspuren jedweder Art sind der Logik der unterschiedlichen Gewebe gemäß bei Kunstfasern besser absaugbar, aber hinterlassen auch rascher schwarze Trittkanten, welche die Naturfaser schlicht absorbiert. Beim Austausch letzterer sind folglich Legionen von Staubwissenschaftlern aka Atmosphärenphysikern zur optimierten Feldforschung angetreten. Statt komplizierter Versuchsreihen in der Retorte boten sich ihnen Destillate reinsten Drecks – hereingeschleppt von den Trottoirs der Großstadt, hinausgetragen vom Homo sapiens aus seinen Wohnungen in den gemeinschaftlich genutzten Bereich des Treppenhauses.
Nach hinreichender Erläuterung von Strukturen und Tiefenwirkungen, die eine Wahl des Läufermaterials beeinflussen sollten, gilt es, das Augenmerk erneut auf eingangs erwähnte Farbpaletten zu richten. Ästhetisch geschulte Hauseigentümer und Verwaltungen beweisen entweder selbst umfängliches Geschick in der harmonischen Farbkombination von Lacken, Dispersionsfarben für die Wand, Naturholztönen von Türen, Geländern, Handläufen, Stiegen und darauf abgestimmter Läuferfarbe- und qualität oder beauftragen die entsprechenden Gewerke. Seltener engagiert sich eine Mietergemeinschaft bei derlei Fragestellungen, denn nur in den allerseltensten Fällen, die aufgrund ihrer Rarheit exkludiert werden könnten, übernimmt diese auch die Kosten für derlei Verschönerungen ihrer häuslichen Umgebung. Die Dinge werden registiriert, nolens volens hingenommen und irgendwann als Bestandteil der großen Alltagstapete vergessen.
Seltsam sind allerdings Fälle – womit wir die allgemeine Produktbeschreibungsebene endlich verlassen, um konkret zu werden –, in denen weder die lautmalerischen noch die ästhetischen Komponenten eines fehlenden Treppenhausläufers stark genug gewesen wären, um eine Mietergemeinschaft zu veranlassen, Schritte zur Behebung des Missstandes zu unternehmen. Ein einzelnes Mitglied dieser Gemeinschaft, beherzt sich aufmachend, die ein Jahr nach Abschluss einer Grundsanierung noch ausstehenden Reparaturen im Mietshaus anzumahnen, schaffte es hingegen mit der schlichten Äußerung der Läuferfarbe "Beige" – als wohlgemerkt unabgesicherte Vermutung einer Farbwahl durch die Hausverwaltung – aus der indifferenten Gruppe von Mitmietern unverhofft eine Solidargemeinschaft gegen sich aufzustellen, die generell Entscheidungshoheit in ästhetischen Belangen und im besonderen bei der Frage nach der Läuferfarbe für sich zu reklamieren können glaubte. Ein Szunami aus am (unbekannten) Produkt unbewiesenen Einwänden (Rot sei unempfindlicher als ein Naturton) und "natürlichen" Mieterrechten (Wir hatten immer Rot und wollen immer Rot!) schwappte über die eilends errichteten Barrikaden nur noch Rot sehender Mikro-Avangardisten, und bekanntermaßen helfen gegen Naturgewalten keine Vernunftsgründe, zumal sie wegen des starken Grundrauschens gar nicht erhört werden. Der casus belli, besser: das existentielle Axiom: Beige oder rot sein, das ist die Frage!, es muss kaum erwähnt werden, wurde ausgefochten unter, leider, ausschließlich weiblichen Hausinsassen. Eine Phalanx von Majordominas hat in geordneten Reihen und einig wie nie zuvor zum Christkindlfest und im außerordentlichen Farbklang zum rot geschmückten Baume im Hochparterre einen roten Treppenläufer als Siegestrophäe aus demokratischem Kampfe errungen. Vivat! Das Haus ziert nunmehr ein Sisalteppich von vulgärem Rot – welches indes unter zunehmender Sonneneinstrahlung von Etage zu Etage schneller seine Intensität verlieren wird, als die Mieter eine Flasche Rotkäppchen Rosé miteinander teilen könnten. Jedes Hundehaarwölkchen, jeder Papierschnipsel hat nunmehr einen rubinroten Fond; der Schmutz aber, er fällt durch, wie oben für grobgewebtes Sisal erläutert.
So weit, so ruhig – für Trittschalldämmung ist nach Klärung der Farbfrage auf Leben und Tod immerhin gesorgt. Dennoch ist dies bislang nur die Schilderung einer durch Hysterie dynamisierten und letztlich mehrheitlich durchgesetzten Maßnahme. Die Farce wäre aber keine, gäbe es nicht wie endlos durch den Fleischwolf gedrehte Exzesse um weitere zur Schmutzabwehr unentbehrliche Utensilien, gemeinhin Fußabtreter genannt. Diese wechseln in wöchentlichem Turnus, sind mal naturfarben, dann wieder gestreift, werden hinausgelegt oder hereingeholt, landen im Mülleimer oder werden auch gern sonntagnachmittags, zu bester Ruhezeit vor der Wohnungstür gestohlen.
Spätestens ab hier wird aus der Farce sogar ein Dramolett: Stand nicht auf dem Diebesgut der aus dem Monty Python-Epos "Das Leben des Brian" bekannte Refrain "Always look at the bright side of life"? Möge der Dieb / die Diebin viel Freude an dem lustigen, sage und schreibe € 49,00 teuren Utensil haben, das namentlich gekennzeichnet und deshalb nicht zur weiteren öffentlichen Zurschaustellung geeignet ist.
Wir freuen uns, dass IRRE viel los ist in diesem Haus, aus dem wir hier eine wahre erfundene Geschichte erzählt haben.
Montag, 22. Dezember 2008
Die Ostergeschichte neu geschrieben - ein Epops
Ein anderer flotter Seemann und darüber Entdecker Westindiens, Cristoforo Colombo, berichtete uns nicht nur von neuen Ufern, sondern dortselbst von fremdem Brauchtum: In einigen Siedlungen Hispaniolas verehrten die eingeborenen Indianerstämme in dem Vogel Upupa epops* einen besonders gewitzigten und deshalb jeder Form seiner Bejagung sich entziehenden Vertreter der Spezies, dessen Eier nur verlassenen Gelegen entnommen werden durften. Als Kultobjekte wurden diese von den karibischen Heiden verziert und angebetet. Dies geschah wie jedes Jahr zur Tag- und Nachtgleiche, dem Äquinoktium.
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